FOLKER – Rezensionen

Rezensionen NORDAMERIKA/ KANADA


SAMANTHA CRAIN
Under Branch & Thorn & Tree

(Full Time Hobby FTH236CDP/Rough Trade, go! www.samanthacrain.com )
Promo-CD, 10 Tracks, 37:43

„Gefährliche Strömung“ würde wohl auf dem Warnschild stehen, denn unter der glatten Oberfläche, brodelt es gewaltig auf diesem Album. Die Stücke sind zurückhaltend, aber eindringlich arrangiert, und die akustischer Gitarre steht dabei im Zentrum einer bodenständigen, perlenden Produktion. Das ganze Album wurde in nur zehn Tagen komplett analog aufgenommen, Gitarre und Gesang waren meistens schon nach dem ersten oder zweiten Take im Kasten, erzählt Samantha Crain. Mit dem letzten Album Kid Face hat sie ihre Stimme und ihr Thema gefunden. Crain sieht sich als Protestsängerin, nicht im Sinne einer Joan Baez, sondern mit den Mitteln der feinen Beobachterin ihrer Umgebung, ihre Texte sind geschrieben aus der Perspektive der 99 Prozent, die sich mit dem alltäglichen Leben herumschlagen müssen und die, wenn man zuhört, ihren Protest ebenso bestimmt äußern. Gesanglich lotet sie in den zehn Stücken die Möglichkeiten der Brechung und Phrasierung aus, um die Nuancen der Texte freizulegen, und sie hat den Mut, dessen es bedarf, um derart frei und offen zu singen. Wie gesagt, der Sog liegt unter der Oberfläche, und in diesem Fall darf man sich ruhig einmal mitreißen lassen.

Dirk Trageser

 

SAMANTHA CRAIN  –  Under Branch & Thorn & Tree


VINCENT CROSS
A Town Called Normal

(Eigenverlag/Hemifran,
12 Tracks, 35:53, mit engl. Texten u. Infos

Folk, Indiepop, Americana mit einer dominierenden Bluegrassnote, so könnte man das dritte Album des in Dublin geborenen, in Australien aufgewachsenen und heute in New York lebenden Vincent Cross beschreiben. Wunderbare Stücke mit hohem Wiedererkennungswert, die auch alleine mit Gitarre und Gesang bestehen können, hier aber – vornehmlich mit Kontrabass, Mandoline, Schlagzeug und einem klangprägenden Banjo – verfeinert werden. Der Gesang, ausdrucksstark und markant, hat das für Bluegrass typisch Näselnde und wird meist von einer hohen zweiten Stimme begleitet. Trotzdem klingt die Produktion weniger rootsmäßig als zum Beispiel bei der Old Crow Medicine Show, die in ähnlichem Fahrwasser schwimmen. Der Klang ist ungemein warm und dicht und bleibt doch leicht und geschmeidig. Die Arrangements sind kleine Kunstwerke, die erst nach und nach ihre Besonderheiten offenbaren. Dies ist vor allem dem quicklebendigen Bass von Max Johnson und dem Banjo von Bennet Sullivan zu verdanken, die bei den meisten Stücken mitspielen und viel zum ohnehin hohen Standard beitragen.

Dirk Trageser

 

VINCENT CROSS – A Town Called Normal


FRAZEY FORD
Indian Ocean

(Nettwerk Records 067003103428/Soulfood, go! www.frazeyford.com )
11 Tracks, 47:00

Mit einem Riff auf ihrer akustischen Gitarre beginnt das ehemalige Mitglied des Folktrios The Be Good Tanyas ihr zweites Soloalbum, doch was dann kommt, entfernt sich weit von dem, was Ford seit gut zwanzig Jahren an Musik macht. Sie hat sich auf Indian Ocean mit Soullegenden wie den Brüdern Teenie und Leroy Hodges zusammengetan, um den Soul im Folk zu suchen – oder den Folk mit Soul zu tränken. Rauchig ist die Stimme der Kanadierin, was ihren Songs einen besonderen Charme verleiht. Historisch war das Aufnahmestudio von Indian Ocean: die Royal Studios in Memphis, in denen schon Al Green Hits wie „Let’s Stay Together“ aufnahm, bevor er sich dem Gospel zuwandte und Prediger wurde. Die Musik von Ford hingegen hat nichts Predigerhaftes, sie ist mit ihrer Mischung aus Soul, Folk und Gospel ein offenes Angebot an die Sinne und modern jenseits von modisch. Ford erkundet neues Terrain, indem sie sich tief vor der US-amerikanischen Musikgeschichte verneigt und als Weiße vom Gefühl her grundschwarze Songs schreibt. Ihr Blues widmet sich dabei voll und ganz der Liebe und der Sehnsucht.

Michael Freerix

 

FRAZEY FORD  –  Indian Ocean


GIANT SAND 
Head For The Hills

(New West Records NW6319/ADA/Warner, go! www.howegelb.com )
15 Tracks, 49:29, mit engl. Texten u. Infos

Nach der Giant-Giant-Sand-Inkarnation von 2012 nennt Howe Gelb sein Bandprojekt nun wieder Giant Sand. Rund dreißig Alben hat er mit seinem Alt.-Country-Aushängeschild seit 1985 veröffentlicht, neben rund dreißig weiteren mit anderen Projekten. Gemeinsam ist allen ihr ewiges Oszillieren über die gesamte stilistische Palette zeitgenössischer Rock-Americana. So auch auf Heartbreak Pass nun wieder, zu dem neben der aktuellen Bandbesetzung auch zahlreiche Weggefährten der letzten dreißig Jahre beitrugen, von Winston Watson über John Parish bis zu Gelbs Tochter Talula. Echtes Leben in punktuellen Vignetten; keine zwei Stücke, die dem Album einen kohärenten Stil verleihen würden – aber zusammen entsteht wieder unverwechselbar Giant Sand. Hier heftiger, da sanfter; hier schlichter, da üppiger; hier Rock, da nahezu Kunstlied; hier wie ein Wiegenlied, da reinster Noise. Gebündelt werden die heterogenen Kräfte von der selbstbewussten Zerbrechlichkeit, die Howe Gelb eignet. Seinem nahezu vollständigen Verzicht auf große Gesten. Und der charakteristischen Anmutung von Größe und Weisheit, die Gelbs und Giant Sands Werken gerade durch diesen Verzicht erwächst – mit um so mehr Substanz und Nachhaltigkeit.

Christian Beck

 

GIANT SAND  – Heartbreak Pass


HEATHER NOVA
The Way It Feels

(Embassy of Music BMD-1172302/Warner, go! www.heathernova.com )
12 Tracks, 58:38, mit engl. Texten u. Infos

Bereits seit den 1990er-Jahren ist Heather Nova in der Szene von Rock, Alternative und Folk ein Begriff. Gekonnt wie keine andere Künstlerin hat sie es geschafft, klassische Instrumente wie das Cello im Rockbereich zu etablieren. Nachdem ihr Debütalbum weltweit Erfolg verzeichnen konnte, riss die Erfolgsstory nicht ab. Ihr neues Album, das im Mai dieses Jahres erschienen ist, verbreitet wieder die typische Popfolk-Atmosphäre, für die Nova bekannt ist. Natürlich hat sie wieder all ihre Songs selbst geschrieben, sodass ein Album voller Emotion, ein wenig Melancholie und jeder Menge Authentizität entstanden ist. Heather Nova hat die Platte explizit als Album entwickelt, das die Hörer mit auf eine Reise nehmen möchte. Es werden Geschichten erzählt, die das Innere der Sängerin offenbaren und den Zuhörer gefangen nehmen. The Way It Feels sorgt für stimmungsvolle Stunden, Minuten oder auch nur Momente, in denen nichts verlangt oder gefordert wird und sich doch ganz viel im Inneren abspielt.

Claudia Niedermeier

 

HEATHER NOVA – The Way It Feels


MANDOLIN ORANGE
Such Jubilee

(Yep Roc Records YEP-2417/Cargo Records, go! www.mandolinorange.com )
Promo-CD, 10 Tracks, 36:09

Es gibt Alben, die packen einen vom ersten Ton an, und es gibt solche, deren Wirkung entfaltet sich erst nach und nach, weil sie kein oberflächliches Aufsehen erregen, sondern mit der Zeit in die Tiefe wirken. Zu dieser Kategorie zählt die zweite Veröffentlichung von Mandolin Orange, dem Duo aus North Carolina. Emily Frantz und Andrew Marlin spielen diverse Instrumente, mischen auf geschmackvolle Weise akustische Gitarren, Mandoline, Fiddle, Clawhammer-Banjo und E-Gitarre, gelegentlich kommt ein sanftes Schlagzeug hinzu. Oft genug umschmeicheln sich Gitarre und Mandoline und weben ein atmosphärisch dichtes Geflecht. Das klingt nach alter Folk- und Bluegrass-Schule, und tatsächlich gehören Leute wie Tim O’Brien und Norman Blake zu ihren Helden. Doch Mandolin Orange haben ihren eigenen Weg gefunden. Die Songs sind von Melancholie durchzogen, lassen Bilder von Landschaften entstehen, erzählen über Freundschaft, Heimat, das Vergehen der Zeit. Trotz ihrer jungen Jahre scheinen sie immer daran zu denken, dass alles endlich ist. Kleine Melodien prägen meist kurze Nummern, die keine endlosen Geschichten erzählen, sondern Schlaglichter werfen. Den Rest denke sich jeder selbst.

Volker Dick

 

MANDOLIN ORANGE  – Such Jubilee


MR. SUN
The People Need Light

(Compass Records 7 4647 2, go! www.mrsunband.com )
11 Tracks, 59:53, mit engl. Infos

Das erste Stück „The Likes Of You“ kommt irgendwoher und verschwindet später auch im Nichts, aber dazwischen nutzen vier erstklassige Musiker gleich zu Beginn die Gelegenheit zu einer kleinen Demonstration ihrer Virtuosität und Musikalität. Besonders Bassist Ethan Jodziewicz hängt sich voll rein, ein Schüler Edgar Meyers, dessen Fähigkeiten im Quartett mit den drei weiteren Hochkarätern nochmals deutlich leuchten. Die Kollegen sind Darol Anger an der Fiddle, Joe Walsh an der Mandoline und Grant Gordy an der Gitarre. Allesamt Namen, die im Feld der akustischen Musik zwischen Bluegrass und Jazz hohes Ansehen genießen. Dass sie drei Musikergenerationen umspannen, gibt dem Projekt Mr. Sun zusätzliche Raffinesse. Jazzstandards wie „After You’ve Gone“ und „If I Were A Bell“ stehen neben Eigenkompositionen wie Angers „Key Signator“ oder „Ben’s House“, geschrieben von Grant Gordy – eine jazzige Ballade, harmonisch vertrackt, mit schwebenden Passagen und feinfühliger Dynamik. Wie schreibt Darol Anger in den Liner Notes zum Titelstück? „Die beseelte Kraft der von Hand gefertigten Saiteninstrumente scheint auf die Menschen und wärmt sie wie ein Feuerchen in einer Berghütte.“ Stimmt.

Volker Dick

 

MR. SUN  – The People Need Light


OLD MAN LUEDECKE
Domestic Eccentric

(True North Records TND505, go! www.oldmanluedecke.ca )
14 Tracks, 45:41, mit engl. Texten

Old Man Luedecke ist kein alter Mann. Eigentlich heißt er Chris mit Vornamen, ist Nachfahre norddeutscher Einwanderer und lebt in der kanadischen Provinz Nova Scotia. Mit seinem Künstlernamen Old Man Luedecke kann er jedoch in der Folkszene steinalt werden, zumal seine Old-Time-gefärbten und banjodominierten Songs eher von der zurückgelehnten Sorte sind. In Kanada ist er damit ausgesprochen erfolgreich und sammelt Juno Awards und ähnliche Preise en masse. Aufregend ist das nicht, soll es auch nicht sein. Banjo, Gitarre, Fiddle, Bass und Mandoline bestimmen den Sound, der von Luedecke und Tim O’Brien produziert wurde, und die Lieder drehen sich oft auf manchmal leicht verschrobene Art um persönliche und häusliche Themen. Von einem Album mit dem Titel Domestic Eccentric erwartet wohl auch niemand eine profunde Kritik der Rolle der USA im Nahen Osten. Wer zum Kosmos Old Man Luedeckes Zugang findet – und so schwer ist das nun wirklich nicht –, der entdeckt einen sympathischen Zeitgenossen mit unaufgeregten Liedern. Ist doch auch schön, oder?

Mike Kamp

 

OLD MAN LUEDECKE  – Domestic Eccentric


JON REGEN
Stop Time

(Membran/Sony, CD 234012, go! www.jonregen.com )
10 Tracks, 38:21, mit engl. Texten u. Infos

Der New Yorker Pianist und Singer/Songwriter zeigt auf seiner fünften Scheibe nach dem erfolgreichen Album Revolution vor vier Jahren enormes Feingefühl für die passenden Töne und dazu die richtigen Sätze. Jon Regen hat das Timing und das Soulfeeling, das es braucht, um den Hörer in den Bann zu ziehen. Mit samtweicher und zugleich fordernder Stimme interpretiert er Melodien, die nicht mehr aus den Kopf gehen. Dieser Künstler geht seinen Weg. Seine Touren führten ihn bereits durch die ganze Welt. In Deutschland war er unter anderem umjubelter Gast beim Berliner Jazzfestival. Titel wie „I Will Wait“ und „Morning Papers“ hinterlassen durch Herz und Humor bleibenden Eindruck. Bei einigen Titeln wird Jon Regen von Davey Faragher am Bass und Pete Thomas am Schlagzeug zurückhaltend und passend unterstützt. Regens Stimme und sein Spiel sind vergleichbar Spiel mit Größen wie Randy Newman oder auch Bruce Hornsby. Ein intelligenter Musiker, der uns sicher noch lange etwas erzählen wird. Ehrfurchtsvoll und gerne hören wir zu.

Annie Sziegoleit

 

JON REGEN – Stop Time


CHRISTOPHER PAUL STELLING
Labor Against Waste

(Anti Records ANTI 2410-2/Indigo, go! christopherpaulstelling.com )
10 Tracks, 40:46

Auf der einen Seite stellt sich Christopher Paul Stelling mit seinem flinken Fingerpicking auf seinem dritten Album wie ein Mann alter Schule dar, der bereits in den frühen Sechzigerjahren begann. Seine Stimme ist rau, die Konzertgitarre zerschlissen, und Stelling singt wütende Lieder über die Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand und gegen die Mechanismen in unserer auf Konsum basierenden Welt. Doch andererseits ist Labor Against Waste auch zeitgemäß und mit einem Bewusstsein für das gegenwärtige Musikpublikum produziert: zarte Streicherarrangements geben seinen Songs eine gewisse Weichheit, wo sie an anderer Stelle von vorwärtsdrängendem Schlagzeug und Bass angetrieben werden. Doch immer wieder schlägt seine Stimme ins Hysterische um, bricht ab, um eigenbrötlerisch auch ins vollkommen Stille abzudriften. Stelling scheint mit seinen dreiundreißig Lebensjahren von großen Widersprüchen – und von Widerspruchsgeist zur Gegenwartsgesellschaft – angetrieben zu sein. Seine Texte sind sehr poetisch, legen sich quer, meiden die direkte Aussage, die direkte Ansage. Auf den Songs von Labor Against Waste zeigt sich Stelling als ein Protestsongschreiber, der in Frage stellt, ohne vorzugeben, Antworten zu wissen. Wenig lakonisch oder sarkastisch, ist Stelling ein wütender Künstler, mit einer Wut, die diffus, doch mitreißend ist.

Michael Freerix

 

CHRISTOPHER PAUL STELLING   – Labor Against Waste

Update vom
09.02.2023
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