FOLKER – Gastspiel

GASTSPIEL

DAS FREMDE UND DAS EIGENE

Nachtgedanken zum Musikbetrieb

Von VON WENZEL*

WENZEL * FOTO: MARKUS ALTMANN
In der großen I-Cloud-Fata-Morgana, gleich neben Gott, wird die Musik für das Jahrhundert versammelt. Laptops der neuen Generation sparen sich das CD-Laufwerk und zwingen die Hörer sanft, sich ganz und gar darauf einzulassen, dass ihre Vorlieben statistisch und geheimdienstlich erfassbar werden. Stets im Gefühl alles wäre immerfort verfügbar, offenbart sich beliebige Unübersichtlichkeit gern mit dem Namen „Freiheit“. Die Kompatibilität unserer Nervenströme und Hoffnungen ist zum Ziel der modernen Staaten geworden. Sie wollen uns ganz genau kennenlernen und sammeln alles, was sich verwerten lässt. Messies mit höherem Sinn. Die Radiostationen, die zentralen Verwertungsstellen der Musikindustrie, sind fast schon vollständig besetzt von einer
» Wir verwandeln
virtuell alles
Fremde zu
unserem Eigenen,
weil wir glauben,
was wir besitzen,
gehöre uns «
Handvoll windiger Ingenieure, die Musikfavoriten und Geschmack bestimmen. Internetportale und Tauschbörsen suggerieren uns absolute Aktualität und die Verfügbarkeit über so viel Musik, dass unser Leben nicht ausreichen würde, sie zu hören. So verwandeln wir virtuell alles Fremde zu unserem Eigenen, weil wir glauben, was wir besitzen, gehöre uns. Wir leben in einer mit Musik vollgestopften Welt. In jedem Supermarkt, jedem Fahrstuhl bedudeln uns Lautsprecher. Die Räume der Stille sind rar geworden. Können wir uns noch vorstellen, welchen Eindruck der Hörer von Bachkantaten gehabt haben muss? Für ihn war Musik die Ausnahme. Für uns ist sie die Regel.

Die Digitalisierung der Welt hat alle Lebensbereiche verändert. Selbst die Zeit, die ein Musikstück dauert, ist zum Überspielen desselben nicht mehr von Nöten. Wir schieben die Datei blitzschnell hin und her, für die wir dereinst noch mit schwerem Tonbandgerät Minuten brauchten. Die Zeit scheint entmachtet. Nur zum Anhören brauchen wir noch die gleiche Zeit, die ein Musikstück dauert, aber das lässt sich auch auf später verschieben. Friedlich warten die Lieder auf ihre Stunde, während sie uns schon gehören.

Dass wir mit den neuen Musikprogrammen nach Belieben einen virtuellen Trommler anstellen können, ohne ihn bezahlen zu müssen, dass er uns afrikanische Rhythmen korrekt zu unseren deutschen Liedern einspielen könnte, gibt uns das Gefühl, die Welt wäre in unseren Händen. Und es kostet uns kaum noch Mühe. Alle Gegenstände, sagt die Physik, streben dem Zustand ihrer größten Trägheit zu – Entropie, die Utopie der Zivilisation, meinte Lévi-Strauss. In diesem System der Aneignung alles Fremden (soweit es zu unseren ideologischen Normen passt!) ackert ein Musikbetrieb mit großen und kleinen Träumen, mit künstlichen Stars und medial glorifizierten Laien, mit realen und irrealen Hoffnungen. Die junge Band zählt nach dem Konzert eifrig abgerissene Kartenschnipsel nach. Welchen Wert hat unsere Musik? Die Veranstalter rechnen nach, ob sie sich solch ein Konzert noch mal leisten können.

Autoreninfo:

* Der Berliner Künstler Wenzel ist mehrfach preisgekrönter Autor, Musiker, Sänger und Regisseur. www.wenzel-im-netz.de

Die Normen, die uns der Markt auferlegt, sind ein kostümiertes Dogma, das wir zu akzeptieren gezwungen sind, wollen wir nicht als rückständig oder unmodern gelten. Die Erziehung der Konsumenten – bis sie zum Markt passen. Blitzschnell werden die Produkte zu Symbolen umgewertet, verkleidet, damit wir uns wohlfühlen können. Entertainment heißt das Paradies des aufgeklärten Wohlstandbürgers. Mühe und Arbeit sind von Gestern. Alles muss Spaß machen (selbst das Kriegführen der Drohnenpiloten an ihren Spielkonsolen)! Alles verspricht tieferen Sinn, um die sinnfreie Welt des Marktes nicht als Profanität erkennen zu können. Wie immer die Produkte heißen, ob nun „Kampf um europäische Werte“ wie im Fall der Ukraine oder Conchita Wurst (nomen est omen) wie im Fall des europäischen Wettsingens, stets soll unsere Urteilskraft entmachtet werden und durch eine als Fortschritt propagierte Political Correctness ersetzt werden, damit wir ja nicht über die Stränge schlagen. Eifrige Redakteure und Zeitungsschreiber stimmen einmütig ein in den Refrain, den uns der Mainstream zu singen nötigt.

... mehr im Heft  

Update vom
09.02.2023
Links
go! Home
go! Voriger Artikel
go! Nächster Artikel

Dieser Text ist nur ein Auszug des Original-Artikels der Print-Ausgabe!

FOLKER auf Papier
Dieser Artikel ist nur ein Auszug des Original-Artikel der Print-Ausgabe!
Bestelle sie Dir! Einfach das
go! Schnupper-Abo! bestellen und drei Ausgaben preiswert testen. Ohne weitere Verpflichtung!
Oder gleich das
go! Abo ?