FOLKER – Rezensionen

Rezensionen NORDAMERIKA


CAROLINA CHOCOLATE DROPS
Leaving Eden

(Nonesuch Records 7559-79627-1, go! www.carolinachocolatedrops.com )
15 Tracks, 45:11, mit engl. Infos

Die Musik wirkt wie aus fernen Epochen hergeholt, und dennoch der Zeit voraus. Dazu diese Fotos – sie scheinen aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu stammen. Rhiannon Giddens (voc, v), Dom Flemons (g) und Hubby Jenkins (mand) könnten schon in den Vierzigern verstorben sein. Wahrscheinlich handelt es sich um alterslose 140-Jährige, denen der Tod nichts anhaben kann, weil sie ihre Musik als etwas aus der Zeit Gelöstes gestalten. Der Süden der USA scheint auf, schwarze Arbeiter auf den Feldern, ihr Leiden, ihre Freuden. Der Einstieg „Riro’s House“ startet mit wüsten Trommelschlägen, dazu kommt eine Orgie aus Fiddle und Banjo, es folgt ein enigmatisches Instrumental namens „Kerr’s Negro Jig“, abgelöst durch „Ruby, Are You Mad At Your Man?“, ursprünglich ein Stück des Banjospielers Cousin Emmy aus Kentucky, hier im Hochtempo, mit einem Gesang zwischen Heulen und bluesgetränkter Wut. Immer wieder zeigt sich, was für eine erstklassige Sängerin Rhiannon Giddens ist, ob Soul, ob Jazzballade. Banjos, Geigen und Mandolinen laden ein zu aus der Tradition gewecktem, archaischem Erleben zwischen Ekstase und Depression. Im Sound von Hightech-Feldaufnahmen. Rätselhaft packend.

Volker Dick

 

CAROLINA CHOCOLATE DROPS – Leaving Eden


BOB DYLAN
Tempest

(Columbia/Sony Music, go! www.bobdylan.com )
Promo-Download, 10 Tracks, 68:26

„Aber laufen kann er ja“, sagt Kiki zu seinem Auftritt im reichlich banalen Video zur ersten Singleauskopplung des Albums, „Duquesne Whistle“. Immerhin – wenn auch sehr viel weniger als das, wozu Bob Dylan lange fähig war und wofür er folglich heute noch steht. Mit Tempest wäre er der mythische Supermann des Autorenrock nicht geworden, als der er heute selbst mit derart läppischen Veröffentlichungen noch überall Elogen und Oden und Hymnen im Dutzend billiger erntet – so viel ist sicher. Mögen sie in ihrem nostalgischen Old-Timey-Gewand von Walzer bis Muddy Waters insgesamt auch gefällig durchrauschen, so sind die zehn Songs seines 35. Albums doch lediglich Geplätscher und Geschnatter. Keine Bridge, ein Refrain. Der einst so ausdrucksstarke und dringliche Gesang nur mehr ein kraftloses, nuancenarmes Krächzen. Ellenlange Texte, die ständig von den ganz großen Dingen plaudern, Mord und Totschlag und Konsorten. Doch nicht einmal vor einem knapp vierzehnminütigen „Titanic“-Epos zurückschrecken. Ein verdienter alter Mann, der noch ein paar entspannte Runden dreht. Es gibt Schlimmeres, aber ein „Sturm“ ist etwas anderes. Selbst im Wasserglas – wenn mal kurz der richtige Maßstab erlaubt ist.

Christian Beck

 

BOB DYLAN – Tempest


TIM GRIMM
Wilderness Songs And Bad Man Ballads

(Vault Records 011, go! www.timgrimm.com )
10 Tracks, 35:16

Thank You Tom Paxton

(Vault Records Vault 010, go! www.timgrimm.com )
12 Tracks, 48:04

Schauspieler Tim Grimm erweist sich mit seinen Alben Nummer neun und zehn erneut nicht nur als vollformatiger Texter und Komponist, sondern auch als großartiger Sänger. Gelegentlich „bosselt“ er auf Wilderness Songs And Bad Man Ballads ein wenig, weswegen etwa „Salt And Bullets“ inhaltlich und stimmlich an den Bruce Springsteen der Nebraska-Ära erinnert. „Zenas Carter“ hingegen ist eine sehr deutliche Verbeugung vor Woody Guthrie, sowohl was die Gesangstechnik als auch was das typische Gitarrenpicking betrifft. Dabei hat Grimm es nicht nötig zu imitieren, und zum Glück bleibt für den Rest der Songs genügend Eigenständigkeit. Die auf Geschichten des Autors Scott Russel Sanders basierenden Lieder von Wilderness Songs And Bad Man Ballads sind mit einer Mixtur aus Country, Folk und akustischem Rock unterlegt, Americana im besten Sinne, von erdig-ruppig bis textdienlich spärlich arrangiert. Mal klagt zum gekonnten Fingerpicking eine melancholische Bluesharp, mal heulen Country-Fiddles oder eine Bluegrass-Lapsteel-Gitarre, während gelegentlich ein 5-String-Banjo tackert. Immer auf den Punkt, nie überarrangiert und äußerst geschmackvoll. Einige der exzellenten Studiomusiker von Wilderness Songs And Bad Man Ballads verpflichtete Grimm auch für seine Tom-Paxton-Hommage, auf dem er zwölf Songs des großartigen New Yorker Liedermachers zelebriert und dabei dankenswerterweise eher auf unbekannteres Material zurückgreift, das zeitgemäß arrangiert hinreißend interpretiert wird.

Ulrich Joosten

 

TIM GRIMM – Wilderness Songs And Bad Man Ballads

TIM GRIMM – Thank You Tom Paxton


RICHIE LAWRENCE
Water

(Big Book Records BBR 18, go! www.richielawrence.com )
Promo-CD, 13 Tracks, 45:06

In dieser Mischung haben wir Americana selten gehört – schon Richie Lawrence’ Stimme klingt eher nach den sanft-eleganten Revuesängern der Schellackplattenzeit und ist damit eher untypisch für das Genre. Er zieht die Vokale recht lang, singt sehr feinsinnig, und tatsächlich hat er auf Water auch einige Westernswing-, Ragtime- und Cabaret-Titel dabei, bei denen das wunderbar passt. Höhepunkt ist dabei das witzige mit den Worten spielende „Pirate Kitty“. Aber Richie Lawrence verfügt über eine größere Bandbreite: Cool nach J. J. Cales Art startet das Album, dann folgt eine sehnsüchtige Countryballade, die von einem Alt.-Country-Musiker stammen könnte; dass sie sehr nach amerikanischer Weite klingt, liegt auch an Lawrence’ ruhigem Pianospiel. Aber er kann auch das Akkordeon auspacken und es geht in unterschiedlichen Tempi in Richtung Zydeco und Cajun. Plötzlich taucht ein Reggaerhythmus auf, der aber von Banjo und Akkordeon bestimmt wird – man sieht seine Band The Yolos förmlich mit den Augen rollen. Schließlich noch ein Blues, und auch in besinnlichen Balladen überzeugt Richie Lawrence. Und verbindet das breite Repertoire mit seiner ungewöhnlichen Gesangsweise geschickt zu einer Einheit.

Hans-Jürgen Lenhart

 

RICHIE LAWRENCE – Water


PUNCH BROTHERS
Who’s Feeling Young Now?

(Nonesuch Records 7559-79627-7/Warner Music, go! www.punchbrothers.com )
12 Tracks, 49:54, mit engl. Texten

Das Nachfolgewerk zum für den Grammy nominierten Vorgänger Antifogmatic von 2010 bringt erneut nicht ausschließlich Bluegrass-Herzen in Wallung. Die Punch Brothers verstehen es bestens, in einer musikalisch globalisierten 2.0-Welt ihre Stringbandwurzeln mit Anleihen aus vielfältigsten, eigentlich genrefremden Einflüssen zu koppeln und lassen ganz schmerzlos Rap, Jazz und klassische Elemente in ihr Gerüst aus Mandolinen, Geige, Banjo und Gitarren einfließen. Wenn dann noch die rundum poptaugliche Stimme Chris Thiles durch die Lautsprecher tönt, entstehen radioverträgliche und sogar tanzbar-gefällige Songs, die durch den enormen technischen Anspruch jedoch stets kultiviert und originell bleiben. Die Instrumentalstücke zwischen den Gesangsnummern beweisen das Talent einiger Ausnahmemusiker, die es verstehen, Traditionalisten ihres Faches die sprichwörtliche lange Nase zu zeigen, ohne ihre Herkunft verleugnen zu wollen. Diese Virtuosität und Innovationsfreude hätte sicherlich auch Bluegrassvater Bill Monroe entzückt, der seinerzeit ebenso wagemutig neue Wege beschritt.

Judith Wiemers

 

PUNCH BROTHERS – Who’s Feeling Young Now?


SEAN ROWE
The Salesman And The Shark

(Anti- 7183-2a/Indigo, go! www.seanrowe.net )
Promo-CD, 12 Tracks, 49:20

Sean Rowe mag die moderne Welt nicht. Immer wieder zieht er sich über Wochen in den Wald zurück, um dort ein Leben jenseits der Zivilisation zu leben, ein Jahr Hawk Circle Wilderness Education mit abschließender 24-Stunden-Überlebensprüfung 2006 inklusive. Von solchen Selbsterfahrungstrips zehrt seine Musik. Der Blues, der laut Rowe etwas Magisches hat, bildet die Grundlage seiner Songs. Dazu gesellen sich Einflüsse aus Country und Folk, neben die sich Spuren der Popmusik der Sechzigerjahre einschleichen. Auf The Salesman And The Shark stehen Balladen, auf der akustischen Gitarre gespielt, im Vordergrund. In ihnen skizziert Rowe in erdigen Farben seine Weltsicht, ohne ganz auf die lichten und luftigen Seiten des Lebens zu verzichten. Um diese zur Geltung zu bringen arbeitet er mit recht komplexen Arrangements, bei denen häufig Geigen die Federführung übernehmen, aber auch Bass und Schlagzeug mischen sich manchmal im Hintergrund ein. Dadurch bekommt seine Musik einen Anflug von Weichheit, doch seine windgegerbte Außenseiterstimme wird dafür sorgen, dass der Radiotauglichkeit von Rowes Musik enge Grenzen gesetzt bleiben und sie ihre Ursprünglichkeit behält.

Michael Freerix

 

SEAN ROWE – The Salesman And The Shark


THE SOULJAZZ ORCHESTRA
Solidarity

(Strut STRUT086CD/!K7/Alive, go! souljazzorchestra.com )
Promo-CD, 10 Tracks, 42:58

Sie klingen wie eine gut abgehangene Bigband eines panafrikanisch-tropikalischen Fantasielandes des letzten Jahrhunderts. Dabei sind die sechs jungen Musiker in Ottawa zu Hause und offenbar diversen älteren Soul-, Funk-, Afrobeat- und Latinkulturen mit Haut und Haaren verfallen. Dieser Liebe frönen sie seit nun zehn Jahren und vier Alben, von denen zwei beim für ihre Klänge idealen Strut-Label erschienen. Versammelte der Vorgänger Rising Sun noch lauter gut tanzbare, akustische Instrumentalstücke, haben die Souljazzer nun wieder elektrifizierter musiziert und aufgenommen, teils mit skurrilem Retro-Instrumentarium, und in Zusammenarbeit mit Musikerfreunden aus dem multikulturellen Kanada auch etliche Vokalstücke geschaffen. In Englisch, Portugiesisch, Spanisch, sogar Wolof und Patois geht es quer durch Afrobeat und Reggae, entspanntere Soul-Funk-Nummern, nach Brasilien und in Latin-Gefilde, um schließlich mit dem Rausschmeißer dieser verheißungsvollen Partyscheibe eine lässige Afroballade zu servieren, die auch das legendäre Orchestra Baobab in seinen frühesten Zeiten nicht eleganter hätte spielen können. Es klingt wie aus der Zeit gefallen, angenehm unhip und dabei doch taufrisch.

Katrin Wilke

 

THE SOULJAZZ ORCHESTRA – Solidarity

Update vom
09.02.2023
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