GASTSPIEL
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Wer bin ich, wenn ja, wie lange noch?
Über Tradition, Volkslied und Volksleid
Text: Erich Schmeckenbecher*
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Der spitzbübische Stimmbandschwinger mit Hirn, Charme und Melodien singt nicht die alten Lieder. Seine Einfälle und Ausfälle entstammen dem Hier und Heute. So die Programmankündigung eines jungen Künstlers für eine Veranstaltung kürzlich in einem Club hier in der Provinz. Ja, was singt er denn dann? Die große Liebe hat genauso ihren Platz wie die Frage, ob sich eine Eintagsfliege Gedanken über ihre Altersvorsorge macht. Wow, das ist natürlich viel besser, als das alte, uncoole Zeug! Abgesehen davon, dass es meines Wissens keinen Singzwang von alten Liedern bei öffentlichen Veranstaltungen gibt, wirbt da einer für sich mit Sachen, die er auf keinen Fall macht, und versucht damit kräftig Vorschusslorbeeren einzufahren. Schon mutig, so viel Identitätsarmut vor sich herzutragen und auch noch damit zu werben.
Autoreninfo:
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Autoreninfo:
Erich Schmeckenbecher, Jahrgang 1953, Schwabe, Liedersänger, -finder, -sammler, -macher, Musikproduzent, Autor, Romantiker. Als Zupfgeigenhansel (1974-1986) zusammen mit Thomas Friz bekannt geworden. Danach Erich und das Polk (1992-1995), seit 2000 solo unterwegs, nun im 41. Profi-Bühnenjahr. www.erich-schmeckenbecher.de
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Vielfach sind solche Talente in den letzten Jahren wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Positiv, witzelnd, dem Zeitgeist entsprechend marktförmig gebürstet, fix in der Anpassung, narzisstisch, geschichtsvergessen. Gesungen wird nur noch zum Zweck der Selbstdarstellung als inszenierter Bühnenevent, publikumswirksam und was ankommt, nicht, weil man was zu sagen hat oder gar aufrütteln will. Geschichte, Tradition stehen hier der Unterhaltung im Weg, genauso wie Leid und Leiden, denn Haltung kommt nicht gut an. Das stört die Party. Man buhlt billig um den Zeitgeist und kriecht ihm in den Arsch, den Trog fest im Blick.
Wir sind das Volk, Deutschland den Deutschen und Lügenpresse grölen Pegida-Spazierer in Dresden. Sie erinnern sich plötzlich an die Wurzeln ihrer vermeintlichen Herkunft, ohne von Tradition überhaupt eine Ahnung zu haben. Auch sie singen nicht die alten Lieder. Sie kennen sie nicht mal. Warum auch? Das sind in der Regel Lieder von Umbrüchen und Revolutionen, entstanden durch Leid und Elend, um überhaupt erst einen gewissen Lebensstandard, und zwar für alle Bürger des Landes zu erreichen. Ob wir rote, gelbe Kragen, das bekannte Bürgerlied aus der 1848er-Zeit, heute gesungen auf Pegida-Demos? Unmöglich! Was singen die dann? Wenn überhaupt, dann nur Positives aus dem stampfenden Siegerrepertoire der Hitmedien. Das Negative ist hier nicht das Alte. Es ist das Fremde. Das muss weg. Man fühlt sich davon bedroht. Die Forscher um Elmar Brašhler und Oliver Decker haben das die narzisstische Plombe genannt: die Bedrohung des Lebensstandards als Motor für marktförmigen Extremismus. Mit Lügenpresse greifen sie, nebenbei bemerkt, ebenfalls ins Leere, denn die Presse ist hierzulande tatsächlich frei. Jedenfalls für den, dem sie gehört. Es herrscht lediglich ein Mangel an Sein, somit auch ein Mangel an Wahrheit.
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