Rezensionen DEUTSCHLAND
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ABSINTO ORKESTRA
Gadje
(Gadjo Records/Timezone Distribution, www.timezone-records.com
)
14 Tracks, 62:12, mit dt. Texten u. Infos im Digipak
Das gab’s bisher noch nicht, jedenfalls nicht auf derart hohem künstlerischen
Niveau: Eine junge Gruppe von Gadjes (Nichtzigeunern), die voller Begeisterung
und Überzeugungskraft eine Musik präsentiert, die stark von der liebenswerten
Kultur der Sinti und Roma beeinflusst ist. Das Mainzer Quintett Absinto Orkestra
beschränkt sich dabei keineswegs ausschließlich auf das übliche Repertoire des
Genres, vielmehr kreieren die Musiker eine anregende Mischung aus traditionellen
und eigenen Kompositionen, wobei ein hörenswerter Mix aus Instrumentalstücken
– hier gibt die Geige den Ton an – und Liedern in deutscher Sprache
entsteht. Die Texte kommen mal ernsthaft („Solange wir uns nicht verlier’n,
müssen wir nicht immer wissen, wo wir sind ...“), mal originell („Was heute Wurst,
war einmal Schwein / Wir können trotzdem Freunde sein ...“) daher. Vertrackte
Balkanrhythmen, die durchs Ohr direkt in den Bauch gelangen. Verdammt guter
Ethnojazz mit osteuropäischem Einschlag.
Kai Engelke
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DUO SONNENSCHIRM
Duolektik
(RUM Records/Löwenzahn LZ20101/Buschfunk, www.Buschfunk.com
)
11 Tracks, 60:24, Texte
Jürgen B. Wolff und Dieter Beckert, das legendäre Leipziger Duo Sonnenschirm,
dessen künstlerische Wurzeln in der DDR der Achtzigerjahre bis zur Hammer=Rehwü,
Folkländer und Karls Enkel zurück reichen, haben in ihrem neuesten Werk jede
Menge geistige Fußangeln und Fußnoten ausgelegt. Schöne ruhige; aber schräge
Balladen legen die beiden Brachialromantiker vor, voller Hintersinn und
Anspielungen, versteckten Informationen und Assoziationen, Spott und trefflichen
Sprachbildern und -witzen, Kritischem und vor allem viel Absurdem. Grabsteine,
der Herbst, Eisbär Knut, Hundeliebe, Heiligendamm, Intimrasuren und gar das Ende
der Welt werden besungen, und damit der erstaunte Hörer nicht in Unkenntnis
verharrt, werden Dutzende erläuternde Anmerkungen mitgeliefert. Ganz entzückend
vor allem die weit ausschweifende „Ballade von einem der Iren“ – man
könnte sogar noch ein „r“ ergänzen – die ein wirksames Placebo gegen
schwere keltische „Folkloritis“ sein kann. Hier helfen gleich 41 Fußnoten im
Booklet auf die geistigen Sprünge. Ein wunderbar löbliches Werk, das zudem mit
einem sehr ansprechenden Booklet ästhetisch abgerundet wird.
Rainer Katlewski
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MARDI GRAS.BB
Von Humboldt Picnic
(Hazelwood Vinyl Plastics HAZ 070/Rough Trade, www.roughtrade.de
)
Promo-CD, 12 Tracks, 43:18
Früher waren Kurzwellenradios weit verbreitet; wer daran drehte, holte sich die
Welt ins Haus – mit all ihrer fremden Musik. Heute kurbeln nicht nur das
Internet, sondern auch Bands wie Mardi Gras.bb für uns und nehmen uns mit auf
eine musikalische Abenteuerreise: durchs wilde Kurdistan zu den Maharadschas, zu
spanischen Revolutionären, in die Moskauer U-Bahn, zu mexikanischen Chilikochern
und noch weiter. Dabei pflegt die Band aus dem Großraum Mannheim einen
unbefangenen Umgang mit anderen Stilen, wie es sonst eher die Domäne der
US-Amerikaner ist. So fließt der „Delhi Morning Raga“ in angenehmer Eintönigkeit
vor sich hin, führt „Benim Ismin Mahmut Altunay“ ins türkische Soulzentrum und
„Americanos“ in eine New Yorker Latinobar. Mit „Lotterie des Lebens“ findet sich
gar ein deutschsprachiges Stück in der Kuriositätensammlung, im Stil des
Zwanzigerjahre-Salonjazz gehalten, dass es Max Raabe zur Ehre gereichen würde.
Mit ihrer satten Gebläsefraktion sieht das Ensemble um den Arzt und Sänger
Jochen Wenz und den ehemaligen Guru-Guru-Bassisten Uli Krug seine Wurzeln zwar
in der Musik der Brassbands aus New Orleans – mit dieser Mischung gehen
sie aber noch deutlich darüber hinaus.
Volker Dick
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MARTIN MÜLLER
Guitar Works
(Schell Music SM 5731/ www.schellmusic.de
)
18 Tracks, 51:43, mit dt. u. engl. Infos
Was Rezensenten alles anrichten können! Der für seine Liebe zur brasilianischen
Musik bekannte Gitarrist Martin Müller hat sich zu Herzen genommen, was Kollege
Alexander Schmitz in der Besprechung eines Albums „kritisch“ anmerkte: dass es
schön wäre, wenn Müller seine Gitarre auch mal anders als brasilianisch reden
lassen würde. Das hat er nun getan, wobei er dem Subkontinent Lateinamerika
allerdings treu geblieben ist. Tangos für Sologitarre und drei Werke für
Querflöte (Günther J. Schmitz) und Gitarre stellt der intime Kenner der
argentinischen Musik vor. Bemerkenswert ist, dass es sich ausnahmslos um
Eigenkompositionen handelt. Stilsicher, virtuos und fantasievoll begegnet Martin
Müller einer musikalischen Kultur und Sprache, die ihn nach eigenem Bekenntnis
seit Jahren fasziniert. Ganz ohne Brasilien ist es aber auch bei dieser schönen
Produktion nicht gegangen. Die „Suite Retratos“ entstand als unmittelbare
Antwort auf den Besuch eines Konzertes des international renommierten
Gitarristen und Komponisten Paulo Bellinati in São Paulo. Wenn eine Gitarre so
wunderbar brasilianisch spricht, gibt es nichts einzuwenden, auch wenn Müller
auf „Abwegen“ mindestens genauso gut klingt.
Rolf Beydemüller
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POLKAHOLIX
Polkaface
(Monopol Records/DA Music DAM940833, www.da-music.de
)
14 Tracks, 45:41, mit dt. Infos
Im Opener halten sich die Jungs für VIPs: „Very Important Polkaholix“. Zu Recht!
Auf seinem dritten regulären Album zeigt das Oktett aus Berlin seine beste Seite
– eine energievolle Mischung aus Polka, Pop, Ska, Punk und Balkaneskem mit
vorantreibenden und fesselnden Bläsersätzen, dazu deutschsprachigen Texten
erster Güte. Beispielsweise erinnern die Zeilen im bayerisch angehauchten „Hans
bleib da“ mit ihren Sprachspielereien an Rio Reisers „Alles Lüge“. Oder das im
Telegrammstil gehaltene „Dumm gelaufen“ liefert Reime solcher Art: „Urlaub nett
/ Liebelei / Dann vergessen / Lang vorbei / Plötzlich Brief / Stimmungstief /
Schreibt man mir / Fordert bald / Für vier Kinder / Unterhalt.“ Ob Polkaholix in
der „Hypothekenpolka“ noch mal „der Oma ihr klein Häuschen versaufen“ oder in
„Weißes Boot“ Fünfzigerjahre-Urlaubsromantik heraufbeschwören: Die Stücke
schrauben sich ins Hirn. Kongenial auch die Coverversionen: Da wird Spliffs
„Heut’ Nacht“ zur Partynummer und Trios „Anna“ zu einer Schönheit aus
Ex-Jugoslawien. Obendrein saust uns als Rausschmeißer noch Strauss’
„Tritsch-Tratsch-Polka“ um die Ohren! Angesichts dessen wirken die beiden
englischsprachigen Nummern lästig. Aber der Rest: Ihr flippt aus!
Volker Dick
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STOPPOK PLUS WORTHY
Grundblues 2.1
(Grundsound GS0026/Indigo, www.indigo.de
)
16 Tracks, 50:22, mit dt. Texten u. Infos
Das kommt davon! Stefan Stoppok und sein Spießgeselle Reggie Worthy am Bass
haben die aus der Hüfte geschossene inoffizielle Merchandisingversion ihres
Grundblues 2.1 vom vergangenen Jahr noch einmal richtig eingespielt
– und was ist der
Unterschied? Es gibt fünf neue Stücke, dafür ist „Kalter Kaffee“ perdu
gegangen. Und: Es fehlt die beste Strophe von allen! „Und wäre ich ein
Journalist, ich sag’ dir, was ich tät / Ich hörte auf zu schwafeln und ich
arbeitete mit / Ja, ich arbeitete mit, ich arbeitete mit / Ich arbeitete mit an
’nem Gebäude, das auch hält, das auch hält“. So hieß es noch vor Kurzem –
jetzt bekommen nur noch Spieler, Politiker, Gangster, Säufer, Popstars und
total Verlorene ihr Fett weg. Warum? Weil wir Jounalisten unser hiesiges
Grooveschwergewicht schließlich immer schön brav – und gern – über
den grünen Klee loben? Bitteschön: Stoppoks und Worthys funky Bluesmodell läuft
rund und kraftvoll; die Texte aus dem Leben normaler Menschen, für die neben
den Performern Könner wie Bernie Conrads, Danny Dziuk und Norbert Leisegang
verantwortlich zeichnen machen nicht nur Sinn, sondern haben auch Form; und
Bierernst ist dieser beiden Künstler Sache auch nicht – also alles
bestens wie immer.
Christian Beck
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FRANK VIEHWEG
Solange man singt – Lieder-Verse nach Jaromír Nohavica
(Nora Verlagsgemeinschaft/Raumer Records, RR 18309, www.raumer-records.de
)
Buch, 116 S., und CD, 20 Tracks, 57:20, mit dt. Texten und Infos
Seit der Berliner Liedermacher Frank Viehweg vor zehn Jahren erstmals der Musik
seines tschechischen Kollegen Jaromír Nohavica begegnete, ließen ihn diese
Klänge nicht mehr los. Er brachte die Texte Nohavicas ins Deutsche und legt nun
ein Gesamtpaket, bestehend aus Lyrikband und CD vor. Auf sympathische Weise
stellt Viehweg seine Interpretationskunst voll und ganz in den Dienst des
tschechischen Dichters. In klarer, nachvollziehbarer Sprache geht es unter
anderem um Wehmut, Hoffnung, Liebe, die Freiheit der Gedanken. Und über allem
liegt ein Hauch von Melancholie. Leider ist das Buch schlecht geleimt. Schon
nach einmaligem Durchblättern lösen sich einzelne Seiten. Seltsam auch die
Illustrationen, die an Gummibärchen auf Droge erinnern und ansonsten in
keinerlei Zusammenhang zu den Texten stehen. Egal: Die poetischen Texte und
Melodien, kongenial interpretiert von Frank Viehweg, gewährleisten einen
besonderen ästhetischen Genuss. „Lieder sind Schwalben – sie fliegen durch
Europa“, sagt Jaromír Nohavica. Ein schöner Gedanke.
Kai Engelke
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GISBERT ZU KNYPHAUSEN
Hurra! Hurra! So nicht.
(PIAS Germany PIASD4790/Rough Trade, www.roughtrade.de
)
Promo-CD, 11 Tracks, 44:12
Der Wahlhamburger mit dem drolligen Namen beugt sich, das Gesicht modisch
zugewachsen, auf dem düsteren Cover seines zweiten Albums über die akustische
Gitarre, und man ahnt schon, dass es hier wieder sehr ernst und lyrisch zugehen
wird. Und so ist es auch. Knyphausens neue Lieder heißen „Seltsames Licht“,
„Grau Grau Grau“, „Morsches Holz“ oder „Melancholie“ und wollen die Aura großer
Empfindsamkeit verbreiten, gleichzeitig aber wohl auch große Literatur sein.
„Lauf durch die Straßen dieser Stadt und zähl die Löcher im Asphalt“ singt er,
anderswo ist vom „buckligen Winter“ die Rede, und all die prätentiösen Worte
werden durch den bierensten Vortragsstil noch verstärkt. Eigentlich ist das gar
nicht weit von Aufnahmen sympathischerer Barden wie Olli Schulz entfernt, und
vielleicht leuchtet gar irgendwo ein wenig Selbstironie auf, die dem Rezensenten
schlicht entgeht. Die eitle Attitüde macht es aber unmöglich, konzentriert auf
irgendwelche mildernden Umstände zu lauschen. Ganz schlimm wird es, wenn
passagenweise auch noch richtig losgerockt wird. Da läuft die Pathostonne dann
endgültig über und der Rezensent steht hilflos bis zu den Knien im schmierigen
Bedeutungsmatsch. Hilfe!
Gunnar Geller
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FOLKER auf Papier
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