Ein kleiner, zufälliger Querschnitt durch aktuelle französische
Produktionen, wie sie die Folker!-Redaktion erreichten. Zu beginnen
wäre mit RAOUL PETITE, La Grande Histoire De Raoul Petite
(Raspigaous/Arsenic et Champagne, 19 Tracks, 76:21, mit DVD, www.raoulpetite.com). Die ganze Geschichte des
alternativen Rock made in France auf CD und DVD. Schon 25 Jahre toben Raoul
Petite in verschiedensten Besetzungen über die Bühnen des Hexagone, ein
Wunder, dass sie nach wie vor existieren mit geschmacksdiskutablem,
multimusikalischem Fetenrock à la Les Négresses Vertes. Multikulti und
„realistisches Chanson“ kommen aus Marseille: ON S’FAIT UNE
BOUFFE, Portraits Crachés (Rebrousse Poil Productions/Atoll
Music, 14 Tracks, 45:57, mit frz. Texten, onsfaitunebouffe.free.fr.). Diese „hingeworfenen
Portraits“ von Loosern und „Barhaltern“ in der Atmosphäre der Bistros von
Marseille bis Lille stehen in bester Tradition - und haben nichts
Aseptisches. Auch musikalisch typisch Chanson Réaliste (akustisch,
zeitlos, französisch, heutig, rockig im Geiste). Nachbarn in Marseille sind
DUPAIN: Les Vivants (Bleu electric/Rough Trade LBL 4012, 11
Tracks, 51:15, mit frz. und okzitanischen Texten). Elektrisch,
Ragga-(un-)muffig, repetitiv bis zur Trance und mediterran klingen Musik und
Akzent dieser 21st-Century-Nachfahren der Troubadoure. Zu empfehlen als
Antwort auf die Frage, warum Traditionspflege hierzulande oft an der Jugend
vorbei geht: Weil sie museal und altmodisch ist. Das ist nicht das Problem
von Arnaud Méthivier, zu klein ist auch ihm die Chansonschublade. Weil sein
Name zu lang ist, nennt er sich jetzt Nano. NANO, L’Autre Côte Du
Vent (Bleu Electric/Rough Trade, 11 Tracks, 55:13, mit frz. Texten) -
mit Wind kennt er sich aus, kommt er doch aus dem flachen Orléans, wo Winde
über Weizenfelder pfeifen. Das windselige Akkordeon ist seine große Liebe,
dem er mithilfe von Elektronik alles entlockt, auch Töne. Arnaud-Nano ist
absolut kompromisslos, immer wieder überraschend, kommunikativ und
versponnen, dabei weltweit unterwegs. Kein Wunder, dass er mit Leuten wie
Marcel Kanche befreundet ist: MARCEL KANCHE, Vertiges Des Lenteurs
(Bleu Electric/Rough Trade, 80732-1, 52:01, 12 Tracks, mit Booklet und
frz. Texten, www.marcelkanche.com). Kanche, inzwischen über 50,
tomwaitst sich durchs Leben, poetisch, eckig, kantig, sympathisch. Da wird
mit Sprache und Klängen gespielt, erfolglos, belächelt von Flachen, fragend:
„Gilt diese Idee immer noch?“ Tiefe, mit der sich junge Popchansonleute kaum
belasten. Ob in Deutschland angesiedelt wie THIERRY CADET, der mit
Postscriptum (11 Tracks, 42:15, www.thierrycadet.com) ein erstaunlich
leichtes, ganz aktuelles, leicht hörbares Album vorlegt, das in die hiesige
Le-Pop-Welle passt ( www.lepop.de); oder in Paris wie EVA MARCHAL:
Paradigme (Bulldog Music, www.evamarchal.net). Die junge Frau aus La
Rochelle, die mit einem wichtigen Jazzmusiker zusammenlebt und -arbeitet
(Claude Salmieri), setzt nach Angriffen gegen die Hitparade nun auf
sinnliche Lolitastimme (ein Topos in Frankreich) und melancholische
Jazzelektroklänge, teilweise mit Ohrwurmqualität („Unique Pensée“) - lounge-
und sommerabendtauglich. Wie auch FRED POULET: Milan Athletic Club
(Bleu Electric/Rough Trade, 12 Tracks, 37:57). Der ist poppig, zum Glück
witzig, alternativ, minimalistisch und gewinnt beim Hören. Dagegen sind
sie Chansonhandwerker: VIRGINIE & DOMINIQUE - Chanson
Zanimées (4 rue des Fleurs, F-68700 Steinbach, 14 Tracks, 47:07,
www.leventenpoupe.net). Die ganze Tradition eines
Prévert, Boris Vian oder Brassens klingt an bei dem Duo aus dem Elsass, das
beginnt, in Frankreich bekannt zu werden. Gekonnt. Und angenehm produziert.
Die Produktion ist ein leichter Pferdefuß bei Nadia Zs erstem Opus mit
Eigenem: NADIA Z, Rêve d’Amour (Zeltzer, 11 Tracks, 33:52, www.nadia-z.de). Gute Chansons, eine Stimme, die an
Barbara erinnert, viel Gefühl - Nadia Z ist eine dieser Französinnen in
Berlin (wie auch Bérangère Palix, Corinne Douarre oder Françoise Cactus),
die zum Glück nicht nur Piaf, Brel und Konsorten nachsingen, das allein ist
schon lobenswert. Zum Schluss ein ganzes Land: Auch in Belgien singt
man/frau Französisch - was gerne vergessen wird, obwohl die Leute um die
Ecke wohnen - und wird deswegen staatlich gefördert. Wallonie Bruxelles
Musique unterstützt mit Subventionen bei CDs, Touren und Projekten, auch in
Deutschland. Und bietet - für Multiplikatoren kostenlos - einen schönen
Querschnitt über das, was in Wallonien und Brüssel französisch und
musikalisch klingt, die derzeit wichtigsten Künstlerinnen und Künstler sind
zu finden auf - inklusive Kinderliedermacher: ARTISTES DE WALLONIE ET DE
BRUXELLES Chanson? Non, Peut-être (WBM 154, 18 Tracks, 64:41, www.wbm.be). Unbedingt reinhören und einladen! Mit
Karin Clercq, Stéphanie Blanchoud, Jean-Louis Daulne, Vincent Delbushaye,
Daniel Hélin u. v. a.
Gerd Heger
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