FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

heute schon bei Facebook neue „Freunde“ bekommen und die Zwangschronik aktualisiert? Oder schon getweetet? Als ob es nicht schon genug Gründe gäbe, den interessanterweise gerade in Folkmusikkreisen sehr beliebten sogenannten sozialen Medien kritisch gegenüberzustehen, passt sich Twitter an die Meinungs(un)freiheit in der Welt an. Die Tweets, im Klartext die Profite, müssen schließlich fließen. Künftig sollen Tweets in bestimmten Ländern nämlich gezielt gelöscht werden können. Das Unternehmen aus San Francisco will durch den Einsatz nationaler Filter jene Meldungen blockieren, die gegen die jeweilige Gesetzeslage verstoßen. „Mit dem Voranschreiten unseres internationalen Wachstums werden wir auf Länder stoßen, die unterschiedliche Vorstellungen von der Meinungsfreiheit haben“, schreibt der Konzern auf seinem offiziellen Blog. Nachtigall ick hör dir trapsen, möchte man da sagen. Welches Land mag da wohl gemeint sein? Twitter geht es ganz offenbar um die Expansion auf den chinesischen Markt, sagen Branchenkenner. Aus derzeit 100 Millionen sollen in der Zukunft mehr als eine Milliarde Nutzer werden. Dafür wird das bevölkerungsreichste Land in Asien gebraucht. Bekanntlich nimmt man es in China nicht so genau mit der Meinungsfreiheit. Diverse Microblogging-Dienste wurden bereits abgeschaltet, um die Verbreitung regimekritischer Themen zu verhindern. Nach dem Vorbild Google will Twitter jetzt in China offenbar zu den Bedingungen einsteigen, die das chinesische Gesetz vorgibt. Die publizistische Meinungsfreiheit wird also wieder einmal dem schnöden Mammon geopfert. Im Unterschied zu den Ereignissen in der arabischen Welt wird eine mögliche Volksbewegung in China dann in Twitter keine Informationsplattform haben.

Nach den Porträts von Kellerkommando (s. go! Folker 5/2011 ) und Kavpersaz (s. go! Folker 6/2011 ) schließen wir unsere Berichterstattung über die Gewinner des 3. Weltmusikwettbewerbs Creole im vergangenen Jahr mit einem Artikel über den Preisträger Cyminology in diesem Heft ab. Das ist eine gute Gelegenheit, noch einmal auf die Einzigartigkeit der Creole hinzuweisen. „Balkan Ska trifft New Anatolian Traditional trifft Beatbox trifft Hopsza – das ist die Creole!“ So beschreiben die Produzenten der Veranstaltung, die Werkstatt der Kulturen in Berlin, diesen in ihrer Art einzigen Weltmusikwettbewerb in Deutschland. Und weiter heißt es in der Selbstdarstellung: „Creole steht für die unverwechselbare Kulturdiversität Deutschlands. Nur hier konnte und kann entstehen, was schließlich an drei Final-Abenden musikalisch präsentiert wird: Die Künstler und Künstlerinnen, die alle in Deutschland leben und arbeiten, experimentieren mit dem, was hierzulande – teilweise seit Jahrhunderten, teilweise seit gestern – an transkulturellem Reichtum vorhanden ist. Identität, Tradition, Regionalität, Grenzen und deren Wegfall dienen den Creole-Musikern als Inspiration; ihre musikalischen Neuentwicklungen werden damit zu einem Spiegelbild Deutschlands im 21. Jahrhundert.“ Bei der Creole treten die Gewinner von acht regionalen Vorentscheiden im großen Finale dann gegeneinander an, um die begehrte Creole-Trophäe sowie ein attraktives Preisgeld von 5.000 Euro zu gewinnen. Die nächste Wettbewerbsrunde startet im Jahr 2013. Mehr Infos gibt es unter go! www.creole-weltmusik.de und go! www.werkstatt-der-kulturen.de .

Aus gegebenem Anlass möchte ich noch einmal auf ein für die Redaktion jeder Zeitschrift heikles Thema zu sprechen kommen: das Verhältnis von Inhalt und Werbung. Immer wieder kommt es vor, dass Promoter oder Labels eine Anzeige von einem Bericht über ihren Künstler abhängig machen. Oder, wie bei dieser Ausgabe passiert, eine erst gebuchte Anzeige zurückziehen mit der Begründung, „Wir haben uns das intern mal durch den Kopf gehen lassen – für die U4 mitsamt Tourpräsentationsanzeige und redaktionell nur einer Meldung unter ‚Szene‘ können wir uns nicht wirklich erwärmen.“ Ich möchte daher noch einmal die Position der Folker-Redaktion klarstellen: Die Heftinhalte werden grundsätzlich unabhängig von der Arbeit unserer Anzeigenleiterin festgelegt. Allein (musik-)journalistische Kriterien spielen dabei eine Rolle. Der Folker ist im Unterschied zu den meisten auf dem deutschen Markt erhältlichen Musikmagazinen nicht auf Gewinn angelegt. Die Redaktion versteht ihre Aufgabe darin, unserer Leserschaft alle zwei Monate einen informativen, kritischen und unterhaltsamen Überblick über die Szene in Sachen Folk, Lied und Weltmusik zu präsentieren. Dazu gehört auch, mit Rubriken wie „Heimspiel“ oder „Neu auf deutschen Bühnen“ den in dieser Szene Tätigen – ob Musiker, Veranstalter oder Promoter – ein Forum zu bieten und sich somit als Teil des Ganzen zu verstehen. Natürlich braucht der Folker auch Geld. Die Beiträge müssen recherchiert und geschrieben, das Heft muss gestaltet und gedruckt werden. Die daran Beteiligten müssen für ihre Arbeit honoriert werden. Dafür werden Einnahmen aus den Anzeigen verwendet – und nur dazu! Vielleicht sollten die einen oder anderen potentiellen Anzeigenkunden einmal daran denken, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile ist; dass es also um die Szene als Ganzes geht und nicht immer nur um den „eigenen“ Künstler.

Damit entlasse ich Sie wieder in die Lektüre einer hoffentlich interessanten Ausgabe des Folker. Von der Titelgeschichte zu Loreena McKennitt und den Porträts von Eric Bibb und Gilbert Bécaud bis zum Gastspiel, zur Würdigung von Hamish Henderson und zu unserer kleinen Instrumentenlehre sollte für alle jene Leserinnen und Leser etwas dabei sein, die sich bei der Beschäftigung mit unserer Musik und ihrer Rolle in der Gesellschaft von Neugierde leiten lassen.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Während ich diese Zeilen schreibe, machen im Land der Freien und Mutigen nicht nur die schon krankhaft zu nennenden Äußerungen der republikanischen Präsidentschaftskandidaten, sondern auch die diesjährige Verleihung der Grammy-Awards Schlagzeilen. 31 Kategorien, das entspricht etwa 28 Prozent der bislang 109 verliehenen Preise, wurden gestrichen. Nun spricht vieles dafür, eine Kategorienliste regelmäßig einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Doch das, was die National Academy of Recording Arts and Sciences (NARAS) jetzt als „Reform“ vorgelegt hat, lässt Zweifel an der Integrität der Grammy-Veranstalter aufkommen. Man hat die Chuzpe, Big Bill Broonzy, Sérgio Mendes & Brasil ’66 sowie Martin Luther King in die Grammy Hall Of Fame aufzunehmen und gleichzeitig die Kategorien Latin Jazz und Traditional Blues zu eliminieren. Der Streichliste fielen auch Zydeco und Cajun zum Opfer. In den Kategorien World und Folk wurden die Bereiche Contemporary und Traditional jeweils zusammengelegt. Diese Entscheidungen zeigen deutlich, dass es bei den Grammys nicht um die Musik, sondern einzig und allein um den Profit geht. Wenn Lady Gaga einen Grammy gewinnt, bringt das allen Beteiligten erheblich mehr Geld, als wenn Jimmy Sturr eine Ehrung in der nicht mehr existenten Kategorie Polka bekommt. Die Proteste von prominenten Kritikern wie Herbie Hancock, Eddie Palmieri, Paul Simon, Carlos Santana, Bonnie Raitt, David Amram und vielen anderen blieben nicht nur unerhört – sie wurden auch bewusst ignoriert: In der Sonderausgabe von Billboard zur 54. Grammy-Verleihung wurden die Streichung der 31 Kategorien sowie die nationalen und internationalen Proteste dagegen mit keiner Silbe erwähnt.

Update vom
09.02.2023
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