EDITORIALLiebe Musikfreundinnen und -freunde, die Bundestagswahl steht vor der Tür. Für mich stellt sich schon fast gar nicht mehr die Frage, wen ich wählen soll, sondern ob ich überhaupt wählen gehen soll! Angesichts einer Parteienlandschaft, deren Vertreter Politik mit der Inhaltsleere der Werbewelt verwechseln, unter der Berieselung von Seifenopern, wie es Michael Müller, der Bundesvorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, ausgedrückt hat. Sogar das Handelsblatt jeglicher fortschrittlicher Denkweise unverdächtig spricht von einer dramatischen Entleerung der Politik. Die Gesellschaft wird immer unpolitischer. Und die Musik und ihre Protagonisten? Von der punktuellen Unterstützung einzelner Musiker für eine Partei anlässlich von Wahlen abgesehen, drängt sich derzeit der Eindruck auf, Musik und Politik haben heute nichts mehr miteinander zu tun. Natürlich, in der jüngsten Vergangenheit standen Musiker durchaus für politische Anliegen auf der Bühne. Aber in der Regel waren dies überparteiliche Veranstaltungen, zum Beispiel gegen Rechts oder gegen Ausländerfeindlichkeit. Eine Allianz von Musik und Politik fand sich in den letzten Jahren zudem bei den Antiglobalisierungsdemonstrationen wie beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm. Aber für eine konzertierte Aktion von Künstlern im Allgemeinen und Musikern im Besonderen gibt es keinerlei Anzeichen. Das war einmal anders. (West-)Deutschland in den Achtzigerjahren: die Hochzeit der Alternativ- und Friedensbewegung. Viele Künstler allen voran Udo Lindenberg mit seiner Idee einer Bunten Republik mischten sich ein. Sie traten bei Veranstaltungen gegen den Bau der Frankfurter Startbahn West auf und unter dem Motto Rock gegen Atom gegen die Stationierung von Atomraketen. Die 1981 gegründete Initiative Künstler für den Frieden organisierte gleich mehrere große Konzerte. 1982 traten vor etwa zweihunderttausend Zuschauern in Bochum über zweihundert Künstler auf, darunter Esther Bejarano, Harry Belafonte, Joseph Beuys, die Bots, Franz Josef Degenhardt, Katja Ebstein, Maria Farantouri, Gitte Hænning, André Heller, Hanns Dieter Hüsch, Udo Lindenberg, Miriam Makeba, Ulla Meinecke, Bill Ramsey und Konstantin Wecker. Ein Jahr später zogen einige dieser Künstler unter dem Namen Grüne Raupe in den Wahlkampf für die Grünen. Es waren Wahlkampfveranstaltungen der besonderen Art. Musiker waren auch vorher schon vor allem für die Sozialdemokraten unter Willy Brandt für Parteien aufgetreten. Doch meist stellten sie ob Rockgruppen oder Marschmusikkapellen nur gut bezahltes Rahmenprogramm für die Politikerreden dar. Mit der Grünen Raupe waren dagegen nur Musiker unterwegs, die auch Anhänger der Grünen waren. Alle, ob bekannt oder nicht, erhielten nur eine Kostenerstattung. Die Auftrittszeit für Redner der Grünen und für die Künstler war gleich. Und alle Künstler hatten die Vorgabe, nur Lieder zu singen, die mit den Ideen der Friedensbewegung und des ökologischen Humanismus zu tun hatten. Die Feste der Grünen Raupe waren erfolgreich: Ein Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle zog mit über zehntausend Besuchern weit mehr Publikum an als eine Parallelveranstaltung der Sozialdemokraten in der Essener Grugahalle trotz der dort auftretenden bekannten Rockbands. Am 6. März 1983, dem Tag der Bundestagswahl, erhielten die Grünen 5,6 Prozent der Stimmen. So zog auch dank der Grünen Raupe die Umweltpartei damals zum ersten Mal in den deutschen Bundestag ein. Vor allem die Aktivitäten der Friedensbewegung führten Ende 1984 in West-Berlin zur Gründung von Künstler in Aktion. Mit dabei waren damals unter anderem Ulla Meinecke, Ina Deter, Udo Lindenberg, Klaus Lage, Konstantin Wecker, Peter Maffay, André Heller, Rio Reiser, Hannes Wader, Klaus Hoffmann und Heinz Rudolf Kunze. Sie verstanden sich als Forum, wollten als Musikerinnen und Musiker ihre Positionen in die politische Debatte einbringen. Sie beteiligten sich an den Ostermärschen oder am Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Ein weiterer Höhepunkt: die Proteste gegen die von US-Präsident Ronald Reagan im Zuge des Kalten Krieges mit der Sowjetunion ins Leben gerufene Strategische Verteidigungsinitiative, SDI. Vor der Bundestagswahl traten viele Mitglieder von Künstler in Aktion wie beispielsweise Klaus Lage und Heinz Rudolf Kunze mit der Forderung an die Öffentlichkeit, für eine rot-grüne Mehrheit zu sorgen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl blieb im Amt. Nicht nur weitere politische Niederlagen trugen in der Folge zum schleichenden Ende von Künstler in Aktion Anfang der Neunzigerjahre bei. Auch die seit Beginn kontroversen Debatten über eine zu große Nähe zur DKP und ihr nahestehenden Organisationen sowie über die Suche nach einer langfristigen Orientierung führten dazu so Diether Dehm, damaliger Sprecher der Initiative , dass sich die Sache totlief. Seitdem kam es nie wieder zu einer solch engen Verbindung von Musik und (Partei-)Politik. Der Folker nimmt die Bundestagswahl zum Anlass, diese Ausgabe schwerpunktmäßig dem Thema Musik und Politik zu widmen. Mit Ausnahme des Porträts von Bernd Köhler als einem Künstler, der beispielhaft diese beiden Bereiche miteinander verbindet, beschäftigen sich alle Artikel mit eher grundsätzlichen Fragen. Das Beispiel des Festivals Féile an Phobail in Nordirland zeigt, wie Kulturförderung auch politisches Konzept sein kann. Die französische Organisation Zebrock macht vor, wie man Zugang zu Kultur in sozialen Brennpunkten schafft. In Dänemark machen die Mitarbeiter von Freemuse öffentlich, in welchem Ausmaß Musik in aller Welt zensiert wird. Und Kai Degenhardt fragt in seinem Gastspiel, warum in Deutschland nichts los ist auf den Straßen, obwohl die Welt eigentlich überall brenne. Andere Beiträge beschäftigen sich mit den singenden Rebellen auf dem afrikanischen Kontinent sowie innerhalb der Rubriken Labelporträt, Ortstermin und Plattenprojekte mit weiteren Aspekten der Thematik. Konstantin Wecker hat im Folker vor einiger Zeit von Politikern und Musikern ein neues Denken gefordert, das mehr sein müsse als ein siebter Aufguss linker Theorien und Konzepte aus dem zwanzigsten Jahrhundert: eben ein Bekenntnis zur Utopie. Dieser Ansicht ist auch ein Künstler und politischer Aktivist, der seit über 75 Jahren für Gerechtigkeit, gegen Krieg, gegen die Zerstörung der Natur und gegen den Kapitalismus singt und kämpft: Pete Seeger. Der Ansatz des heute 94-Jährigen sollte uns allen als Vorbild dienen: Ich glaube, dass nicht nur Lieder geschrieben werden müssen. Es muss auch gehandelt werden. Die Welt wird nicht durch Lieder, sondern nur durch Aktionen gerettet werden. Das zentrale Motto muss sein: Denke global, und handle vor Ort. Was nichts anderes bedeutet, als dass wir wieder politischer werden müssen. Denn schon der große italienische Politiker und Philosoph Antonio Gramsci meinte: Die Macht der Herrschenden ist immer auch die Ohnmacht der Beherrschten. In diesem Sinne entlasse ich Sie in die Lektüre der neuen Folker-Ausgabe, die Ihnen neben dem Schwerpunktthema natürlich wie immer auch viele interessante weitere Nachrichten und Beiträge aus den Bereichen Folk, Lied und Weltmusik bietet. Ihr Folker-Chefredakteur Michael Kleff PS: Statt einer neuen Ausgabe der Rubrik Neues aus dem Land der Freien und Mutigen, die angesichts des Ausmaßes der Überwachung durch die US-Regierung jetzt den Untertitel Big Brother is watching you bekommen sollte, will ich an dieser Stelle auf eine aktuelle Auseinandersetzung um das Urheberrecht hinweisen. Im Oktober soll es eine Entscheidung zur Verwendung von Rezensionsausschnitten aus Zeitungen im Rahmen der Buchwerbung geben. Diese Entscheidung könnte auch Bedeutung haben für Künstler, die derzeit mit Abmahnungen konfrontiert werden, weil sie Pressekritiken auf ihre Websites gesetzt haben. Einige von ihnen, wie unter anderem Scarlett O, Michael Zachcial sowie weitere Kollegen und ein Kulturverein wollen sich jetzt juristisch zur Wehr setzen. Mehr Informationen finden Sie unter www.chanson.de/abmahnungen. Der Folker wird sich des Themas in seiner nächsten Ausgabe annehmen. |
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