Das Land, das singt
Vaira Vīķe-Freiberga
Die ehemalige lettische Staatspräsidentin
als Folkloristin
|
FOLKER
präsentiert:
|
Folk Baltica 2010
| |
|
|
Nirgendwo wird mehr gesungen als in Lettland. Besonders deutlich wird die
Singfreude bei den großen Sängerfesten in Riga. Tausende kommen, um den
Interpreten auf der Bühne zuzuhören oder selbst mitzusingen. Das gemeinsame
Singen reicht tief in die Folklore zurück. Die von Generation zu Generation
überlieferten Lieder und Tänze folgen einfachen volkstümlichen Choreografien und
gehören auch heute in jedes Festivalprogramm. Gemeinsam die alten Lieder zu
singen, gilt als Inbegriff lettischer Identität; mit Volksliedern als trotzigem
Bekenntnis hat das kleine Land – wie seine Nachbarstaaten Estland und
Litauen – sogar die Unabhängigkeit von den sowjetischen Besatzern
erstritten. 1990 setzte man Lieder gegen Panzer: Die baltische „Singende
Revolution“ ging in die Geschichte ein.
TEXT: ANDREAS GUBALLA
|
|
Zur Person
|
|---|
|
Prof. Dr. Vaira Vīķe-Freiberga wurde am 1. Dezember 1937 in Riga
geboren. Sie besuchte die lettische Schule des Lübecker Flüchtlingslagers sowie
eine französische Schule in Marokko und studierte unter anderem an der
kanadischen Universität Toronto Psychologie. Als Psychologieprofessorin
arbeitete sie auch an der Universität Montreal, von der sie zur Ehrendoktorin
ernannt wurde. 1999 wählte man sie zur Präsidentin der Republik Lettland, und
sie bemühte sich bis zum Ende ihrer zweiten Amtsperiode 2007 für eine klare
Westorientierung des Landes und um den EU-Beitritt. Im Dezember 2007 wurde sie
als stellvertretende Vorsitzende in die neu geschaffene „Reflexionsgruppe“ der
Europäischen Union (auch „Rat der Weisen“ genannt) berufen. Der Rat befasst sich
mit Fragen der zukünftigen Entwicklung der EU. Sie ist bis heute wegen ihres
unabhängigen und sicheren Auftretens in der lettischen Bevölkerung
außerordentlich beliebt. Vaira Vīķe-Freiberga ist mit dem
Informatikprofessor Imants Freibergs verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat.
In ihren wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema lettische Volkslieder
beschäftigt sich Vaira Vīķe-Freiberga mit Semiotik, Poesie und
Struktur des traditionellen Liedgutes. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen
Fachzeitschriften und Büchern in deutscher, englischer, französischer und
lettischer Sprache veröffentlicht.
|
|
Ein Ereignis von nationaler Bedeutung ist das alle fünf Jahre stattfindende
lettische Lieder- und Volkstanzfest. Mehr als fünfunddreißigtausend
Menschen – darunter dreihundert Chöre, über fünfhu
Eine führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet des lettischen Volksliedes
ist die ehemalige Präsidentin des Landes, Vaira Vīķe-Freiberga.
Für sie ist das Lied „der gemeinsame Atem unseres Volkes. Unser
gemein
Frau Vīķe-Freiberga, was bedeuten die Volkslieder für das
lettische Volk?
Für die Letten bedeuten sie mehr als nur eine literarische Tradition. Sie
sind für uns die Verkörperung des von Vorvätern
überlieferten kulturellen Erbes, denen die Geschichte greifbarere
Ausdrucksformen verwei
Ist das heute noch im Alltag der jungen Leute so?
Es gibt in Lettland noch immer viele Tanz- und Trachtengruppen, die jede Woche
zusammenkommen, um zu singen und zu tanzen. Insgesamt gibt es derzeit etwa
zweihundert verschiedene Folkloreensembles mit rund dreitausend Mitgliedern.
Dies zeigt, dass sich au
Warum sind Tradition und Kultur so tief verankert bei den Letten?
Weil sie lange Zeit ein unterdrücktes Volk waren. Die Tradition gibt ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, das es zu bewahren galt. Das war vor allem
während der sowjetischen Besatzung so, als es in Riga mehr Russen als
Lette
Zu Sowjetzeiten gab es so etwas wie staatlich organisierte
Folkloreveranstaltungen. Haben sich die Sängerfeste seit der Singenden
Revolution verändert?
„Wir singen,
um in den Winden
der Welt nicht
verlorenzugehen.“
|
Es gibt eine ständige Diskussion darüber, wie weit man diese Veranstaltungen
verändern und modernisieren sollte. Wie viel elektronische Musik zugelassen wird
und wie das Repertoire aussieht. Aber das letzte Sängerfest in Riga im Jahr 2009
war so wunderbar, und niemand wollte beim Abschlusskonzert nach Hause gehen.
Alle haben bis vier Uhr morgens gemeinsam gesungen und getanzt. Dennoch glaube
ich, dass die moderne Welt eine Bedrohung für die alten Traditionen ist. Heute
verändert sich alles sehr schnell. Da überrascht es mich oft selbst, dass so
viele Letten etwas in der Volksmusik finden, was sie woanders nicht bekommen.
... mehr im Heft
| |

|
FOLKER auf Papier
|
|---|
Dieser Artikel ist nur ein Auszug des Original-Artikel der Print-Ausgabe!
Bestelle sie Dir! Einfach das
Schnupper-Abo!
bestellen und
drei Ausgaben preiswert testen. Ohne weitere Verpflichtung!
Oder gleich das
Abo
?
|
|