FOLKER – Die Okzitanische Musikszene von Marseille
MOUSSU T (2. V. R.) E LEI JOVENTS * FOTO: CHRISTINE CORNILLET
 

Troubadoure im Großstadtdschungel

DIE OKZITANISCHE MUSIKSZENE VON MARSEILLE

Sprache als befreite Zone

Mit einem neuartigen Chansonmix aus schwarzem Südstaatenblues, karibischer Gelassenheit und provenzalisch-mundartlicher Poesie begeistert das Quartett Moussu T e lei Jovents nicht nur das französische Publikum. Jetzt erschien mit Artemis bereits das siebte Album des Ensembles, zugleich sind die Musiker ein Paradebeispiel für die florierende okzitanische Musikszene jener Metropolregion Marseille-Provence, die gerade zur europäischen Kulturhauptstadt erklärt wurde. Eine Bestandsaufnahme.

TEXT: ANDREAS KISTERS

Moussu T mischt seit fünfundzwanzig Jahren als Frontman der Spaßguerilla-Raggamuffin-Truppe Massilia Sound System die Musikszene Marseilles auf. Darüber hinaus ist er seit 2004 auch als Moussu T e lei Jovents unterwegs – was so viel wie „Monsieur T und seine Jungs“ bedeutet. Während ihrer Bühnenauftritte präsentieren sich die vier Kumpel gerne in
LO COR DE LA PLANA MIT MANU THéRON GANZ RECHTS * FOTO: SANTI OLIVERI
jeansblauen Malocherjoppen und machen auf proletarische Werftarbeiter. Moussu T beginnt mit dem Schreiben fiktiver Zeilen an die Allerliebste: „Bons baisers de Marseille“, heißt es da scheinbar unverfänglich – „Grüße und Küsse aus Marseille …“ Ein paar metallene Lampenschirme an kranartigen Gestellen dienen als stilisiertes Werftendekor, während die Musiker dem Publikum einen azurblauen Himmel vorschwärmen. Hinter der Postkartenidylle offenbart sich das eigentliche Schicksal: ein trister Alltag im fernen Gastarbeiterexil. Eine ähnliche Ambivalenz hat Moussu T zu Hause jeden Tag vor Augen: „Die ganze Gegend um Marseille ist davon geprägt“, erzählt er. „Da ist die eine, ziemlich sympathische Seite mit dem Meer, dem Fischfang, dem Horizont und vor allem der Sonne. Und auf der anderen Seite die Industrie, vor allem Stahl. Bei uns gab es eine riesige Werft, da wurden Tankschiffe gebaut, das heißt wir sind wirklich mit dieser Arbeiterkultur groß geworden. Uns gefällt dieser Aspekt auch: Metall, Stahl und Fabrik, das ist quasi unsere
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Auswahldiskografie:
Chin Na Na Poun, Au Cabanon (Buda Musique, 2010)
Dupain, Les Vivants (Bleu Electric, 2005)
Forabandit, Forabandit (Buda Musique, 2012)
Gacha Empega, Polyphonies Marseillaises (L’Empreinte Digitale, 1998)
Lo Còr de la Plana, Marcha! (Buda Musique, 2012)
Massilia Sound System, Òai E Libertat (Ròker Promocion, 2007/Le Chant du Monde, 2012)
Moussu T e lei Jovents, Artemis (Manivette Records/Le Chant du Monde, 2013)

natürliche Kulisse. Wenn ich bei mir zu Hause zum Hafen runtergehe, habe ich die Werft vor Augen, riesige Kräne, auch einen von Krupp. Ich glaube, dass sich die Besonderheit unserer Region genau in dieser Mischung aus maritimer und industrieller Welt widerspiegelt.“

Wenn uns Moussu T etwas vom blauen Meer, von im Wind schaukelnden Booten, vom süßen Nichtstun am Kai, von stillstehenden Hafenkränen, vom mediterranen Machoflirt im Vorortzug, vom Nazimassaker im provenzalischen Hinterland oder von der
» Die Besonderheit unserer Region spiegelt sich in der Mischung aus maritimer und industrieller Welt wider. «

troubadouresken Sehnsucht nach der unerreichbaren Geliebten vorsingt, tut er das gerne auf Provenzalisch, das heißt in seinem Fall in der Marseiller Mundart der okzitanischen Sprache. „Qu’es aquò? – Was ist das denn?“, könnte sich der geneigte Südfrankreichtourist fragen, der allenfalls bei zweisprachigen Orts- und Straßenschildern eine Ahnung davon bekommt, dass da außer dem Französischen noch etwas anderes sein muss.


MOUSSU T E LEI JOVENTS
Artemis

(Manivette Records/Le Chant du Monde, go! www.moussut.ohaime.com )
13 Tracks, 42:44, okzit./franz. Texte

Auch auf dem siebten Album der Marseiller Kultgruppe darf die sympathisch verrauchte Stimme Moussu Ts zum gewohnten Stilmix aus amerikanischem Südstaatenbanjo, Rockgitarre und karibisch gelassener Percussion ihre Weisheiten verkünden: mal maritim versonnen, mal politisch explizit beziehungsweise unkorrekt, je zur Hälfte auf Französisch und auf Okzitanisch. Augenzwinkernd werden Klischees vom mediterranen Macho bedient, der schönen Strandnixen hinterhergafft. Aber Vorsicht, wird doch im nächsten Chanson die rote Fahne gehisst und das kosmopolitische Marseille als Einwandererparadies gefeiert, in dem sich Hafen- und Werftarbeiter aller Länder seit über zweitausend Jahren verbrüdern gegen unermüdlich blasende Mistralwinde wie gegen Bänker und unfähige Politiker. Dazwischen wieder troubadoureske Liebeslyrik, gepaart mit Selbstironie. Der passende Albumtitel lautet Artemis: Diese Gestalt aus der griechischen Sage ist nicht nur Schutzpatronin von Marseille, Göttin der Jagd, Symbol für den Kampf um Veränderung, sondern sie steht auch für Frauen, Kinder, Mutterschaft und das traute, süße Heim – eine Ambivalenz zwischen Revolution und Bettlaken, die sich durch das ganze Album zieht.

Andreas Kisters

 

MOUSSU T E LEI JOVENTS   – Artemis

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Update vom
09.02.2023
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