FOLKER – Rezensionen

Rezensionen EUROPA


ALMRAUSCH TERZETT
Aus voller Brust

(Volkskultur Niederösterreich HeiVo 89, www.briga.at/links/almrausch_terzett.html)
18 Tracks, 51:01, mit dt. Texten und Infos

Drei Frauen aus Niederösterreich, die sich selbst mit Gitarre, Drehleier und Zither begleiten, singen sich durch ein Repertoire von Volksliedern vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert oder noch älter. Ihr Anspruch ist, dies „jenseits von Süßlichkeit und verkrampftem Bemühen um historische Richtigkeit“ zu tun, ihr Erfolg bei zahlreichen Festen bestätige sie darin. Die Urteile in Fragen der „Süßlichkeit“ und der „historischen Richtigkeit“ mögen relativ und möglicherweise so nur in Österreich von Fachleuten zu beantworten sein – allein, wer das Trio hört, kann sich über die Titelauswahl ob dieser Vorankündigung nur wundern: Zu christlichen Erbauungsliedern, Liebesliedern und Jodlern kommen Lieder, die eigentlich ursprünglich derb erotisch oder obrigkeitskritisch gemeint waren, diesen Gehalt aber längst verloren haben und ihn auch durch eine Neuinterpretation, die wie im vorliegenden Falle auf jede Form der ironischen Brechung oder der Aktualisierung verzichtet, nicht wieder erlangt. Es ist halt „koa Schrot in der Büx“ („Die drei Jagersbuam“) mehr, wenn man nicht nachzuladen versteht.

Harald Justin

 

ALMRAUSCH TERZETT – Aus voller Brust


AUDIOFOLK
Sagghie ’U Mare

(Eigenverlag, go! www.audiofolk.it )
14 Tracks, 72:51, mit Texten

Gruppen wie Audiofolk sind in Italien vom Aussterben bedroht. Nicht zu Unrecht trägt das Septett den Begriff „Folk“ im Gruppennamen. Das ist keine Welt- und keine Ethnomusik, viel eher Folk, wie er vor zwei Jahrzehnten aktuell war. Die Musik von Audiofolk lässt sich kaum regional zuordnen. Man spürt den Süden, das Meer. Da ist die Tarantella, aber auch der Einfluss der cantautori, der Liedermacher, herauszuhören. Alle Stücke des Albums sind Eigenkompositionen, die sich an die süditalienische Musiktradition anlehnen. Mit verschiedenen Saiteninstrumenten, Bass, Akkordeon, Geige, Querflöte und Percussion schaffen Audiofolk einen vollen, aber nie überladenen Gesamtklang. Stark sind die sich hervorragend ergänzenden Frauen- und Männerstimmen. Manche der Stücke besitzen Ohrwurmqualitäten und rufen nach Ferien am Mittelmeer. Eines davon, „Adriatico“, singt das Hohe Lied auf die Sarazenen, Türken, Griechen und Albaner, die sich im Laufe der Jahrhunderte im Süden Italiens niedergelassen hatten. Damit sprechen Audiofolk den aktuellen Pizzicca-Pizzicca-Bands aus Salento aus dem Herzen.

Martin Steiner

 

AUDIOFOLK – Sagghie ’U Mare


HELENE BLUM
Liden Sol

(Pile House Records PHR0410, go! www.heleneblum.dk )
10 Tracks, 31:09

Der „kleinen Sonne“, als Umschreibung für die Wintersonne und den Winter, ist dieses zweite Soloalbum der dänischen Sängerin und Geigerin Helene Blum gewidmet. Die Musikerin fühlt sich dem dänischen Liederschatz eng verbunden: „Es ist ein wundervoller Spiegel unserer Sprache, der Zeit in der wir leben, unserer Wurzeln und der Natur, die uns umgibt … eine ewige Quelle der Inspiration“, wie sie es ausdrückt. Das heißt aber auch, dass sie nicht nur traditionelle Lieder ausgewählt hat, sondern auch zeitgenössische wie „Durch Mark und Bein“ und die beiden, zu denen sie die Musik geschrieben hat, wie „Dezembernacht“ mit Flügelhornbegleitung von Torben Sminge. Ein eingängiger Song, der größere Verbreitung finden könnte. Die übrigen Begleiter, mit denen sie auch auf Tournee geht, sind ihr Ehemann und Mitproduzent Harald Haugaard (v/mand), die junge Cellistin Kirstine Pedersen, Rasmus Zeeberg (g/mand), Sune Hansbæk (g), Tapani Varis (b) und Sune Rahbek (perc). Aber über aller ausgefeilten Begleitung schwebt die helle Stimme von Dänemarks Folkengel, wie manche sie nennen. Zum Abschluss ein schnelles Lied mit atemraubender Mandolinenbegleitung.

Bernd Künzer

 

HELENE BLUM – Liden Sol


COOPE BOYES & SIMPSON
As If …

(No Masters NMCD35, go! www.coopeboyesandsimpson.co.uk )
12 Tracks, 47:12, mit engl. Texten u. Infos

Lange hat es gedauert, bis sich eine der profiliertesten A-capella-Gruppen der britischen Inseln mal wieder für ein Album zusammenfand, acht Jahre um genau zu sein. Es hat sich gelohnt, ganz ohne Frage. Coope Boyes & Simpson sind drei Sänger, denen man den Enthusiasmus und die Überzeugung an den kräftigen, perfekt harmonierenden Stimmen anhört. Die Lieder stammen von Künstlern wie Michael Marra oder Richard Thompson, gerne auch von Amerikanern wie Jean Ritchie oder Happy Traum oder – wie fünfmal der Fall – aus eigener Feder. Besonders erfreulich ist, dass die drei Herren bei aller Begeisterung über Harmonien nie vergessen, dass es auf unserem Planeten auch genügend Dissonanzen gibt; diese Tatsache spiegelt das Repertoire nachhaltig wieder. Favorit des Rezensenten textlich ebenso wie von der Musik her: „Spring 1919“ – die Zeit heilt alle Wunden, aber oft eben nur sehr, sehr langsam. Songs auf höchstem Niveau!

Mike Kamp

 

COOPE BOYES & SIMPSON – As If …


ROYAL SCOTTISH ACADEMY OF MUSIC AND DRAMA
The Future Of Our Past – Scottish Music At The RSAMD 2010

(Greentrax Recordings CDTRAX357, go! www.greentrax.com )
15 Tracks, 62:50

JEANA LESLIE & SIOBHAN MILLER
Shadows Tall

(Greentrax Recordings CDTRAX352, go! www.jeanaleslie-siobhanmiller.co.uk )
11 Tracks, 44:28, mit engl. Texten u. Infos

So bewahrt und entwickelt man traditionelle Musik – etwas, was es vergleichbar hier in Deutschland noch nicht einmal ansatzweise gibt! 49 Studentinnen und Studenten aus vier Studienjahrgängen der Royal Scottish Academy of Music & Drama zeigen entsprechend dem tiefsinnigen Titel, wie Schottlands Altes frisch und zeitgemäß bleibt. Koproduzenten Phil Cunningham – mittlerweile Prof! – und Findlay Napier leiten die Songs und Tunes zurückhaltend, wobei so gut wie jedes schottische Folkinstrument zum Einsatz kommt. So viel Talent! Absolventinnen der Academy sind Jeana Leslie & Siobhan Miller, die mit Shadows Tall unterdessen ihr zweites Album vorlegen. Songorientiert ist das Werk, bei zwei solch attraktiven Stimmen nachvollziehbar. Nur zwei Instrumentals bei instrumentellen Könnern (Fiddle, Piano, Hardanger) sprechen für eine bewusste Entscheidung. Wunderbares Duoalbum, wobei das Antikriegslied „The King’s Shilling“ unter ausnahmslos schönen Tracks herausragt. Warum allerdings in den kurzen Bios schamhaft verschwiegen wird, dass Leslie seit letztem Jahr Teil der deutsch-schottisch-irischen Combo Cara ist, bleibt ein wenig unverständlich.

Mike Kamp

 

ROYAL SCOTTISH ACADEMY OF MUSIC AND DRAMA – The Future Of Our Past

JEANA LESLIE & SIOBHAN MILLER – Shadows Tall


ENSEMBLE MARÂGHÎ
Anwar

(Felmay fy 8172/Pool Music & Media Service, www.myspace.com/maraghi)
12 Tracks, 46:58, mit engl. Textbeilage

Das Ensemble Marâghî benannte sich nach dem berühmten Musiker und Komponisten Abd ul-Qâdir ibn Ghaybi Marâghî, der um 1400 im Kulturraum Seidenstraße wirkte. Die musikalische Reise vollzieht sich zwischen Herat (Afghanistan), Bagdad und Samarkand und reicht bis nach Konstantinopel, wo Marâghîs Kompositionen die osmanische Musik nachhaltig beeinflussten. Das Ensemble Marâghî ist in Venedig zu Hause, wo der osmanische Hof Jahrhunderte lang eine Karawanserei unterhielt. Neyspieler Giovanni De Zorzi erinnert in seinen feinen Verzierungen an seinen Lehrmeister Kudsi Ergüner. Hinzu kommen eine recht bieder gespielte Kurzhalslaute Ud und eine gute orientalische Percussion. Im eigentlichen Zentrum steht jedoch die iranische Sängerin Sepideh Raissadat, die heute auf vielen Bühnen außerhalb des Irans gastiert, anstatt sich in ihrer alten Heimat als Sängerin in die Privatsphäre verbannen zu lassen. Sie singt in mehreren Ensembles und veredelt hier auch das italienische Trio. Die zwölf Stücke und der musik- und zeitgeschichtliche Kontext werden im Booklet knapp und kompetent beschrieben. Die Stücke stehen fast ausschließlich in zwei verschiedenen orientalischen Tonfolgen (Makams), das Repertoire zeichnet sich allerdings durch stilistische Vielfalt aus.

Birger Gesthuisen

 

ENSEMBLE MARÂGHÎ – Anwar


JOHANNA JUHOLA REAKTORI
Tango roto live

(Texicalli Records JJCD001, go! www.johannajuhola.net )
10 Tracks, 53:37, mit engl. Infos

Vom ersten bis zum letzen Ton überzeugend, spieltechnisch brillant, mit zauberhaft schönen kompositorischen Ideen und so feinem wie spannungsfähigem Fingerspitzengefühl für Arrangements kommt dieser Livemitschnitt von 2009 aus dem Savoy-Theater in Helsinki, und betont einmal mehr die offenbar musikalisch hochkreative Überlagerung der Frische des Ostens mit Mystik des Nordens. Komponistin und Akkordeonistin Johanna Juhola spielt mit den Möglichkeiten ihres Instruments, reizt sie aus und scheint das Akkordeon neu zu erfinden, sie schreibt auch die Tangogeschichte insofern weiter, als sie mit Respekt und per Klangzitat auf die historischen Ursprünge verweist, aber mit der allergrößten Selbstverständlichkeit diese traditionelle Linien auch durchbricht. Und zwar durch die Art ihrer Kompositionen, die Besetzung ihrer Gruppe Reaktori (voc, pian, acc, live electronics), vor allem aber durch eine überbordende Lebensfreude, die wie ein Wirbelwind daherkommt, jedwede verstaubte Patina fortweht, jedes falsche Pathos ausschließt und als unbedingte Einladung zum Tanz hier und heute gehört werden wird. Tangokultur als Brücke zur und im positiven Sinne Bruch mit der Vergangenheit gleichermaßen.

Cathrin Alisch

 

JOHANNA JUHOLA REAKTORI – Tango roto live


KARUNA
Hyvää Matkaa

(Kanteleen Aania Aania-17, go! www.myspace.com/karunatrio )
12 Tracks, 50:24

Das finnische Trio Karuna legt sein erstes Album vor, rein Instrumental mit Nyckelharpa, Geige, Akkordeon und Orgel. Ihre Musik orientiert sich an finnischer Volksmusik und an der Musik des Barock, und mehr als einmal erinnert sie an Arcangelo Corelli und indirekt auch an irische Musik jener Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts – da sich auch Turlough O’Carolan von Corelli beeinflussen ließ. Es beginnt ernst, mit „Sonetti 1“, wird später durch Polska und Mazurka durchaus schmissig und durch die Orgel beim „Karuna“ sogar sakral, und beim Titelstück „Hyvää Matkaa“ reibt die Hörerin sich erstaunt die Ohren: Es klingt wie „Muß i denn“, gespielt wie ein schottischer Strathpey, und tatsächlich heißt dieser Titel in hinzugefügter Übersetzung „Bon Voyage“. Ein Album voller Überraschungen also, und wirklich jedes Stück klingt wunderbar und muss sofort wieder angeklickt werden – absolut empfehlenswerter Silberling also, nur bitte, liebe Plattenfirma, spendiert uns beim nächsten ein paar Infos!

Gabriele Haefs

 

KARUNA – Hyvää Matkaa


SVAVAR KNÚTUR
Kvöldvaka

(Beste! Unterhaltung Bu006/Broken Silence, go! www.svavarknutur.com )
11 Tracks, 50:13

Manchmal braucht es so wenig, um glücklich zu sein: nur eine Ukulele, einen Bass, weibliche Backingstimmen und einfühlsamen Gesang – so wie es Svavar Knútur im Opener seines Debütalbums mit „Clementine“ zeigt. Leider geht es nicht durchgehend derart ergreifend weiter, wiewohl der Isländer immer wieder mit berückenden kleinen Melodien besticht. Allzu oft aber begnügt er sich mit romantischem Wohlklang von Akustikgitarre, Cello, Bass und Melodika, gefällt sich in schlicht instrumentierten Balladen, mal auf Englisch, mal auf Isländisch gesungen. Andererseits: Vielleicht gibt der Albumuntertitel „Songs By The Fire“ tatsächlich die Richtung vor: Da sitzt einer noch spät nach Mitternacht am Feuer, singt seine Lieder und liefert so den atmosphärischen Soundtrack für einen unvergesslichen Abend. So kann man sich beim Knutschen stimmungsvoll begleiten lassen. Nur beim letzten Track werden alle wieder hellwach: Knútur liefert mit „Leipzig“ ein überraschend munteres Ende, wozu ihn offenbar die Erlebnisse einer Deutschlandreise bewegt haben. Schade, dass der Inhalt der isländischen Songs nirgends näher erläutert wird. Trotzdem bleibt die warme Stimme des Sängers: Die Frauen werden ihn lieben.

Volker Dick

 

SVAVAR KNÚTUR – Kvöldvaka


KRAJA
Brusand Hav

(Erased Tapes/Westpark 87199/Indigo go! www.kraja.nu )
15 Tracks, 56:04, mit schwed. Texten u. dt. u. engl. Übersetzungen

„Brausendes Meer“ heißt das dritte Album des Vokalquartetts aus Nordschweden, auch wenn das Coverfoto eher sommerlich ruhig ist. Lisa und Eva Lestander, Linnea Nilsson und Frida Johansson haben hier Neues gewagt: eigene Melodien zu eigenen Texten oder Gedichten von Edith Södergran, Karin Boye, Nils Ferlin und anderen. Geblieben ist das selbst arrangierte verzaubernde Klangbild, das bei diesen Kompositionen noch dichter geworden ist. Besonders bei den schwierigen langsamen Stücken spürt man den hohen Grad an Harmonie der vier Stimmen. Da werden, wie bei „Bäckens Första Bubblor“, einem Gedicht von Ludvig Runeberg – Melodie von Eva Lestander -, meditative Spannungen aufgebaut, die Jonas Knutsson mit dem Sopransaxofon zart umspielt. Einen ähnlichen Eindruck hat man bei „Svantes Visa“ von Linnea Nilsson, Gitarre Nano Stern, und bei „Tystnaden“ von Frida Johansson, wo sich Gastpercussionist Petter Berndalen mehr am Klang als am Rhythmus orientiert. Das Experiment mit den drei mehr der Improvisationsmusik zugetanen Musikern ist glücklich gelungen, es bietet Perspektiven. Während Folk Baltica in diesem Jahr Anfang April hat Kraja mehrere Liveauftritte in Flensburg und Umgebung (siehe „Blaue Seiten“).

Bernd Künzer

 

KRAJA – Brusand Hav


JOHAN MEIJER
Europeana: Raum & Zeit

(Eigenverlag, go! www.nederossi.nl )
Do-CD, 23 Tracks, 133:58, mit dt. Texten u. Infos

Eine politische Liederreise des niederländischen Singer/Songwriters Johan Meijer durch das Europa des 20. Jahrhunderts, wo nicht sowieso deutsch in Übertragungen ins Deutsche. CD eins mit dem Titel Zeit versammelt Lieder von Brendan Behan, Mikis Theodorakis, Vladimir Vissotski, BAP, Gerhard Gundermann und Wenzel; sie beschäftigen sich mit Krieg und Frieden, Unterdrückung und Freiheit. Die zweite CD trägt den Titel Raum und präsentiert unter anderem Lieder von Jacques Brel, Ewan MacColl, Andy Irvine, José Afonso, Peter Gabriel und Johan Meijer. In Anlehnung an den Begriff Americana benutzt Johan Meijer für sein großartiges Projekt die Sammelbezeichnung Europeana. Gemeinsam mit seinen wirklich exzellenten Mitmusikanten ist es Meijer ein Anliegen, bedeutende Lieder aus ganz Europa in den Kanon der Weltmusik einzufügen, ihnen die Geltung zu verschaffen, die ihnen zweifelsohne zusteht. Meijers Gesangsstil erinnert, nicht nur wegen des Akzents, ein wenig an Herman van Veen. Die Begleitmusiken passen sich sensibel den jeweiligen Songs an. Insgesamt vermittelt dieses hoch ambitionierte Werk eine etwas melancholische Grundstimmung, gleichzeitig aber auch eine ehrliche Portion Herzenswärme.

Kai Engelke

 

JOHAN MEIJER – Europeana: Raum & Zeit


NATAŠA MIRKOVIC-DE RO, MATTHIAS LOIBNER
Winterreise (Franz Schubert – Wilhelm Müller)

(Raumklang RK 3003, go! www.mirkovic-dero.com , go! matthias.loibner.net )
24 Tracks, 65:06, mit dt, engl., frz. Texten u. Infos

Ursprünglich ist die Winterreise ein Zyklus aus 24 Liedern für Singstimme und Klavier, den Franz Schubert 1827 nach den Texten Wilhelm Müllers komponierte. Es geht um Tränen, Täuschung, Erstarrung, Einsamkeit, Irrlichter, aber auch um Hoffnungen, Mut und Frühling. Die Untiefen der Seele, die ganz großen Gefühle. Nahe liegend, dass solch ein Werk sich häufig in der sentimentalen, romantisch überhöhten Kitschecke wiederfand. Nicht so jedoch in der vorliegenden Interpretation der aus Bosnien stammenden fantastischen Sängerin und Schauspielerin Nataša Mirkovic-De Ro und des österreichischen Drehleiervirtuosen und Komponisten Matthias Loibner. Ausgehend vom letzten Lied des Zyklus, „Der Leiermann“, meist als Sinnbild für Tod und Erstarrung gesehen, entstand die Idee, Schuberts Winterreise in einer Fassung ausschließlich für Gesang und Drehleier zu bearbeiten. Auf diese Weise reduzierten die Interpreten das Kunstwerk quasi auf seinen Kern, wodurch sie eine ungeheure Intensität und gleichzeitig auch eine schwebende Leichtigkeit erzeugen, die eindrucksvoller kaum sein könnte. Übrigens: Das fünfte Lied der Winterrreise ist das deutsche Volkslied „Der Lindenbaum“ („Am Brunnen vor dem Tore“).

Kai Engelke

 

NATAŠA MIRKOVIC-DE RO, MATTHIAS LOIBNER – Winterreise


SHAUNA MULLIN
Wishing Tree

(Eigenverlag; MULL001CD, go! www.shaunamullin.com )
10 Tracks, 43:45, mit Infos

Die aus Ballyshannon, Donegal, stammende irische Sängerin hat seit einigen Jahren den Gesangspart in der Band des Akkordeonvirtuosen Dave Munelly übernommen. Sie hat ein Studium am World Music College der Uni Limerick absolviert. Dies ist ihr erstes Soloalbum, auf dem sowohl unbegleitete irische Sean-Nós-Songs als auch traditionelle und neu geschriebene Lieder in englischer Sprache zu hören sind. Mullins tiefe, wohlklingende Stimme erinnert bisweilen ein wenig an die Grand Dame des englischen Gesangs June Tabor – aber dazu kommt noch eine gehörige Portion an klassischem Gesangstimbre sowie eine gewisser jazziger Touch. Also eine sehr interessante, hörenswerte Stimme, die sich besonders Menschen mit Affinität zu irischem Gesang einmal zu Gemüt führen sollten. Die Stückauswahl ist abwechslungsreich, mit Schwerpunkt auf doch eher langsameren Songs. „Ned Of The Hill“, „Suantraí Seothín Seothó“ und „Fill Fill A Ruin ӓ – letzteres aus dem Repertoire ihrer Mutter – stechen hervor. Instrumental imponieren neben schönen Flute- und Akkordeontönen vor allem die ausgeklügelten Pianoarrangements.

Johannes Schiefner

 

SHAUNA MULLIN – Wishing Tree


NO BLUES
Hela Hela

(Continental Record Services CRS/Continental Europe CECD 37/In-akustik, go! www.noblues.nl )
12 Tracks, 49:35, mit engl. Infos

Von Beginn an haben die Holländer ihre attraktive Arabicana, wie sie die Mischung aus Arabischem und Americana nennen, ansatzlos zur Serienreife enwickelt – Hela Hela knüpft exakt an, wo Lumen 2009 und 2007 auch bereits Ya Dunya aufhörten: bei federleicht groovenden Songs westlicher Struktur mit einer charakteristischen vorderorientalen Klangfärbung, die so ausgereift klingen, als träfen sich die beiden Musikkulturen schon seit Jahrhunderten zu Tanz und Gesang. Stilistisch dominiert wird der kraftvolle Akustikbastard von Ud und arabischem Gesang des gebürtigen Galiläers Haytham Safia und der Gastsängerin Shereene Fauzi Danial. Bass und Gitarre Ad van Meurs’ und Anne-Maarten van Heuvelens sowie die Percussion des gebürtigen Sudanesen Osama Maleegi erden diese für europäische Ohren exotischen Elemente in westlicher Produktion. Ankie Keultjes’ und Bandleader van Meurs’ englischer Gesang sowie weitere Gäste verdichten die Mischung, die Stücke sind eingängig und überwiegend munter. Gelegentlich nachdenklich. immer unaufdringlich. Und nicht selten sehr packend.

Christian Beck

 

NO BLUES – Hela Hela


SONALP
Moutor

(Disques Office 65775, go! www.sonalp.com )
12 Tracks, 49:44

Was für ein Untier, dieser Moutor : Hirschgeweih, Giraffenhals, Kamelhöcker und Kuheuter. Würde dieses Tier Musik machen, bliese es Alphorn und Didgeridoo, jodelte es wie in den entferntesten Alpentälern, um jäh von einer sägenden Elektrogitarre, einem stampfenden Bass, Djembe- und Trommelwirbeln unterbrochen zu werden. Und genauso tönt er, dieser Mutant aus Alpenklang, Weltmusik, Progrock und Jazz. Sonalp melken diesen Bastard so, dass die Mixtur schmeckt. Natürlich entsteht auf diese Weise kein Emmentaler Käse. Nein, hier erdreisten sich sechs Männer aus der französischsprachigen Schweiz, dem Käse der Deutschschweizer Alpen die Gewürze ihrer weltoffenen Küche beizumischen. Zum Glück. Endlich geht eine Schweizer Gruppe derart radikal zur Sache. Moutor ist keine Kunstmusik, kein intellektuelles Ethnojazzprojekt und schon gar keine sanft renovierte neue Schweizer Volksmusik. Die Pole dieser Mischung stoßen sich ab und ziehen sich zugleich an. Sind das die frühen Pink Floyd, die auf einer Bergwanderung in einen Kuhfladen traten und auf einen bukolischen Trip gerieten? Jedenfalls macht die Mischung Spaß. Etwas Moutorkäse würde in Schweizer Küchen gewiss für Abwechslung sorgen.

Martin Steiner

 

SONALP – Moutor


DIE STROTTERN
Das größte Glück

(Cracked Anegg Crack 092010039/Sunnymoon, go! www.diestrottern.at )
16 Tracks, 72:97, mit dt. Texten und Infos

Da sind sie wieder, die Gauner, die Strauchdiebe, eben die Strottern. Nach einer Handvoll Aufnahmen unter eigenem Namen und mit wechselnden Gästen, legen die beiden Erneuerer des Wienerlieds ein in Wien 2010 live eingespieltes Album vor. Klemens Lendl, Gesang und Violine, und David Müller, ebenfalls Gesang, aber auch Gitarre, treten mit einem Programm an, das bereits nach wenigen Tönen ihre Meisterschaft erweist. Denn alles, worauf es beim Wienerlied ankommt, demonstrieren sie mit großer, der Sache wichtiger Lässigkeit: Kleine rhythmische Verzögerungen und die punktgenau, leicht daneben klingende, sich reibende Intonation setzen akkurate Akzente. Textlich setzt das Duo ebenfalls auf intelligente Lösungen, mit Bedacht befreien sie das Wienerlied von Kitsch und Reaktionärem. Aus dem Repertoire des Althergebrachten wird ausgewählt, was sich kritisch zur Wiener Wirklichkeit verhielt, stets wird aktualisiert, etwa mit Bezug auf Tom Waits oder mittels eines instrumental hergestellten Grooves, der Hörgewohnheiten aufbricht. Das Publikum dankt’s mit Beifall und Gelächter. Näher kann man dem Wienerlied kaum kommen – höchstens direkt im Konzert.

Harald Justin

 

DIE STROTTERN – Das größte Glück


TERRAKOTA
World Massala

(Ojo Records OJO005/Ojo Música/Galileo MC, go! www.myspace.com/terrakota )
11 Tracks, 62:71 mit ausführlichen Infos

Die Band aus Lissabon hat sich schon auf früheren Alben unverfroren an Afrobeat, brasilianischem Folk und Reggae versucht und fügt diesmal selbst indische Klänge hinzu. Das macht das Septett gewissenhaft, war mit indischen Musikern in Ladakh im Studio und hat sich nicht nur mal eben schnell den Sari übergeworfen. Textlich fallen die überwiegend portugiesisch vorgetragenen Songs in alter Afrobeat-Tradition anscheinend gern ins Engagierte, soweit sich das aus Titeln wie „Illegal“ und „Gripe Economica“ schließen lässt. Die überzeugenden Arrangements beweisen spielerisch leicht die Verträglichkeit der heterogenen Einflüsse, ohne je Gefahr zu laufen, in seichten Weltpop abzudriften. Auch wenn es gute Gründe gibt, die dagegen sprechen, alles mit allem in einem großen Topf zu vermengen – so lässt es sich hören. Terrakota beherrschen ihre Instrumente von der Ngoni bis zur Sitar, Romi Anauel hat eine Stimme, die selbst mit den ganz großen afrikanischen Sängerinnen keinen Vergleich scheuen muss. Das Tempo ist überwiegend hoch, aber am schönsten ist die zurückhaltend arrangierte, westafrikanisch anmutende Ballade „Né Djarabi“, ein Duett Anauels mit dem angolanischen Gastsänger Paulo Flores.

Gunnar Geller

 

TERRAKOTA – World Massala


FERNANDO TERREMOTO
Terremoto

(Bujío BJ-209/Galileo MC, go! www.galileo-mc.de )
12 Tracks, 58:02, mit span., franz. u. engl. Infos

Posthum erscheinen 2008 und 2009 entstandene Aufnahmen des tief in der Flamencotradition von Jerez verwurzelten Sängers und Sohnes einer mythischen Figur im dortigen Cante. Im Februar 2010 mit vierzig gestorben, hatte er die Linie seines stimmlich und optisch ähnlichen Vaters ins Heute verlängert. Dem von der Orthodoxie des Flamencogesangs ausgehenden Andalusier ging es stets um die Erweiterung seines musikalischen Vokabulars. Für die Offenheit „El Terres“ spricht schon sein mit Rock und Blues verbandelter Produzent, der Singer/Songwriter Gecko Turner. Das Album birgt einige Überraschungen: den seltenen Stil Liviana-Serrana sowie den modernisierbarsten flotten Buleríarhythmus mit Trompete und Posaune oder, wie beim auf Flamenco getrimmten Tangoklassiker „Cambalache“, mit der Mundharmonika des jungen Virtuosen Antonio Serrano. Der gehört zu Paco de Lucías aktueller Band, so wie einst der brasilianische Percussionist Rubem Dantas, der mit dem Didgeridoo ganz zart einen freien, sonst unbegleiteten Gesang Terremotos mit den Hijas del Sol, zwei in Spanien lebenden Äquatorialguineerinnen untermalt. Und mit Diego de Morao und Alfredo Lagos sind überaus gute Gitarrengeister am Werk.

Katrin Wilke

 

FERNANDO TERREMOTO – Terremoto

Update vom
09.02.2023
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