EDITORIAL
Liebe Musikfreundinnen und -freunde,
So viel Albernheit war nie. Christoph
Hickmann sprach mir in einem Beitrag
für die Wochenendausgabe der
Süddeutschen Zeitung zum 2. Advent aus dem
Herzen. Mit Blick auf die Aktivitäten von Politikern
auf Facebook und bei Twitter fragte der
Journalist: Kann es sein, dass die Politik mit
Hilfe der sogenannten Neuen Medien nicht
neuer, sondern nur infantiler wird? Hickmanns
Antwort lautet: Ja! Und seine abschließende
Forderung heißt: Könnten wir uns viel
leicht alle mal kurz wieder wie Erwachsene
benehmen? Analyse und Schlussfolgerung las
sen sich ohne große Mühe auch auf unser Thema,
die Musik, übertragen. Gilt doch auch hier,
dass beispielsweise der Gefällt-mir-Knopf wie
eine Art Droge funktioniert. Auch für unzählige
Musikfans und -macher ist das Internet
wie es Hickmann den Politikern bescheinigt
Daseinsberechtigung, Existenzgrundlage und
permanenter Aufenthaltsraum in einem. Und
das auf dem Niveau von Kleinkindern. Denn
nur sie teilen die Welt auf in Dinge, die ihnen
gefallen oder nicht. Ganz zu schweigen vom
totalen Wertverlust eines Begriffs wie Freund,
der ganz im Sinne vom Orwellschen Neusprech
mit dem Schließen von Freundschaften
in den sogenannten sozialen Netzwerken
verbunden ist. Eine Erkenntnis, die in weiser
Voraussicht schon der deutsche Philosoph
und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) formulierte,
als er als einer der ersten Denker vor
aussagte, dass die Errungenschafen des modernen
Lebens nur die niederen intellektuellen
Fähigkeiten fördern würden.
Geht es nach Sean Parker und Daniel Ek, wird
das Internet jetzt auch die (Pop)Musik ordnen
und retten natürlich gegen ein geringes Entgelt
in ihre Tasche! Der eine war Mitbegründer
der Tauschbörse Napster. Der andere ist Mitgründer
von Spotify, einem Internetdienst, der
seinen Nutzern zwanzig Millionen Lieder
anbietet. Das entspricht in etwa der Zahl der
derzeitigen Nutzer, die sich des Dienstes bedienen
ein Viertel davon bezahlt fünf oder zehn
Euro für das kostenpflichtige Abonnement.
Und jetzt kommt es: Wer Beratung und Wissen
im Internet vermisst, dem wird seit Anfang des
Jahres geholfen. Music Graph heißt ein Spotify-Service,
der nach dem Vorbild von Facebook
und Twitter die Playlists von Musikern,
Fans und natürlich Prominenten veröffentlicht.
Da ist er wieder, der Gefällt-mir-Knopf. In
einer Pressemeldung zum Start von Music
Graph heißt es: Willst du wissen, was Obama
hört, bevor er der Welt Rede und Antwort
steht? Jetzt ist es möglich. Da wendet sich der
Autor dieser Zeilen mit Grausen und erinnert
sich wehmütig an Gespräche mit fachkundigem
Personal im Plattengeschäft eines Vertrauens.
Nun, ich weiß, das ist lange her, und
wird auch nicht wiederkommen. Das bedeutet
jedoch nicht, dass ich jeden technologisch
möglichen Schwachsinn mitmachen muss.
Apropos Schwachsinn. Der Hip-Hop-, Reggae-,
Soul- und Funkmusiker Jan Delay trat
jüngst mit bemerkenswerten Ansichten an die
Öffentlichkeit. Der Welt am Sonntag gegenüber
erklärte er, Für mich ist es völlig cool, links zu
sein und mir eine Brille von Louis Vuitton zu
kaufen. Und fügte hinzu, bei einigen seiner
Kollegen das richtige Modebewusstsein zu vermissen.
Es gibt Musiker, die legen so viel Wert
auf durchdachte Musik und Texte, dass sie
dabei ihr Outfit vernachlässigen. Ich weiß
nicht, wen er meint, aber vorsichtshalber seien
Künstler wie Konstantin Wecker und Wenzel
schon einmal gefragt, wer denn ihre Garderobe
zusammenstellt. Nun, zu Delays Ehrenrettung
muss ergänzt werden, dass es seiner Ansicht
nach auch Musiker gibt, die vor lauter Outfit
Musik und Texte vernachlässigen. Wie auch
immer, der Folker verdankt Delay eine interessante
Anregung für eine neue Rubrik: Der
bestangezogenste Musiker des Monats mit
oder ohne politischen Anspruch.
Das bringt mich zu einem weiteren Apropos.
Ich widerspreche ihm ja nur ungern, aber was
Siegfried Schmidt-Joos im aufwendigen Hochglanzprospekt
für Klaus Hofmanns aktuelle
CD Berliner Sonntag geschrieben hat, bedarf
meiner Widerrede. Schmidt-Joos verweist auf
Liedermacher, die mit Hofmann begonnen
hätten, jedoch mit ihrer politisch-sozialkritischen
Metaphorik aus der Zeit gefallen und
dass Protestsongs und globale Krisen unproportional
zueinander geworden seien. Während Hofmann
zeitlos über die Schnipsel,
ein Bonbonpapier, den Geruch, den Flur, den
Rost, die Treppen und die Türen dichte. Es
sind immer nur die Kleinigkeiten, singt er im
Lied Meine Zeit, die sagen, wie es war und
wie es ist. Bei allem gebotenen Respekt, lieber
Siegfried, das mag ja sein. Doch Liedermacher,
die mit ihrer Musik gegen globale Krisen
ansingen, sind keinesfalls aus der Zeit gefallen.
Wir brauchen sie mehr denn je!
Vor diesem Hintergrund zeigt das erste Heft
des neuen Folker-Jahrgangs nachdrücklich,
dass diese Zeitschrift auch 2013 ihrem redaktionellen
Grundsatz treu bleiben wird.
Wir wollen abseits von modischen Trends über
musikalische Entwicklungen und ihren Stellen
wert in gesamtgesellschaflichen Zusammenhängen
berichten. Gleichgültig, ob es wie bei
unserer Titelgeschichte um Grundsatzfragen
wie der nach Sinn oder Unsinn eines Begriffs
wie Weltmusik geht oder um Rupa Marya,
eine engagierte singende Ärztin aus Kalifornien.
Ich bin sicher, Sie werden wie immer sowohl
Unterhaltsames als auch Informatives bei der
Lektüre dieser Ausgabe des Folker finden.
Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff
PS: Die US-Amerikaner haben der Welt einen
Gefallen getan und Präsident Obama wiederge
wählt. Ob dies dazu führt, dass er in seiner zweiten
Amtszeit mutiger wird, was übertragen auf
deutsche Verhältnisse bedeutet, selbst konservative
sozialdemokratische Politik zu verfolgen, darf
bezweifelt werden. Zumal es um die Occupy-Bewegung
nach der Räumung der Zeltlager und dem
Abklingen der brutalen Polizeieinsätze spätestens
mit der Wiederwahl von Obama ruhig geworden
ist. Darüber konnten auch die überall in den
ganzen USA zum Jahrestag im vergangenen September
durchgeführten Veranstaltungen nur
wenig ändern. Mike Matejka und Bucky Halker
fragten schon in Heft 1/2012 in ihrem Gastspiel,
wie es um den Soundtrack der neuen Protestbewegung
bestellt sei. Eine Antwort gibt das 4-CD-Box
set Occupy This Album, für das Musiker aus allen
möglichen Genres von Folk und Rock bis Hip
Hop und Pop entweder bereits veröffentlichte
Titel zur Verfügung gestellt oder neue Songs
eigens für das Projekt eingespielt haben. Zu den
beteiligten Künstlern gehören u. a. Jackson Browne,
Willie Nelson, Patti Smith, Lucinda Williams,
Garland Jeffeys, Steve Earle, Debbie Harry, David
Crosby und Graham Nash sowie Pete Seeger und
Joan Baez. Und wie ist es da um den Soundtrack
der politischen Bewegung in unserem Land
bestellt soweit von einer solchen überhaupt
gesprochen werden kann? Dieser Frage wird der
Folker in einer Schwerpunktausgabe zum Thema
Musik und Politik zur Bundestagswahl im September
dieses Jahres nachgehen.
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FOLKER auf Papier
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