FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

ich weiß nicht, wie sich die Dinge in der Türkei nach den gewaltsam unterdrückten Protesten gegen Ministerpräsident Erdogan und seine AKP-Regierung entwickelt haben werden, wenn Sie diese Zeilen lesen. Aber die Vorgänge in Istanbul und anderen türkischen Städten haben nach den Ereignissen um den sogenannten Arabischen Frühling einmal mehr gezeigt, wie eng die Verbindung von Musik und sozialen Bewegungen ist, die auf eine Veränderung des Status quo drängen. In der Geschichte wurden immer wieder Lieder zu Hymnen im Kampf gegen gesellschaftliche Missstände, andere spendeten Trost bei erlittenen Niederlagen. So auch in der Türkei. In Istanbul kamen nicht nur die protestierenden Menschen zusammen, sondern auch Prominente aus Kultur und Kunst. Nachdem Erdogan verkündet hatte, die „çapulcu“ – zu Deutsch „Marodeure“ oder „Plünderer“ – würden ihn nicht davon abhalten, den Gezi-Park am Taksim-Platz abzureißen und ein Einkaufszentrum dorthinzustellen, widmete der Jazzchor der Bogaziçi-Universität dieser Ankündigung ein A-cappella-Stück: das „Volkslied der Çapulcu“. Darin heißt es: „Wir sind alle Plünderer.“ Popstar Tarkan war ebenso zu sehen wie die graue Eminenz der türkischen Linken, der Liedermacher, Buchautor und Regisseur Zülfü Livaneli. Der renommierte Komponist und Pianist Fazil Say, der im April wegen „Blasphemie“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, begann ein Konzert in Izmir, indem er wie die Demonstranten mit einer Suppenkelle auf einen Kochtopf schlug. Der Künstler Bedri Baykam, der sein Atelier ganz in der Nähe des Taksim-Platzes hat, meinte, es sei an der Zeit für die Menschen, auf die Straße zu gehen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Baykam beklagt schon seit Langem, dass Künstler in der Türkei eingeengt würden und sich eine schleichende Islamisierung breitmache. Mehr zum Thema „Musik und Politik“ gibt es als Schwerpunkt in der nächsten Ausgabe des Folker.

Schon vor einigen Jahren habe ich an dieser Stelle meine Gedanken zum Thema „Waschzettel“ niedergeschrieben. Waschzettel, das ist der unter Journalisten übliche Ausdruck für Informationen, die man bei Veröffentlichung neuer Tonträger bekommt. Als ich in den Neunzigerjahren beim heute nicht mehr existierenden Radio Brandenburg das musikalische Weltkulturmagazin Al Globe moderierte, hatte ich eine Zeit lang eine kleine Serie in den von mir verantworteten Sendungen unter dem Titel „Waschzettel der Woche“. Dabei ging es mir weniger um die vielen faktischen Fehler darin, sondern um die wunderbaren Stilblüten. Angesichts einiger in letzter Zeit auf meinem Schreibtisch gelandeter CD-Infos dachte ich mir, die überbordende Kreativität so mancher Waschzettelschreiber noch einmal aufzugreifen. Hier ist ein ganz aktuelles Beispiel zum neuen Album von Stephanie Nilles Takes A Big Ship: „ Was war das, fragten wir uns, nachdem wir einen Ausschnitt eines Konzertes gesehen hatten? Es war sensationell ..., ein Stück Zeitgeist mit Niveau. […] Die Musik von Stephanie Nilles ist ein phosphoreszierendes Nesseltier in tiefer See. Leuchtend schön, doch nicht ohne Gefahrenpotential.“ „Zeitgeist mit Niveau“? Musik als „phosphoreszierendes Nesseltier in tiefer See“ und mit „Gefahrenpotential“. Auf derart blumige Umschreibungen muss man erst einmal kommen!

Ich könnte mich an dieser Stelle natürlich auch über das Für und Wider der jährlichen Kampagne auslassen, Bob Dylan den Literaturnobelpreis zu verleihen. Aber ich will es dabei belassen, Sie darüber zu informieren, dass Dylan, nachdem er erst im Mai des vergangenen Jahres die US-Freiheitsmedaille umgehängt bekam, sich nun zusätzlich wohl den französischen „Orden der Ehrenlegion“ ans Revers heften kann. Mit der auf eine Initiative von Napoléon Bonaparte zurückgehenden Auszeichnung sollen zivile Verdienste, herausragende Talente und große Tugenden geehrt werden. Dem Beispiel einiger berühmter Menschen, die dankend auf diese Ehrung verzichtet haben – wie beispielsweise Jean-Paul Sartre –, wird Bob Dylan vermutlich nicht folgen. Wodurch er sich in guter Gesellschaft mit so schillernden Vertretern wie Bono befände, der den Orden 2003 annahm.

Natürlich will ich in diesen Zeilen auch einen kurzen Blick auf das werfen, was Sie auf den nächsten Seiten erwartet. Wie immer finden Sie Aktuelles und nützliche Information rund um die Themen Weltmusik, Folk und Lied sowohl in der „Szene“ als auch in der Rubrik „Heimspiel“ und bei den CD-Besprechungen. In den Artikeln begehen wir Geburtstage – den siebzigsten von Reinhard Mey in der Titelgeschichte anlässlich des Erscheinens seines neuen Albums und den hundertsten von Maria Tanase, dessen nicht nur beim diesjährigen TFF Rudolstadt gedacht wird. Wir stellen ihnen neue interessante Künstler wie The Fretless oder Slagr vor. Und auch das Thema Politik hat wieder seinen Platz im Heft: mit einem Überblick über die Situation der Musiker im krisengeschüttelten Mali und einem Porträt des seit vielen Jahren engagierten US-Singer/Songwriters Si Kahn.

Ich bin überzeugt davon, dass auch dieses Mal sowohl Interessantes als auch Unterhaltsames für Sie dabei ist. Viel Freude bei der Lektüre. Und vielleicht sieht man sich ja in Rudolstadt, wo der Folker wie jedes Jahr mit einem eigenen Stadt am Markt vertreten ist.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Die Nachrichten der Rubrik „Neues aus dem Land der Freien und Mutigen“ kommen diesmal vom Political Economy Research Institute der Universität von Massachusetts. Das in Amherst ansässige Institut hat eine Liste der hundert größten Umweltverschmutzer in Sachen Treibhausgase in den USA veröffentlicht. Wissenschaftliche Beiträge können manchmal ganz schön langweilig sein. Doch diese Liste bedeutet eine schonungslose Anklage der aufgeführten Unternehmen. Sie alle beteiligen sich daran, unseren Planeten so schnell wie möglich zu zerstören. Auf Platz 4 der Liste steht die US-Regierung Präsident Obamas, der von vielen Musikern auch wegen seiner Rolle als Kämpfer für die sogenannte „saubere Kohle“ unterstützt wurde. Gleich dahinter folgt Berkshire Hathaway, ein Unternehmen, das dem Großinvestor, Unternehmer und Mäzen Warren Buffett gehört. Im Internet lässt sich immer noch ein Interview in der Zeitschrift Forbes aus dem vergangenen Jahr nachlesen, in dem die beiden Milliardäre Buffett und Rapper Jay-Z sich darüber unterhalten, wie man reich bleibt. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Bono einer der Eigentümer von Forbes ist. Im Jahr 2009 wurde übrigens Exxon Mobil dort mit einer Titelgeschichte als „Grünes Unternehmen des Jahres“ gefeiert. Wie sich das wohl mit der Tatsache vereinbaren lässt, dass Exxon Mobil auf Platz 14 der Liste der größten Umweltverschmutzer in den USA steht?

Update vom
09.02.2023
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