FOLKER – Gastspiel

GASTSPIEL

Heimatplanet revisited

Plädoyer für ein Festival Chanson Folklore International 2.0

The Next Generation

Von Kai Degenhardt*

KAI DEGENHARDT

Das politische Lied ist mausetot! Okay – was heißt tot? Aber es findet dort, wo es noch zu hören ist, weitgehend unterm Radar statt – jedenfalls hierzulande. Klar, ich meine natürlich das linke politische Lied; das auf gesellschaftlichen Fortschritt und Emanzipation gerichtete. Reaktionäres wird erschütternd viel geschmettert in diesen Tagen. Dieses Genre ist alles andere als mausetot. Aber damit befasse ich mich hier nicht.

Dass ich, wenn ich diesen Befund äußere, oft Widerspruch erfahre, bin ich gewohnt, und der Dissens ist auch meist sehr grundsätzlich. Er hat nach meiner Erfahrung vor allem damit zu tun, dass wir unter einem linken politischen Standpunkt mitunter vollkommen Verschiedenes, häufig sogar sich gegenseitig Ausschließendes verstehen. Wir meinen vermutlich nicht einmal dasselbe, wenn wir dabei „Wir“ sagen. Aber wie ist es dazu gekommen?

Neben dem Bezugspunkt einer besseren, weil klassenlosen Gesellschaft erhalten politische Lieder ihren entsprechenden Charakter natürlich immer dadurch, dass sie einen Standpunkt in den jeweiligen
Autoreninfo:

*KAI DEGENHARDT, ist Jahrgang 1964. Entscheidend musikalisch sozialisiert wurde er in den Siebzigern und frühen Achtzigern, ist also mit Folk, Rock, Punk, Wave und Reggae groß geworden, aber auch mit den Liedern seines Vaters Franz Josef Degenhardt sowie dem kulturellen Umfeld der linken und linksradikalen Szenen dieser Jahre. Mit seinem Vater arbeitete er viele Jahre als Arrangeur und Gitarrist zusammen und wirkte von 1987 an auf sämtlichen seiner Alben und diversen Tourneen mit. Seit 1997 hat er fünf eigene Alben veröffentlicht. Seine aktuelle CD Näher als sie scheinen wurde vom Preis der deutschen Schallplattenkritik als eine der künstlerisch herausragenden Neuveröffentlichungen des Tonträgermarktes bewertet und in die Bestenliste 2012 aufgenommen.

www.kai-degenhardt.de

gesellschaftlichen Kämpfen auf dem Weg dorthin beziehen; um die Organisationsform und die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts sowie die gesellschaftliche Gesamtreproduktion. Diese Kämpfe sind in Deutschland
» Heute brennt die Welt
eigentlich überall,
und in Deutschland ist
nichts los auf den Straßen. «
untrennbar mit der Traditionslinie einer jakobinischen Linken verwoben, womit ich die historische Verbindung meine, die von der Aufklärung über die Französische Revolution, die Vor- und Nachmärzzeit zur Gründung der SPD verläuft. Diese Linke also, die sich dann nach dem Ersten Weltkrieg gespalten und während des deutschen Faschismus in den KZs wiedergefunden hat. Und ihre Lieder, in der Tradition vom Pfeiferhänslein über „O König von Preußen“, der „Freien Republik“, Herweghs „Bet’ und arbeit’“ bis zur Microphone Mafia.

Nach 1945 waren sämtliche deutschsprachigen Lieder, welcher Art auch immer – ob Arbeiterlied oder hergebrachtes Volkslied –, erst mal nicht mehr singbar. „Lehrer haben sie zerbissen / Kurzbehoste sie verklampft / Braune Horden totgeschrien / Stiefel in den Dreck gestampft“, hat mein Vater diese Erfahrung in den 1960er-Jahren treffend verdichtet („Die alten Lieder“). Man spricht in diesem Zusammenhang ja auch von der „adornitischen Schweigezeit“, benannt nach dem Theoretiker der Frankfurter Schule, der in den 1950ern gesagt hat: „Nirgends steht geschrieben, dass Singen Not tut.“

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Update vom
09.02.2023
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Dieser Text ist nur ein Auszug des Original-Artikels der Print-Ausgabe!

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