Wer in der Schweiz aktuelle politische Lieder sucht, braucht große Ohren. In den Charts und auf den Bühnen unseres Landes sind Politsongs Mangelware. Umso kostbarer sind die wenigen Protagonisten dieser bockigen Poesie in der deutschsprachigen Schweiz. TEXT: AERNSCHD BORN* Das Phänomen ist international. Man besucht ein Liedermacherfestival und ertrinkt in einer Liebesliederflut. Ältere Herren und blutjunge Damen reduzieren das Leiden und Hoffen dieser Welt auf sich selbst und das Objekt der Begierde. So auch in der Schweiz. Unsere singende Zunft setzt sich überwiegend aus wohlerzogenen Eleven zusammen, die sich ihre seelische Nabelschau leisten. Es plagen sie keine weiteren Ängste. Unser Land ist schön.
Die viel gerühmte viersprachige Schweiz ist ein babylonisches Dorf. Neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch missverstehen wir uns im Alltag in bernitalienischem Bauerndeutsch. Und in kosovo-albanischer Zürcher Mundart. In kurdischem Basler Dialekt. Zusätzlich leistet sich jede Gemeinde ihre eigene Sprache. So kann ich meine Basler Mundartsongs nicht gemeinsam mit einem Sänger singen, der fünf Kilometer entfernt außerhalb der Stadtgrenze aufgewachsen ist. Unsere Reime sind inkompatibel. Das behindert gemeinsames Singen über das eigene Tal hinaus.
Trotzdem wird in der Schweiz viel gesungen. Wir singen unsere Volkslieder meist in einer fremden Mundart. Die Texte stammen naturgemäß aus anderen Regionen. Jeder Dialekt ist eine Minderheit. So singen wir viele Lieder in einer Sprache, die wir selten sprechen. Deutsch. Hochdeutsch. Bei uns die Sprache amtlicher Verlautbarungen. Die Sprache des Militärs. Unsere erste Fremdsprache in Kindergarten und Schule. Wir singen gerne in der Schweiz. Traditionelles und Neues. Ins Schweizer Liedgut sind in den letzten vier Jahrzehnten viele Chansons und Rocksongs heutiger Künstler eingeflossen – Liebeslieder, lustige Lieder, harmlose Lieder. Sie sind Volkslieder geworden, so wie die alten. Volkslieder, deren Texte einzig dazu da sind, um gemeinsam schöne Melodien abzusingen. Der Inhalt ist wurscht. Es geht um den Durscht. In den Hitparaden höre ich genauso selten Texte über Politik und Gesellschaft wie auf kleinen Bühnen oder bei politischen Anlässen. Ich entdecke kaum Lieder für oder gegen all die großen und kleinen Anliegen, die uns bewegen und bewegen müssten.
Die Schweiz ist ein politisches Land. Wir stimmen mehrmals jährlich über Wesentliches und Unwichtiges ab. Wir können uns als Stimmbürger zu vielen Belangen äußern. Wir werfen unseren Entscheid in den Schlitz einer Urne oder eines Briefkastens. Der Wille der Mehrheit entscheidet. Wir sind Boss. Wir entscheiden. Werden Minarette gebaut? Tritt die Schweiz der EU bei? Sollen kriminelle Ausländer bei uns bleiben dürfen? Wird die City autofrei? Die Antwort lautet: Nein. Ein gefundenes Fressen für Liedermacher. Könnte man meinen.
Als Autor eigener Songs mit politischen Texten suche ich heute nach Liedern dieses Jahrtausends. Aktuelle Songs über gesellschaftliche Zustände. Texte über Ungerechtigkeiten, Hoffnungen, Herrschaftsverhältnisse. Songs über unseren Globus, unser Land, unsere Straße. Meine Partnerin Barbara Preusler und ich starteten 2008 das Projekt Lieder gegen die Kälte. Anstoß war der Lauf gegen die Kälte des deutschen Musikers Heinz Ratz. Neben Benefizkonzerten für ein Schweizer Straßenmagazin organisierten wir einen Songwettbewerb im Internet für den ganzen deutschen Sprachraum. Wir zielten dabei auf eine rege Beteiligung aus der Schweiz. * Der Sänger, Texter und Autor Ernst Aernschd Born war Mitte der Siebzigerjahre als Haussänger der Anti-AKW-Bewegung in der Schweiz bekannt. 1980 erhielt er für sein Doppelalbum mit Wolfgang Stute, Ändschtation Paradies, den Deutschen Kleinkunstpreis im Genre Chanson verliehen. Er ist Gründungsmitglied der Liederlobby Schweiz (s. Folker 6/2006 ). In Basel betreibt er mit Barbara Preusler den Kulturpavillon (s. Folker 3/2009 ), ein Zentrum für das Schweizer Lied und Chanson. ... mehr im Heft |
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