FOLKER – Rezensionen

Besondere CDs


DIE BESONDERE – AFRIKA

DIVERSE
From The Kasbah / Tunis To Tahrir Square / Cairo And Back –
„Our Dreams Are Our Weapons“ / „Nos Rêves Sont Nos Armes“

(Network CD 495135/Zweitausendeins, go! www.networkmedien.de )
14 Tracks, 66:08, mit 28-seitiger Textbeilage in Dt., Franz. und Engl.

Benghazi Februar 2011

„Wir rissen alle Barrieren runter, unsere Waffen waren unsere Träume“ – die Zeile aus „Sawt El Hourreya“ von Hany Adel und Amir Eid ist die Essenz dieser musikalischen Beiträge zu den Umbrüchen in Tunesien und Ägypten. Jahrzehnte lang setzte ein explosives Gemisch aus Ausnahmezustand, Korruption und Armut die Bevölkerung so lange unter Druck, bis sich die Empörung Bahn brach. Aufbegehren und Musik sind eng miteinander verwoben, viele Musikstücke sind Reflex und Treibstoff der Umstürze zugleich. Manche Ad-hoc-Lieder prägten die Demonstrationen, deren Klang sich wiederum collagenhaft in eine Komposition einfügt. In der vorbildlichen Textbeilage wird auch das Verhältnis der beteiligten Musikerinnen und Musiker zum Umbruch deutlich. Die tunesische Sängerin Alia Sellami schreibt: „Wir fanden uns nackt, mit uns selbst konfrontiert, mit unseren Ängsten, unseren Fähigkeiten, unseren Widersprüchen. Eine ganze Nation schien sich selbst neu zu entdecken.“ Übersetzungen einiger Texte lassen uns mit den Stimmen und Worten der engagierten Künstler an den Entwicklungen teilhaben, die Musik zeigt darüber hinaus die Vielschichtigkeit der Szene: Rap, Synthie- und Italo-Pop, Agitprophymnen mit situativem Pathos, der nur von geblasenen Flaschen begleitete Gesang Alia Sellamis, der ägyptische Popstar Mohamed Mounir und die Exponenten des modernen orientalischen Instrumentalspiels, das tunesische Duo Amine und Hamza (siehe „Rezensionen“ Folker 3/2011) sowie das ägyptische Duo Joseph und James Tawadros (siehe „Rezensionen“ Folker 1/2011). In noch unsicherer Lage strahlt Our Dreams … eine intensive Hoffnungsfreude aus, auf dass noch mehr Kreativität freigesetzt werde für ähnliche Produktionen in der arabischen Welt. Nebenbei macht dieses hochaktuelle Album bewusst, wie unverzichtbar Tonträger dieser Art sind – eine derart kompakte Zusammenstellung in Musik und Wort, fast ausschließlich aus Erstveröffentlichungen bestehend, lässt sich nicht auf die Schnelle im Internet zusammentragen. Und der Preis von knapp zehn Euro sollte das Medium CD zusätzlich attraktiv halten.

Birger Gesthuisen

 

DIVERSE – From The Kasbah/Tunis To Tahrir Square/Cairo And Back


DIE BESONDERE – AFRIKA

SEUN KUTI & EGYPT 80
From Africa With Fury: Rise

(Because Music BEC5772820/Al!ve, go! www.myspace.com/seunkuti )
Promo-CD, 7 Tracks, 46:26; Vinylausgabe plus Bonustrack „Giant Of Africa“

Seun Kuti and Egpyt 80

Fela-Kuti-Spross Seun hat sein zweites Album wieder mit Papas alter Band aufgenommen, wurde diesmal aber von Brian Eno – sowie John Reynolds und Seun Kuti selbst – produziert. Wer jetzt einen mauscheligen Ambient-Afrobeat-Brei befürchtet und sich entsprechend erschreckt wegduckt, kann getrost wieder auftauchen: Die elektronischen Elemente wurden sparsam eingesetzt und geschickt montiert, Rise klingt nicht weicher, sondern sogar kantiger, spitzer und aggressiver als man von Seun Kuti gewohnt ist. Und die zuletzt immer anachronistischer wirkende traditionelle Protesthaltung in den Texten, die Kuti auch hier wieder einnimmt („Our ear don’t fool for your words, our stomach still empty“), findet in den messerscharfen Bläsersätzen und den Staccatoriffs auf der Gitarre nun eine adäquate musikalische Entsprechung, die eigentlich einen neuen Stilbegriff erfordert: „Afropunk“ etwa. Eine Musik, die auch deshalb höchst zeitgemäß klingt, weil sie die passende Begleitmusik für die Umstürze im Norden des Kontinents abgeben könnte. Nach dem Fela!-Musical und all den traditionell klingenden Alben von Tony Allen, den Kuti-Söhnen, anderen alten Weggefährten und emsigen Epigonen bringt dieses Album die Afrobeatkarre wieder auf neuen Wegen ins Rollen. Das passt zu dieser Musik, die unter anderem von zappeligen Polyrhythmen geprägt ist, eindeutig besser als Stillstand. Den stärksten Eindruck hinterlässt „Rise“, das langsamste Stück des Albums, aus dem die oben zitierte Zeile stammt, Afrobeat in Zeitlupe, eher pluckernd als peitschend und dennoch von schneidender Intensität. „I cry for Africa when I see it in the hands of these people“, intoniert Kuti und spielt im nächsten Moment ein bravouröses Saxofonsolo. Das ist klanglich und inhaltlich sehr nah am Vater, aber die Gesamtwirkung unterscheidet sich von dessen endlosen improvisierten Grooves doch deutlich. So kann der 1997 verstorbene Fela seelenruhig und zufrieden in seinem Grab liegen – und muss an Umdrehen nicht einmal denken.

Gunnar Geller

 

SEUN KUTI & EGYPT 80 – From Africa With Fury: Rise


DIE BESONDERE – EUROPA

DIVERSE
Davy Steele – The Show

(Greentrax Recordings CDTRAX358/Fenn Music Service FMS, go! davysteele.com )
16 Tracks, 71:06, mit engl. Infos

Schon zehn Jahre ist es her, dass einer der talentiertesten Musiker und nettesten Menschen Schottlands mit Anfang fünfzig an Krebs starb: Davy Steele. Bei uns war er hauptsächlich als Seele und Fokus des Scottish Folk Festivals bekannt. Seine Karriere umfasste Bands wie Drinker’s Drouth, Ceolbeg, Clan Alba, Urbn Ri, Caledon und die Battlefield Band. Er war alles andere als ein Vielschreiber, 37 Songs wurden es insgesamt nur – 16 davon werden hier nun wiederbelebt. Davy Steele – The Show wurde im November und Dezember 2010 im Studio von Ian McCalman aufgenommen und im Januar 2011 bei den Celtic Connections live aufgeführt. Steeles Frau Patsy Seddon lud einige seiner Lieblingskünstler ein, die gewiss nicht zufällig zur Creme der – meist – schottischen Szene zählen, seine Songs zu interpretieren. Namen wie Andy M. Stewart, Dick Gaughan, Karine Polwart, Ian McCalman, aber auch Kate Rusby oder Sally Barker haben eine guten Klang, und so wurde The Show ein bewegendes Album mit einigen emotionalen Höhepunkten: Dick Gaughan singt mit viel Gefühl „The Last Trip Home“, Kathy Stewart schmettert ein emphatisches „Friends“, Karine Polwart interpretiert mitreißend „Heave Ya Ho“. Wie es sich gehört, endet das Album mit besonders, nahezu unendlich viel Gefühl: Sein Sohn Jamie singt mit Sally Barker, Andy Stewart, Patsy Seddon und Siobhan Miller Davys letztes Lied „Just One More Chorus“, bevor der Mann selber in seiner unnachahmlichen Art und markanten Stimme noch einmal via Einspielung das Lied für sein Frau zelebriert: „Long Hellos & Short Goodbyes“. Musik für den berühmten Kloß im Hals. Im Falle von Davy Steele stimmt es: Die Besten sterben zu jung! Mit The Show und dem dazugehörigen Album haben seine Freunde und Kollegen Steele zumindest das akustische Denkmal gesetzt, das ihm gebührt. Lieder leben länger – Gott sei Dank!

Mike Kamp

 

DIVERSE – Davy Steele – The Show


DIE BESONDERE – EUROPA

FIOLMINISTERIET
Fiolministeriet

(Go’ Danish Folk MusicGO0511 go! www.fiolministeriet.dk )
12 Tracks, 39:00, Info dän. u. engl.

Fiolministeriet

Ditte Fromseier (Geige, Viola, Gesang) und Kirstine Sand (Geige) sind Absolventinnen der Folkmusiklinie an der dänischen Carl-Nielsen-Akademie und haben außerdem in Irland beziehungsweise Schottland studiert. Kirstine Pedersen, Cello, hat in diesem Jahr ihren Klassik-Master in Zürich und Odense gemacht. Alle drei spielen auch in anderen Gruppen wie Habbadam, Helene Blum Kvartet, Færd und Harald Haugaard Band und sind begabte Musikpädagoginnen. 2009 waren sie Dozentinnen beim Scheersberg-Folktreffen in Schleswig-Holstein und traten abends auch zusammen vor einem hingerissenen Publikum auf, überwiegend Kollegen. Das ließ einiges erwarten. Bei Folk Baltica 2011 stellten sie nun ihr Debütalbum vor und spielten zur Veröffentlichungsparty vier Stücke daraus ohne irgendwelche Verstärker. Wer das gehört hat, ist noch begeisterter von ihrer Musik. Spieltechnik und Abstimmung untereinander sind kaum zu verbessern, die außergewöhnliche Dynamik zieht den Zuhörer total in den Bann. Ihr Klang, der mit dem eines Klassiktrios durchaus vergleichbar ist, wurde von Sigurd Hockings und Søren Brylle perfekt auf Tonträger übertragen. Das Material sind traditionelle Melodien in eigener Bearbeitung, etwa aus den Notensammlungen von Rasmus Storm, Rewentlow, Rimmen/Jensen und Carl Nielsen, ein klassisches Menuett von der Insel Ærø, das Fiddleset von Seaquins, ihrem unvergessenen 12-Musikerinnen-Projekt beim Tønder-Festival 2008, zwei eigene Kompositionen und zwei Lieder, berührend gesungen von Ditte Fromseier. Den Abschluss macht eine etwas gruselige Katzengeschichte. Liebe Katzenfreunde, die Saiten der Streichinstrumente sind zwar aus catgut (Naturdarm), aber nicht wirklich aus Katzendärmen. Es ist die Emotionalität, aber auch die Verbindung von Klassik und Folk, die bei Fiolministeriet in besonderem Maße gelungen ist. Das könnte auch für klassisch ausgebildete junge Musiker ein Anreiz sein, es einmal mit der Folkmusik und dem Spielen nach Gehör zu versuchen.

Bernd Künzer

 

FIOLMINISTERIET – Fiolministeriet


DIE BESONDERE – LATEINAMERIKA

OMARA PORTUONDO & CHUCHO VALDÉS
Omara & Chucho

(World Village WV 479063/Harmonia Mundi, go! www.worldvillagemusic.com )
Promo-CD, 13 Tracks, 55:12

Chucho Valdés und Omara Portuondo

Zwei Galionsfiguren der Populärmusik Kubas haben sich erneut für eine Aufnahme zusammengetan. In ihrer Geburtsstadt Havanna laufen sie sich sicher öfter über den Weg, sind aber kraft voller Agenda offenbar nicht leicht gemeinsam ins Studio zu bekommen. Nach wie vor viel beschäftigt ist die achtzigjährige Quotenfrau des Buena Vista Social Club und einstige „La Novia del Feeling“ (span. „Braut des Feelings“), jener wichtigen, Jazz und Bolero einenden Erneuerungsbewegung im Havanna der Vierziger bis Sechziger. 1997 nahm die Charaktersängerin mit der ausdrucksstarken, „immergrünen“ Stimme mit ihrem elf Jahre jüngeren Musikerfreund, einer Art Guru in der großen Zunft hervorragender kubanischer Pianisten, für das Madrider Pionierlabel Nubenegra ein wunderschönes Duoalbum auf. Das wie auch das neue enthält den populären Bolero „Si Te Contara“. In der aktuellen, deutlich fantasie- und kunstvolleren, dabei nicht schnörkeligen Version blinzelt Chucho Valdés mit seinem facettenreichen, eleganten Spiel Richtung Gato Barbieris Filmmusik zum Last Tango in Paris und gen Klassik. An anderen Stellen schlägt der wie alle kubanischen Musiker zitierfreudige Virtuose Brücken zu Beethoven, Rachmaninow oder Gershwin. Noch gereifter und sublimer als früher schon klingen Omara & Chucho in ihrem atmosphärisch vielseitigen, mehrheitlich Boleros versammelnden Repertoire. Jazzig flott wird es in „Me Acostumbré A Estar Sin Ti“, einer würdevoll-gelassenen Rückschau auf eine verflossene Liebe. Immer noch neue Reize werden Ernesto Lecuonas unverwüstlichem, vielfach interpretierten „Babalú Ayé“ entlockt. Der US-Amerikaner Wynton Marsalis nutzte seine kürzliche Havanna-Visite offenbar, um sein Trompetenspiel zu „Esta Tarde Vi Llover“ beizusteuern. Der Jazzer und die einmal leise mitsingende kleine Enkelin Portuondos sind die einzigen „Zaungäste“ dieses innigen, ja intimen musikalischen Tête-à-tête. Eines, dem man sich als Zuhörer auf Zehenspitzen nähert. Um dann nur noch zu genießen – lächelnd, lachend oder weinend.

Katrin Wilke

 

OMARA PORTUONDO and CHUCHO VALDÉS – Omara and Chucho

Update vom
09.02.2023
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