GASTSPIEL
Die wichtigsten Revolutionslieder zu wählen was für ein tolles Vorhaben, an das sich da die in Berlin erscheinende Melodie & Rhythmus im fünfundzwanzigsten Jahr des innerdeutschen Mauerfalls gewagt hat! Dazu hat die älteste gesamtdeutsche Popmusikzeitschrift (1) eine Liste mit fünfzig Vorschlägen veröffentlicht, aus der es galt, zehn Favoriten auszuwählen. Als ich am 1. September des Jahres 1968 gerade vierzehn geworden erstmals die Schultür der Erweiterten Oberschule (EOS) Bertolt Brecht in Halberstadt durchschreiten durfte, um auf dem Schulhof am Begrüßungs-Fahnenappell für die Neuen im noch ungewohnten Blauhemd der FDJ teilzunehmen, fühlte ich mich durchaus als stolzer Revolutionär.
Zurück zum Fahnenappell und dem Problem der revolutionären Lieder. Auch die Halberstädter EOS nannte seit kurzem einen Singeklub ihr eigen, und dieser intonierte zu unserem Oberschuleintritt Hartmut Königs markiges Sag mir, wo du stehst (das so will es die Legende der damals neunzehnjährige Volontär des Neuen Deutschland in Anlehnung an jenes Which Side Are You On? geschrieben haben soll, das Florence Reece 1931 zu einem Bergarbeiterstreik in Kentucky verfasst hatte): Zurück oder vorwärts, du musst dich entschließen, / Wir bringen die Zeit nach vorn Stück um Stück ! Hartmut König: Sag mir, wo du stehst (1966)
Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst! Zurück oder vorwärts, du musst dich entschließen, wir bringen die Zeit nach vorn Stück um Stück. Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen, denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück! Du gibst, wenn du redest, vielleicht dir die Blöße, noch nie überlegt zu haben wohin. Du schmälerst durch Schweigen die eigene Größe. Ich sag dir, dann fehlt deinem Leben der Sinn! Wir haben ein Recht darauf, dich zu erkennen; auch nickende Masken nützen uns nicht. Ich will beim richtigen Namen dich nennen und darum zeig mir dein wahres Gesicht! Das erreichte mich, jawohl, und ganz direkt, denn ich hatte mich ja bereits richtig entschlossen. Ich gehörte zu jenem Wir, von dem es im Text heißt, es bringe die Zeit nach vorn Stück um Stück. Nun gut: Ich war vierzehn, wie gesagt, entstammte einem sozialistischen Lehrer-Elternhaus, hatte in meiner Dorfschule bereits klassenkämpferische Erfahrungen mit dem Einsammeln imperialistischer Flugblätter gemacht, die in Fesselballons über die nahe Westgrenze getrieben kamen, und zur Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend sogar einen Schießwettbewerb mit dem Luftgewehr gewonnen. Ich war ein revolutionärer Kämpfer, und dieser rhythmische Song rekrutierte mich ins Siegerkollektiv der Geschichte. Wenige Tage nach diesem Fahnenappell saß ich dann selbst in der Probe des Schulsingeklubs, hatte zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand und agitp(r)opte einige Zeit mit großer Begeisterung und bar jeglicher Reflexion dessen, was ich da auf fahnengeschmückten Bühnen unterm Ulbricht-Bild lauthals von mir gab.
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