FOLKER – Krise des Kapitalismus

Exclusiv im Internet

Michael Kleff, Kutlu Yurtseven, Bernadette La Hengst und Tapani Gradmann

„KRISE DES KAPITALISMUS:

schlecht für das soziale Klima, aber gut für das politische Lied?“

Folker-Gespräch mit Bernadette La Hengst, Tapani Gradmann (The Incredible Herrengedeck) und Kutlu Yurtseven (Microphone Mafia)

MODERATION : MICHAEL KLEFF
Berlin, 27. Februar 2010
Festival Musik und Politik 2010

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Michael Kleff: Herzlich willkommen zum Folker-Gespräch hier beim Festival Musik und Politik. Ist ja mittlerweile auch schon eine Tradition. Für alle, die den Folker noch nicht kennen: So sieht er aus (hält Heft hoch), und es gibt auch noch einige Exemplare hier vor Ort, wenn man rausgeht, auf dem Informationstisch. Ich hätte gerne schon die neue Ausgabe hier gehabt, da ist nämlich ein Beitrag über Mitdiskutantin Bernadette La Hengst drin ... – wer also später was über sie nachlesen möchte, kann das im kommenden Folker tun. Und damit sind wir schon mittendrin, bei unseren Gesprächsteilnehmern: Tapani Gradmann von The Incredible Herrengedeck – die werden wir heute Abend auch noch hören; Bernadette La Hengst, ebenfalls heute Abend zu hören beim Konzert „Liederbestenliste präsentiert“; und schließlich Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia – die meisten von euch werden vielleicht vorhin zugehört haben beim Konzert um 14.00 Uhr. Gemeinsam wollen wir diskutieren über die Frage: „Krise des Kapitalismus – schlecht für das soziale Klima, aber gut für das politische Lied?“ Und ich habe mir gedacht, dass wir mit einer Antwort auf diese Frage gleich in der ersten Runde beginnen. Dass jeder hier oben mal sagt, wie er auf diese Frage antwortet. Ich will vielleicht noch erwähnen, dass ein Teil dieser Diskussion in ein paar Monaten – nämlich am ersten Mai – in einer „Langen Nacht des politischen Liedes“ im Deutschlandfunk wieder zu hören sein wird. Das passt ja da ganz gut. Fangen wir einfach an. Was also würdest du, Tapani Gradmann, darauf antworten: Krise des Kapitalismus – schlecht für das soziale Klima, aber gut für das politische Lied? Und warum?

Tapani Gradmann: Tja, bisschen abstrakte Frage. Ich würd’ erst mal sagen, das „politische Lied“ sozusagen, das bringt ja erst mal keinem was, da muss was dahinterstehen, für das man singt, etwas, das man damit erreichen will. Politische Lieder sind ja dazu da, um politische Bewegungen zu stützen oder zu motivieren, vielleicht auch ins Leben zu rufen, um etwas zu verändern. Natürlich gibt diese Krise vielleicht Inspiration – wir haben auch ein Lied geschrieben, das direkt mit der Krise zu tun hat.

Bernadette La Hengst: Wie heißt ’n das?

TG: Es heißt „Chor der Banker“ – „Die Welt geht unter, wir brauchen mehr Geld.“ Also, es geht darum, dass die Banker jetzt weinen und dann plötzlich eben auch Geld da ist, was vorher nie möglich gewesen wäre, so viel Geld plötzlich loszumachen. Vielleicht reicht das erst mal als Antwort, sonst wird’s zu lang ...?

BLH: Okay. Ich stimme da mit dir überein, dass die Frage sehr abstrakt ist, aber wir wollen ja auf ’ne abstrakte Frage eine konkrete Antwort, deswegen versuch’ ich mal so konkret wie möglich zu sein. Also, für mich persönlich oder für ein Projekt, das ich gemacht habe, war die Krise sehr gut! Wir waren also die ersten Krisengewinnler, sozusagen. Mit einer Theaterinszenierung namens „Die Bettleroper“, die wir am Theater Freiburg letztes Jahr aufgeführt haben. Wo ich einen Chor zusammengestellt habe aus zehn Armutsexperten, mit Bettler- oder Bettelerfahrung, und Obdachlosenerfahrung. Die waren sozusagen die Avantgardebettler, die dem Publikum gezeigt haben, was sie in Zukunft, nach dem sozialen Abstieg, erwartet und wie sie damit umgehen können. Dieses Theaterstück war ein halbes Jahr lang – dreizehn Vorstellungen – immer ausverkauft. Das heißt: Es scheint die Leute interessiert zu haben, zu wissen, was sie in Zukunft erwartet. Insofern war für mich die Krise jetzt sehr inspirierend. Aber, ehrlich gesagt: Wir wussten, als wir das Stück geplant haben, noch gar nicht, dass es die Krise überhaupt geben wird. Ich hätte das Stück so oder so gemacht. Es war eher Zufall, dass wir dann letztlich irgendwie davon profitiert haben. Und dass uns zugehört wurde ...

MK: ... und ihr dann übrigens auch in der Liederbestenliste vertreten wart.

BLH: Stimmt. Mit dem Lied „Avantgarde-Bettler“.

Kutlu Yurtseven: Das würd’ ich auch sagen: Also, es ist inspirierend, aber auch ohne die Krise gäbe es noch das politische Lied. Noch gute politische Lieder. Keiner ist glücklich, dass es die Krise gibt, damit er darüber Lieder schreibt. Es gibt genug Gründe, politische Lieder zu schreiben; da brauchen wir uns jetzt nicht eine Krise zu wünschen, um weiter politische Lieder zu schreiben.

„Auch ohne die Krise gäbe es noch das politische Lied. Keiner ist glücklich, dass es die Krise gibt, damit er darüber Lieder schreibt. Es gibt genug Gründe, politische Lieder zu schreiben; da brauchen wir uns jetzt nicht eine Krise zu wünschen, um weiter politische Lieder zu schreiben.“
Kutlu Yurtseven

MK: Das Festival beschäftigt sich ja dieses Mal – das mag Zufall oder auch Absicht sein – mit drei großen Namen, die untrennbar mit politischer Kultur, mit politischer Musik zu tun haben: Theodorakis, Seeger – der Film am Donnerstagabend – und Vissotski – mit dem Konzert gestern Abend. Und alle drei waren eigentlich ihr Leben lang in irgendeiner Form verbunden mit politischer Arbeit, mit politischer Bewegung. Und da würde mich interessieren: Wenn ihr solche Persönlichkeiten betrachtet, die ja alle drei auf ganz unterschiedliche Art und Weise ein hartes Leben gehabt haben, die mit ihrem Eintreten, ihrem Singen immer im Konflikt waren mit herrschenden gesellschaftlichen Zuständen – was unterscheidet euch von solchen Leuten? Alles, was ihr macht derzeit ... kann man ja machen, man wird dafür nicht ins Gefängnis gesteckt, und es gibt auch immer irgendeinen Sender, der irgendetwas spielt. Also, wenn man daran denkt, dass jemand wie Pete Seeger siebzehn Jahre lang nicht im Radio und im Fernsehen gespielt wurde ... – für den war politisches Lied eine existenzielle Bedrohung. Für ihn selbst. Mit seinen politischen Liedern hat er sich sozusagen ins Abseits gestellt. Was heute, wenn man ehrlich ist, in gewisser Weise eigentlich nicht passieren kann. Also, was heißt das für Musiker, für Künstler wie euch, wenn ihr euch mit politischen Stücken beschäftigt? Welche Rolle hat das für euch in eurer Identität? Vielleicht geh’n wir jetzt einfach in der anderen Reihenfolge ...

KY: Also, der Grund, warum wir mit Rap angefangen haben, war grade eine Identitätskrise für uns damals. Weil wir nicht wussten, wo wir hingehören, in die türkische oder in die deutsche Gesellschaft. Und uns von oben herab immer erzählt worden ist, was wir sind und wer wir sind. Und Rap war für uns eine Insel, wo wir uns ohne Kultureinfluss oder Gesellschaftseinfluss oder Elterneinfluss entfalten konnten. Darum war’s für uns politisch. Und wir wollten unseren Eltern, aber auch der deutschen Gesellschaft zeigen: Wir gehören hierhin, wir sind da! Und: Lebt mit uns. Aber es war für uns jetzt nie, wie bei Pete Seeger oder Theodorakis, dass unser Leben bedroht war. Es gibt ein türkisches Sprichwort: „Das Feuer brennt da, wo es hinfällt.“ Jeder hat seine eigene Krise, seine eigene Bewältigung, und das sollte man nicht und kann man auch nicht gegeneinander aufwiegen. Wir hatten es natürlich einfacher, weil wir eben nicht ins Gefängnis gekommen sind oder gejagt wurden. Unsere Mütter oder Schwestern oder Frauen nicht mit Steinen beschmissen worden sind, weil sie Kommunisten waren. Wir hatten es einfacher, aber jeder hatte seine Krise, die ihn dazu beeinflusst hat, so ’ne Art von Musik zu machen.

BLH: Es ist allerdings auch ein bisschen gefährlich, sich immer an solchen Vorbildern abzuarbeiten. Da steckt ja sehr viel Romantisierung mit drin. Dass man nur wirklich politisch sein kann, wenn man in Lebensgefahr ist. Also, das seh’ ich ’n bisschen anders. Du hast ja vorhin beschrieben: Das war ’ne Identitätskrise, warum ihr angefangen habt zu rappen. Das finde ich genau so existenziell, als ob man mit Steinen beworfen wird. Nur eine andere Form davon. Bei mir ist es vielleicht gewesen: Es gab in den Achtzigern extrem wenig Musikerinnen, und in den Neunzigern auch noch und leider in den Nullerjahren immer noch. Das heißt, ich habe mich da in eine Männerdomäne vorgewagt, die nicht für mich vorgesehen war. Das war halt schon immer wieder ein Kampf, eine Art von Selbstermächtigung. Das war so einer der Antriebe, warum ich angefangen hab’ Musik zu machen: Ich kann das auch, und deswegen werd ich’s auch tun! Selbst, wenn ich’s nicht kann, wird’ ich’s tun. Also: „Do it yourself.“ Und dann sind aber noch viele andere Gründe dazugekommen. Also, wenn’s nur dabei bleibt, dass man aus dem Grund Musik macht, weil es sonst keine Frauen gibt ... – das würde mich auch nicht interessieren. Also, ich mache ..., ich bin sehr vielfältig. Ich mache Popmusik, aber ich versuche mich auch mit politischen Diskursen auseinanderzusetzen, mit der gesamten Geschichte, die miteinfließen zu lassen in meine Musik ... – Feminismus, Popkultur, Philosophie, Tagespolitik. Das fließt alles mit rein, damit muss ich mich auseinandersetzen. Und ich möchte auch die Widersprüche stehen lassen, sowohl im Stil als auch in der politischen Artikulation ... Vielleicht gebe ich hier mal weiter.

TG: Ja, also ..., keine Ahnung ... Wir haben auch keine schwere Zeit gehabt, als wir mit Musik angefangen haben. Ich würd’ sagen: Wir haben erst mal Musik gemacht, weil wir Lust darauf hatten, Musik zu machen und uns irgendwie auszudrücken. Und sind aber sehr schnell zu ’nem Punkt gekommen – also schon mit unserer ersten Band, wo wir mit dreizehn Jahren angefangen haben -, dass wir gesellschaftliche oder politische Themen halt vertonen wollten. Damals war’s eben noch so: Wir waren beeinflusst von diesen Liedern gegen Ausländerfeindlichkeit, auch diesen Hip-Hopper-Geschichten, Advanced Chemistry und so was ... Ich würd’ aber sagen, dass Musik für mich eine Möglichkeit ist, mich auszudrücken, Stellung zu nehmen, auch gehört zu werden, und natürlich auch ein bisschen die Hoffnung, dass andere da ermutigt werden in ’nem Kampf oder in ’nem Engagement, um vielleicht was zu verändern. Aber es ist eben immer auch so mein persönliches Ding, dass ich das machen will und Musik machen will ...

„Musik ist für mich eine Möglichkeit, mich auszudrücken, Stellung zu nehmen, auch gehört zu werden, und natürlich auch ein bisschen die Hoffnung, dass andere da ermutigt werden in ’nem Kampf oder in ’nem Engagement, um vielleicht was zu verändern.“
Tapani Gradmann

MK: Tapani, du hast eingangs bemerkt, dass ein politisches Lied auch was mit politischer Bewegung zu tun hat. Also, dass es sie stützt, begleitet oder ins Leben ruft. Und wenn man zum Beispiel die deutsche Geschichte betrachtet, das Verhältnis von politischen Bewegungen und politischer Musik, gab es ja mal Hoch-Zeiten. Wenn man an die späten Sechziger denkt, wo es einen sehr engen Zusammenhalt gab zwischen der Studentenbewegung und Liedermachern. Dann später, vor allem im Ruhrgebiet, als die großen Stahlstreiks waren, wo eben Musiker sehr eng verbunden waren mit den Demonstrationen und Streiks, die stattgefunden haben. Oder in der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung gab’s ’ne sehr enge Verbindung ... Wie ist das heute? Gut, da ist Attac; die haben sogar eine CD rausgegeben, zum Jubiläum vor Kurzem, an dem sich viele Musiker beteiligt haben. Wie seht ihr das? Ist für euch eine politische Bewegung überhaupt da, der ihr euch unterstützend widmen wollt? Gibt es die überhaupt, oder braucht ihr die nicht, wenn’s sie nicht gibt?

Michael Kleff, Kutlu Yurtseven, Bernadette La Hengst und Tapani Gradmann

BLH: Natürlich gibt es politischen Bewegungen. Die gibt es immer wieder. Aber ich als Künstlerin möchte aufpassen, dass ich davon nicht vereinnahmt werde. Ich möchte nicht die Sprecherin einer Partei und noch nicht mal einer NGO sein. Sondern ich möchte als Denkerin, als Musikerin, als Künstlerin unabhängig sein. Aber dennoch sind es natürlich oft politische Bewegungen, die mich auch inspirieren zu Liedern. Ich glaube nicht daran, dass Lieder zuerst kommen und eine Bewegung initiieren, sondern eher andersrum. Also, Ideen, auch politische Visionen schwirren im Raum herum, und man muss die nur auffangen, aufmerksam hingucken oder sich Bewegungen anschließen. Und dann kann man daraus auch Lieder machen. Das geht so Hand in Hand. Es verschmilzt miteinander. Also ich war zum Beispiel seit 2000 öfter auf sogenannten „No Border Camps“ – weiß gar nicht, ob’s die jetzt noch gibt. An grenznahen Orten, aber auch zum Beispiel in Frankfurt am Flughafen, wo es um Abschiebepolitik ging. Und in Straßburg ging’s halt um EU-Außengrenzen und so weiter. Und da haben wir uns als Band, als Gruppe, als Agitationsgruppe formiert – wir nennen uns Schwabinggrad Ballett ... Weil nämlich zu solchen Camps normalerweise Bands gefragt werden, um die Popularität des Camps zu erhöhen. Die werden dann auf ’ne Bühne gestellt und soll’n dann dort spielen, und dann könn’ se schön wieder nach Hause fahr’n – was die meisten Bands machen. Und wir wollten uns dann selber dort einmischen, selber mitorganisieren und auch auf der Straße spielen. Also, da ist zum ersten Mal für mich politischer Aktivismus und Kunst zusammengeflossen. Die Gruppe existiert auch immer noch, da sind halt politische Aktivisten, Künstler, Filmemacher und Musiker dabei. Das war für mich eine sehr wichtige Form der Kooperation, wo diese Szenen sich zum ersten Mal begegnet sind. Daraus sind sehr viele andere Sachen für mich entstanden.

KY: Das, was du sagst: Sehr viel anderes ist dadurch passiert. Ich glaube, es gibt nicht mehr eine Bewegung, wo man sich hinbegibt und wofür man kämpft. Wenn ich für Microphone Mafia sprechen darf: Wir sind bei „Rock gegen Armut“, bei „Rock gegen Rechts“ ... Man sucht sich eben bestimmte Themen aus, die in dem Augenblick einen auch vom Persönlichen her sehr bewegen und die wichtig sind, und schaut sich das an und geht in mehrere Strukturen. Diese eine Form, zum Beispiel diese Friedensbewegung, die so dominant war, gibt’s ja meiner Meinung nach so nicht mehr. Es gibt ’ne Friedensbewegung, dann geht es eben gegen Rassismus, gegen Rechtsradikale, gegen Armut, gegen soziale Ungerechtigkeit, für Umverteilung – also, es gibt verschiedene Strukturen, die aber alle was miteinander zu tun haben. Nämlich mit dem Leben. Und deswegen setzt man sich eben dafür ein.

BLH: Na ja, in der Friedensbewegung – das hat sich auch extrem gewandelt. Seitdem Deutschland selber beteiligt ist an Kriegen, und seitdem überhaupt Antisemitismus innerhalb der Linken diskutiert wird, gibt’s da ja sehr viele verschiedene Fraktionen, und die Friedensbewegung wird dadurch auch auseinandergerissen. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, dass man sich nicht einer ganzen Bewegung hingeben kann, sondern dass man da genauer differenzieren muss. Und das finde ich eigentlich auch ganz gut. Die Widersprüche zu sehen.

TG: Ja, jetzt noch mal zu den Bewegungen. Interessanterweise ist es ja so, dass es zu dieser Krise, zur Krise des Kapitalismus, noch keine Bewegung gibt, jedenfalls nehme ich die nicht so wahr als große, starke Bewegung. Und diese Frage, „... gut für’s politische Lied?“, kann man da doch noch mal mit Nein beantworten, weil daraus bisher noch nicht so viel entsteht an Bewegung. Und sonst würde ich auch sagen ... Also, wir werden auch oft gefragt, ob wir auf irgendwelchen Soli-Veranstaltungen spielen, und machen das auch manchmal gerne, weil wir die Sache unterstützen wollen. Ich weiß jetzt nicht, ob wegen uns mehr Leute auf die Demos kommen – so ’n großen Namen haben wir dann doch noch nicht. Aber es ist schon eine Möglichkeit, sich zu beteiligen an ’ner Bewegung. Aber ich würd’ auch sagen, ich möcht’ mich da nicht so komplett vereinnahmen lassen, so als Sprachrohr dann dasteh’n ...

MK: Provokant gefragt: „vereinnahmen lassen“. Ich bleib mal bei dem Beispiel Pete Seeger. Oder wenn man, um ein Beispiel aus Deutschland zu nehmen, an Degenhardt denkt. Die sich ja schon als Sprachrohr bestimmter politischer Inhalte verstanden haben. Würde das auch als Vereinnahmung gesehen, und woher kommt die Angst vor der Vereinnahmung?

BLH: Bei mir geht’s darum, dass ich Parolen auch gar nicht so mag. Ich hab’ jetzt öfter schon von Widersprüchen geredet. Mir kommt es oft bei dieser Art von Liedermachern so vor, als ob sie sowieso nur zu denen sprechen, die derselben Meinung sind, also „preeching to the converted“. Würd’ ich jetzt auch mal in diese Diskussion reinwerfen. Worüber diskutiern wir? Sind wir nicht alle sowieso einer Meinung? Oder woll’n wir nicht mehr die Lücken dazwischen rausfinden? Wo wir nicht einer Meinung sind?

„Wir machen Lieder, um unsre Erfahrungen, unsere Eindrücke widerzuspiegeln. Ich setze mich nicht hin und sage: Was könnte jetzt die Menschen interessieren? Sondern: Was interessiert mich. Und wenn’s dann andere Menschen mit interessiert oder sie auch unterstützt, dann ist es schön und gut.“
Kutlu Yurtseven

KY: Mit Vereinnahmung meinen wir nicht, dass wir einer gewissen Bewegung zugesprochen werden, sondern dass wir nicht mehr als Künstler gesehen werden. Sondern nur noch als Objekt, das zu kommen hat. Man wird oft gefragt, ob man irgendwo hinkommen möchte, und es ist selbstverständlich, dass es gar nicht mehr auf die Kunst, auf die Musik ankommt ..., die dann nur etwas Unterstützendes ist. Sie ist dann nicht mehr Hauptbestandteil. Sie soll dann nur dazu dienen, diese Aktion in diesem Moment zu unterstützen. Und das ist eine Vereinnahmung. Dass man nur noch – auch ungewollt, das muss ja nicht immer böser Wille sein – benutzt wird. Das meint er, glaube ich, mit Vereinnahmung.

TG: Aber grundsätzlich, also: Für ’n Inhalt vereinnahmt zu werden, find’ ich jetzt nicht so schlimm. Wenn derjenige sagt: Ich steh’ da jetzt wirklich dafür – dann ist das okay. Also, wir haben zum Beispiel lange überlegt, ob wir für bestimmte Parteien, die uns angefragt haben, spielen wollen. Natürlich ist das jetzt noch keine direkte Vereinnahmung, aber man hat schon das Gefühl: Man muss sich jetzt davon distanzieren. Wo bleibt man selber, und wo übernimmt man dann quasi die Inhalte einer solchen Organisation.

MK: Das ist ein guter Punkt. Wenn wir mal zurückdenken an die letzte Bundestagswahl und das vergleicht mit Wahlen vor, sagen wir mal, fünfzehn oder zwanzig Jahren. Es gab Zeiten, wo Künstler sich sehr vehement dann auch bei Wahlen eingesetzt haben, für eine bestimmte Politik, für bestimmte Politiker oder Parteien. Bei dieser Wahl hatte man den Eindruck: Es gibt keine Künstler, die sich irgendwomit identifizieren wollen. Vielleicht aus gutem Grund – das ist jetzt ’ne andre Frage. Aber: Was sagt das über die Gesellschaft, dass sich Kultur aus der Ebene der Auseinandersetzung mehr und mehr herauszieht. Also: Mit dem Offiziellen, was hier jetzt in Berlin passiert, will eigentlich keiner mehr was zu tun haben. Man spielt für die Initiative gegen Rassismus oder im Theater in Freiburg die Bettleroper ..., man zeichnet also gesellschaftliche Realität nach, mischt sich ein, aber ist ganz weit weg von dem, was, zumindest formal, die Demokratie in Deutschland ausmacht – vom Parlament, den Parteien.

TG: Ich würd’ dazu sagen: Es herrscht ein Misstrauen gegenüber diesen Parteien, und ich find’ das auch berechtigt. Und ich find’ andersherum, dass solche Graswurzelbewegungen, die eigentlich auch wirklich noch demokratischer sind, dass die eben stärker sind. Vor drei Jahren, der G8-Gipfel in Heiligendamm, wo wir waren, wo wir auch – eher spontan – gespielt haben, das fand ich eine spannende Erfahrung, was da für ’ne Bewegung entsteht. Und umgekehrt, die Parteien ... – vielleicht ist es eine Art Resignation, dass man nicht mehr glaubt, dass die Partei jetzt die Wende bringt und es alles anders macht, sondern da ist eher ein Misstrauen diesem System der Parteien gegenüber.

MK: Was mich interessieren würde – auch das ist ein großer Unterschied zu vergangenen Zeiten: Man hat mit dem politischen Liedermacher halt meistens jemanden verbunden, der mit ’m Instrument auf der Bühne steht, meistens der Gitarre, und einen Text vorträgt – und das hat sich ja in den letzten Jahren sehr verändert. Oft sind es Sachen ..., also, wenn ich jetzt an das Theaterprojekt denke oder das Schwabinggrad Ballett oder an Hip-Hop – also, es hat sich ziemlich verlagert, auch vom Genre her, wie und wo politische Inhalte aufgegriffen werden und musikalisch präsentiert werden. Womit hat das zu tun? Wohl mit dem inneren Ansatz des Künstlers? Oder auch mit dem Publikum? Dass es dem Publikum nicht mehr reicht, eine Person da irgendwo steh’n zu haben, die irgendwas verkündet?

BLH: Ja, bei Musik oder bei Liedern geht’s ja nicht nur um die Texte. Form und Inhalt müssen halt irgendwie sexy Hand in Hand die Straße zusammen überqueren können. Oder tanzen. So seh’ ich das. Es gab so viele verschiedene Musikrichtungen, die auch irgendwie auf ’ne Art politisch waren, ohne immer in den Texten auch politisch sein zu müssen. Also allein Techno – da gibt’s überhaupt keine Texte, und trotzdem ist das eine Art politischer Umbruch gewesen in musikalischer Form oder eine Bewegung, das hat irgendwas befreit. Auch sich die Produktionsmittel aneignen zu können, dass dadurch jeder Musik machen konnte, der kein Instrument spielt und so weiter, das bedeutet ja alles was. So wie Punkrock: Do it yourself. So wie Hip-Hop natürlich auch. Irgendjemand schmeißt ’nen Beat an und Leute fangen an zu rappen und finden ihre Sprache. Und insofern muss das zusammengeh’n, es kann nicht dabei bleiben, dass ein Lied nur dann gehört wird, wenn es zu ’ner Gitarre oder zu ’nem Klavier vorgetragen wird.

KY: Ich glaube auch nicht, dass es den Leuten nicht mehr reicht – die Musiklandschaft hat sich einfach verändert. Dass jetzt eben Hip-Hop, dass Techno, dass ganz viele neue Musikrichtungen sich entwickelt haben und jetzt auch dazustoßen in das politische Lied. Also Rap ist ja ’ne politische Bewegung von jungen Schwarzen, die auch in Deutschland als erstes von Kids mit Migrationshintergrund aufgenommen worden ist. Und das ist ja schon eine Aussage – deswegen. Man braucht nicht viel. Von meiner eigenen Geschichte her: Hätte ich meinem Vater gesagt, ich will ’ne Gitarre kaufen, dann hätte er sie nicht gekauft, weil wir das Geld für die Türkei gespart haben. Aber es kam Rap; ich brauch’ nur ’n Blatt Papier und ’nen Beat, und schon leg’ ich los! Das ist eben die Offenheit, die Veränderung in der Musik. Es ist eben nicht immer nur akustisch und groß produziert, sondern einfach gemacht. Einfach mal machen!

Bernadette La Hengst

TG: Also, ich glaub’, was Bernadette schon gesagt hat. Dass es auch so ’n bisschen sexy sein muss, ’n bisschen cool. Wenn ich so alte Liedermacher höre – es gibt einige, Degenhardt zum Beispiel, die ich schon ziemlich genial finde, von den Texten und allem, aber es gibt auch viele, wo ich dann aussteige und denke: Ja, da ist so ’n Hampelmann mit ’ner Gitarre und so ... – keine Ahnung. Das ist einfach auch wichtig, dass es so ’n bisschen cool rüberkommt ...

„An das klassische Protestlied, das wirklich was bewirkt, glaube ich nicht.“
Bernadette La Hengst

MK:Wo steigst du da aus? Bei der Musik oder ...?

TG:Ja, bei der Musik, aber auch wie das aussieht irgendwie (Lachen im Saal) ... Nein, ich glaube, das ist einfach wichtig, dass man sich damit identifizieren kann. Dafür muss die Musik auch für Leute ansprechend sein. Und, mal abgesehen davon: Unsere Erfahrung von Liedern ist ja noch am nächsten dran an diesem Liedermacher, der da mit der Gitarre steht ...

BLH: Ich spiel’ heut’ auch mehr Gitarre als sonst; ich komm’ auch wieder zurück zu den Graswurzeln!

TG: ... nee, ich find’ wichtig, dass die Leute sich damit identifizieren können. Und deswegen eben auch andere Stile einfach.

KY: Bei den Doors oder so war es ja auch: Weil die die einfach auch cool fanden! Nicht nur, weil die Texte und die Musik super waren. Sondern weil das ganze Paket gestimmt hat. Und die Leute pushen konnte und nach vorne gebracht hat. Klar, ich meine: Der beste Text bringt dir nichts, wenn deine Musik nicht gut ist, und die beste Musik bringt dir nichts, wenn du „Massiv“ heißt ...

MK: Wie definiert ihr, was für euch ein politisches Lied oder politische Musik ist?

BLH: Schwierig ... Hm. Politisches Lied ..., also, ’n „gutes“ Lied könnt’ ich eher sagen. Politisches Lied? Weiß ich nicht. Ich finde, ’n gutes Lied schließt immer die Welt mit ein; ’n gutes Lied sorgt immer für Verwirrung; ’n gutes Lied lässt immer ganz viele Fragezeichen. Will keine Antworten geben, sondern Fragen. Das is’ ’n gutes Lied. Und es muss mich rocken. Manchmal darf’s mich auch schmusen, aber eher rocken.

TG: Also, ich weiß nicht, wie ich’s definieren würde. Ja, ich würd’ sagen, man muss irgendwie das Gefühl kriegen, aber das klingt jetzt auch ’n bisschen larifari ...

KY: Es gibt ja kein Rezept für „politisches Lied“ ... – fünfhundert Gramm davon, zweihundert Gramm davon ...

MK: Dann nehmen wir mal als Beispiel Konstantin Wecker. Er hat in einem Kommentar zur Bundestagswahl im Folker unter anderem eben diesen Satz geschrieben: „Wer in dieser Zeit nicht seine Stimmer erhebt für eine friedvolle Welt und gegen den Wahn der Menschheit, sich selbst und die Erde durch Gier und Dummheit gezielt zu vernichten, der hat es nicht verdient, eine öffentliche Stimme zu haben.“ Wecker hat das formuliert als Kritik an seinen eigenen Kollegen, dass sie eben sich zu wenig erheben gegen das, was in dieser Welt passiert. In dieser Form definiert er, was politische Kunst sein kann. Er fordert also eine engagierte Kunst.

BLH: Also, mir ist da zu viel Betroffenheit drin, muss ich sagen. Mich nervt diese Betroffenheit. Dass man nur dann politisches Sprachrohr sein kann, wenn einen die Verhältnisse so runterzieh’n, dass man ... – ich weiß nicht. Ich möchte da ein bisschen mehr Leichtigkeit manchmal auch drin haben, ’n bisschen mehr Ironie, bisschen mehr Gebrochenheit, und nicht nur dieses Eins zu Eins: Ich steh’ mit meinem ganzen Körper und mit meinem ganzen Leben für eine politische Bewegung ... Ich kann damit nicht so richtig was anfangen.

MK: Was stellst du denn dagegen? Was ist denn dann dein ..., also, wie viel von deinem Körper gibst du der Bewegung? (Lachen im Saal)

BLH: Ich geb’ natürlich meinen ganzen Körper ... – ahhh ... für was eigentlich? Für die Kunst! Ah, Scheiße, das wollt’ ich eigentlich nicht! Ich meine, ich bin ja angetreten, Kunst zu machen, damit ich bis mittags um zwölf im Bett liegen kann (Lachen) und ganz viel Alkohol trinken kann und Drogen nehmen und so was. Das ist ja eigentlich der Grund. Und jetzt, ja, ab vierzig, da sieht das dann noch mal anders aus. Ich hab’ ’ne kleine Tochter und jetzt renn’ ich von einem Theaterprojekt zum nächsten und verhalte mich so, als müsste ich jeden Tag die Welt retten. Also, es hat sich auch irgendwie verändert, aber ich versuche, es immer mal wieder mit Leichtigkeit zu nehmen. Und andern Leuten zuzuhör’n. Humor ist da ganz wichtig, Tanzbarkeit – also all das, was wir vorhin schon besprochen haben. Da geht’s auch um Pop, also Pop überhaupt im Körper aufzunehmen und nicht nur als so ein Konstrukt, so ’n diskursives Konstrukt, sondern das auch zu leben! Und da gehören auch Humor und Leichtigkeit dazu.

TG: Ja, das mit dem Humor, das ist eins unserer wichtigsten Sachen. Dass wir sagen: „Spaß kann auch Widerstand machen.“ Ist ja so ’n Spruch gewesen von dieser Reclaim-the-Streets-Bewegung, und das ist ganz wichtig, und das geht auch den Liedermachern teilweise ’n bisschen ab. Dass die oft sehr moralisch und Konstantin-Wecker-mäßig und sehr ernst ... Also, es muss nicht schlecht sein, aber es ist halt so ’ne sehr mühsame Herangehensweise. Also, eigentlich probieren wir in allen unsern Liedern ... Das einzige Lied, das nicht so lustig war, war das zur Wirtschaftskrise ... (Lachen im Saal)

MK: Die ist ja auch nicht lustig ...

„Der G8-Gipfel war eine einzige mediale Inszenierung ... Die brauchten die Leute, um die Straße zu blockieren, die brauchten die Bewegung, damit sie zeigen konnten, dass sie die Bewegung zulassen, dass Demokratie möglich ist ...“
Bernadette La Hengst

TG: ... aber sonst probier’n wir eigentlich immer, das irgendwie auch humorvoll zu verpacken alles. Und auch sehr ironisch zu sein. Manchmal ist das dann teilweise so ironisch, dass man so ’n bisschen fragt: Ja, wie meinen sie’s denn jetzt ...? Aber das ist eher eine Herangehensweise ...

BLH:... Ironie als Flucht! Sag’s ruhig.

TG: ... aber das ist eher eine Herangehensweise für mich als dieses sehr Moralische und sehr Pathetische.

MK: Aber welchen Grad an Verbindlichkeit hat dann für euch – also, ich sag’ es jetzt pauschal, weil ich euch alle drei anspreche -, welchen Grad an Verbindlichkeit hat dann das, was ihr singt. Also, wenn du sagst, ihr macht ein Lied eben zur Wirtschaftskrise, über die Banken, ist das dann eben schnell ’n Lied gemacht und ab zum nächsten? Ich denke gerade dran, im vergangenen Jahr hat der Kollege Kunze eine Platte gemacht mit dem schönen Titel Protest. Das war dann aber mehr ein Marketingkonzept, diese CD. Auch Kunze taucht nicht mehr so direkt auf bei den Aktionen und Veranstaltungen, wo wirklich Protest angesagt ist. Wenn man die Presseerklärung gelesen hat: Es war ein reines Marketing- und Verkaufskonzept. Mich interessiert, wenn jemand wie ihr politische Musik macht: Welche Verbindlichkeit, welche Bedeutung hat das im Gesamtkonzept eurer Arbeit? Also, dass wir so fokussiert sind auf dieses Thema, ergibt sich natürlich daraus, dass wir hier ein Festival Musik und Politik machen. Da ist es natürlich konsequent, dass ich in die Richtung gehe.

KY: Wir machen ja Lieder, um unsre Erfahrungen, unsere Eindrücke widerzuspiegeln. Allein das ist ja schon eine Verbindlichkeit. Ich setze mich ja nicht hin und sage: Was könnte jetzt die Menschen interessieren? Sondern: Was interessiert mich. Und wenn’s dann andere Menschen mit interessiert oder sie auch unterstützt, dann ist es schön und gut. Dann hat das Lied noch mal ’ne andere Kategorie bekommen. Wird’s noch mal erweitert. Aber im Endeffekt ist es ja erst mal: Was denke ich, als Künstler, über bestimmte Situationen, und auch als Mensch. Weil beides fließt ja ein. Es gibt ja nicht hier den Künstler und da den Menschen und beide diskutieren miteinander. Sondern wir machen nun mal Kunst, in dem Fall Musik und Theater, und unsere Gedanken bringen wir so zum Ausdruck. Andere schreiben Kolumnen, drehen Filme, und wir machen’s mit Musik. Und es ist immer noch verbindlich, auch wenn’s nicht jedem aus der Seele spricht oder für andere gemacht ist.

BLH:Was war grad’ noch mal genau die Frage?

MK: Welche Verbindlichkeit ... Nehmen wir mal die Bettleroper. Also, welche Bedeutung hat das? Ist das ein künstlerisches Projekt, abgeschlossen, das man auch als CD kaufen kann, und dann on to the next. Also in dem Kontext: Bernadette La Hengst als politisch denkender Mensch.

BLH: Also, natürlich ist bei so was wie der Bettleroper, wo man Laien mit einbindet, vor allem dann aus so einem Bereich von wirklicher Armut, die man dann auf ’ne Bühne holt – da trägt man schon große Verantwortung, dass diese Menschen nicht ausgestellt werden. Sondern uns war es von Anfang an wichtig, dass das ’ne Projektarbeit ist, dass die das Theaterstück mitentwickeln, dass sie nicht von oben etwas aufgesetzt bekommen, sondern ihre eigne Sprache finden und sich ausdrücken, und auch, dass es für sie in irgendeiner Art und Weise weitergeht. Also, da trägt man immer schon ’ne besondere Verantwortung. Die dürfen jetzt zum Beispiel da im Theater einmal die Woche proben und werden in verschiedene andre Stücke mit eingebunden. Das ist für mich zum Beispiel jetzt sehr wichtig, dass es nicht beim einem Projekt bleibt, sondern dass es irgendwie weitergeht. Dass sich daraus selber etwas entwickelt. Jetzt hab’ ich grad in Hamburg auch ’n Stück gemacht, in einem Jugendknast mit sieben Jungs ausm Jugendknast, was als Hip-Hop-Workshop gedacht war und dann aber ’n Theaterabend wurde, mit zum Teil filmischen Mitteln und mit vielen Liedern. Nur zwei von denen hatten Ausgang, der Rest musste halt von der Leinwand kommen. Und da zum Beispiel war’s mir ganz wichtig, dass die auch ’ne Weiterarbeit dort bekommen. Ich hab’ da jetzt organisiert, dass andere Musiker aus Hamburg mit denen Hip-Hop-Workshops machen. Vielleicht habt ihr ja auch mal Interesse, da hinzufahren? Insofern: Das hat schon ’ne Verbindlichkeit. Ich mache nicht ein Projekt und dann isses abgeschlossen und ich denk’ nicht mehr drüber nach ...

Publikum beim Folker-Gespräch

TG: Ja, ähm, is’ schwierig. Also, wie gesagt, wir arbeiten sehr, sehr viel mit Ironie, und es gibt halt Lieder, da ist es schwer, sich auch so ’n bisschen zu positionieren. Zum Beispiel haben wir so ’n Arbeiterlied, das klingt so wie ’n Arbeiterlied aus den Zwanziger-, Dreißigerjahren ... Und irgendwie würde ich jetzt nicht sagen, ich distanzier’ mich da total von, nein, wir meinen das überhaupt nicht so, sondern wir singen das schon so, aber weil wir’s einfach auch cool finden. Aber in dieser Form, in der wir’s machen, ist es natürlich ironisch. Weil das einfach, glaub’ ich, nicht mehr passt auch. Und ich hoffe und bin der Meinung, dass die meisten es auch so versteh’n. Und trotzdem bin ich halt auch beeindruckt von diesen alten Liedern, die haben total viel Kraft, find’ ich, die glauben halt total da dran, find’ ich halt irgendwie beeindruckend und deswegen ... – und daran glaub’ ich und darauf hoff’ ich auch so ’n bisschen, aber ’s ist halt ... Also, ich würd’ sagen: Ich steh’ schon hinter dem, was wir singen, steh’ ich schon ’n Stück weit oder eigentlich immer ... Wir sind ironisch, und das ist natürlich schwierig, sich dann zu sagen, das ist jetzt ... – wo fängt das jetzt an? Aber wir sagen jetzt nichts, was wir nicht auch irgendwie so meinen ...

BLH: Na, aber es ist doch auch gut, mit der Ironie zu spielen. Ihr spielt ja damit, dass es ’ne bestimmte Tradition von Arbeiterliedern gibt und dass man die aber nicht mehr eins zu eins heute singen kann, also erfindet ihr eure eigenen Arbeiterlieder, oder? Versteh’ ich das richtig so?

TG:Ja, aber das klingt schon wie so ’n altes Arbeiterlied dann wieder ...

BLH: Okay. Na, aber ich meine: Das muss ja sein. Man kann ja nicht eins zu eins Lieder übernehmen, die keine Gültigkeit mehr haben ...

TG: Ja, find’ ich auch. Also, ich find’ Ironie total wichtig für alles so, und das widerspricht auch nicht der Sache, dass man irgendwie an was glaubt und für was steht so. Aber das ist natürlich an manchen Punkten – grad’ bei diesem Lied ist es extrem schwierig, es so zu seh’n. Aber es ist auf keinen Fall so, dass wir ein Lied machen, und dann ist es ... egal.

MK: Mit Musik kann man sicherlich Geschichte hören. Also das Konzert heute Nachmittag ist ein gutes Beispiel dafür, wie eben die Microphone Mafia mit den Bejaranos ein Stück Geschichte präsentiert, in den Liedern, in den Texten, im Rückblick. Frage: Kann man mit Musik eben auch Geschichte machen? Kann Musik, kann das, was man macht, den Gang der Dinge beeinflussen? Wer den Film über Pete Seeger gesehen hat am Donnerstagabend: Da spielt ja das Lied „We Shall Overcome“ eine große Rolle, und Joan Baez sagt in dem Film an einer Stelle: „Ohne diese Verbindung der Bewegung mit dieser Musik wäre der Vietnamkrieg nicht beendet worden.“ Ist ’ne kühne These, aber daran anknüpfend eben die Frage: Wenn ihr auf der Bühne steht, ein Programm macht, wie die Oper oder wie dieses Projekt, das ihr von der Microphone Mafia im Moment macht – was glaubt ihr, was das transportieren kann, wenn die Leute dann nach Hause geh’n?

KY: Erst mal möchte ich sagen: Das ist kein Projekt mehr, sondern wir sind ’ne Band geworden! Und zu unseren Konzerten kommen zwölfjährige Schüler, aber auch, wie in Hamburg, eine 99-jährige Auschwitz-Überlebende. Und damit setzen wir einfach die Probleme. Innerhalb der Band, da kommen wir aus verschiedenen Kulturkreisen, verschiedenen Generationen, verschiedenen Musikrichtungen – irgendwie passt überhaupt nichts zusammen, eigentlich. Aber durch diese Unterschiede erkennen wir unsere Gemeinsamkeiten und nutzen die Unterschiede. Und bringen die zusammen. Und ich glaub, das ist einfach ein Beispiel, ’n Denkanstoß, dass es geht! Ob wir jetzt damit Geschichte machen oder ob wir was verändern – ich glaub’, man macht ja erst mal nur ’ne Bestandsaufnahme und will ’n Beispiel setzen. Was daraus entsteht? Wenn was daraus entsteht, isses schön, aber wenn wir immer was machen, damit wir Geschichte machen oder was Großes entsteht – das würde nicht funktionieren. Wir als Künstler innerhalb der Band, wir haben’s ja selber erst dadurch erkannt, was eigentlich passiert. Wir wussten’s ja selber nicht, als wir angefangen haben. Und das es sich so jetzt entwickelt hat, war überraschend, aber schön, und wenn andre Leute sich daran ein Beispiel nehmen – noch schöner! Aber ob wir jetzt unbedingt Geschichte machen müssen oder werden, das wissen wir nicht. Eher unwahrscheinlich ...

BLH: Ihr beschreibt ja auch Geschichte. Ist ja auch ’n anderer Anspruch. Eure Band holt sich die Geschichte in die heutige Zeit und versucht das aus der Jetztzeit zu beschreiben ...

„Es gehen immer noch genug auf die Straße – es sind nie genug, es könnten immer mehr sein –, aber trotzdem geh’n die Leute auf die Straße und erheben ihre Stimme und setzen Zeichen. Auch im E-Mail-Zeitalter klappt das immer noch gut.“
Kutlu Yurtseven

KY: Und vor allem auch mit der Jetztzeit zu verbinden. Die Ausmaße sind anders, aber es geht immer noch – auch in unserem Leben, auch in dem Leben meiner Nichte, meiner Neffen – um Ausgrenzung, um Hass, um Gewalt, nur in verschiedenen Formen. Und es ist immer noch aktuell, und es gehört immer noch zu unserem Leben. So traurig es auch klingt. Dass wir immer noch, nach so vielen Jahren, darüber rappen müssen. Es sind nur andere Facetten und andere Erscheinungsformen. Aber die Problematik ist immer noch gleich. Dass „Avanti Popolo“ da drin ist – da sind Parallelen drin. Ob sich Geschichte wiederholt, das weiß ich nicht – aber wir nutzen die Geschichte von damals für die Gegenwart und leider wohl auch, wie’s aussieht, für die Zukunft.

MK:Was meint ihr, welche Wirkung Musik hat, in dem Sinn?

BLH: Also, ich glaub’ an so was wie: Andern eine Stimme geben oder an Selbstermächtigung. Also diese Theaterprojekte, die ich mache, haben meistens was mit Laien zu tun, und ich versuche halt zu erreichen, dass die sich selber eine Stimme geben. Und versuche das quasi nur zu unterstützen, zu produzieren, sie dort hinzuheben. Also, das klassische Protestlied, das jetzt die Mauern zum Einstürzen bringt oder die Kriege stoppt ... – also ein Lied gegen den Afghanistaneinsatz stell’ ich mir ’n bisschen komisch vor. Ein Lied für Angela Merkel wär’ auch albern gewesen, braucht man auch nicht so richtig ..., kommt ja sowieso, wie’s kommen muss ... Also, an das klassische Protestlied, das wirklich was bewirkt, glaube ich nicht. Ich glaub’ eher, wie ich vorhin schon gesagt habe: Ich schnappe die politische Bewegung auf und versuche das zu verarbeiten in Popsongs.

TG: Also, ich hab’ doch dann schon zumindest die Hoffnung, dass es so ’n bisschen so ’ne Rückkopplung gibt und sich verstärkt. Also, ich glaub’ auch, dass ’ne Bewegung zuerst da ist und man das aufschnappt und die Ideen verarbeitet, aber was ich mir wünschen würde und was ich hoffe ... Wie gesagt, beim G8 habe ich das so erlebt, da haben wir gespielt an so ’nem Abend, es war eigentlich ziemlich agitatorisch. Wir hatten uns so ’n Theaterstück ausgedacht zu diesen G8-Staaten, und das hat die Leute total ... Die waren so krass begeistert, das hat total gerockt einfach, und ich glaube, das hat das noch mal bestärkt ... Das hat jetzt keine Geschichte geschrieben ...

BLH: Aber das ist ein ganz interessanter Punkt. Ich war auch beim G8-Gipfel und hab’ da auch mit dem Schwabinggrad Ballett zehn Stunden auf der Straße gespielt, bin über die Felder marschiert, wir haben Straßen blockiert und all so was. Und es war echt ’ne lustige Erfahrung und sehr intensiv, aber letztlich war’s doch ’ne Art Räuber-und-Gendarm-Spiel. Es war eine einzige mediale Inszenierung – also, die Bullen mit Hubschraubern wurden herabgelassen auf die Felder, kamen zu Pferd, übers Wasser, also mit allen möglichen Mitteln, die im Fernsehen dann alle auch wunderbar aussahen ... Also, die brauchten die Leute, um die Straße zu blockieren, die brauchten die Bewegung, damit sie zeigen konnten, dass sie die Bewegung zulassen, dass Demokratie möglich ist bei so ’nem G8-Gipfel.

TG:Das ist jetzt hart ...

BLH: Also, ich glaub’ das bringt alles überhaupt nichts, außer dass es Spaß gemacht hat und dass man mal ’n paar Leute getroffen hat, die man lange nicht geseh’n hat ...

TG: Okay, ja, wir haben uns gestern darüber unterhalten. Du siehst das ’n bisschen ähnlich wie Daniel [Thylmann, ebenfalls Mitglied bei The Incredible Herrengedeck; Anm. d. Red.], glaub’ ich. Also, is’ jetzt ziemlich hart, find’ ich. Ja, okay. Also, ich hab’ für mich das Gefühl gehabt, dieser Protest um G8 hat mich persönlich schon so ’n bisschen bestärkt in so ’ner Hoffnung halt, dass man was erreichen könnte, eben auf so ’ner basisdemokratischen Ebene. Ist vielleicht auch nur so ’n Traum, aber das, find’ ich, hat so ’n bisschen schon was gebracht. Es verstärkt sich einfach, und da spielt dann Musik auch ’ne ganz wichtige Rolle. Zu unterstützen ... sich selbst, so ’n bisschen. Man singt zu denen, die’s eh schon wissen, aber die fühl’n sich bestätigt. Und das find’ ich schon gut.

BLH: Ja klar, da geb’ ich dir Recht. Aber letztlich hat ja dieser Protest nicht wirklich etwas bewegt, sondern der war ein Programmpunkt des G8-Gipfels ...

Zwischenruf aus dem Publikum: Aber wenn er nicht da gewesen wäre, wär’s furchtbar ...!

BLH: Das ist wohl wahr, dann wär’s furchtbar. Und trotzdem glaub’ ich, das war alles kalkuliert. Und es war alles vorher so eingeplant. Es hat nicht die Bewegung von sich aus gemacht. Bitte.

KY: Ich hab’ grad’ eben nach dem Konzert eine interessante Erfahrung gemacht. Menschen beeinflussen ... Also, ich persönlich fand den G8-Protest auch wichtig, auch wenn inszeniert. Natürlich hat die Polizei die Propaganda genutzt. Ist doch klar, das machen sie immer, das war ja nicht nur beim G8-Treffen. Das war auch hier am 1. Mai in Berlin. Die Sache ist nur die: Ich hab’ grad’ ’ne persönliche Erfahrung gemacht. Eine Lehrerin kam auf mich zu, die von einem türkischen Jugendlichen bedroht wurde, dass er sie umbringen will wegen eines Schulkonflikts, und die ist dann nach einem Konzert zu mir gekommen und hat gefragt, wie sie mit diesem türkischen Jugendlichen umgehen kann. Sie ist nicht mehr in den Unterricht hineingegangen, weil sie Angst hat. Und wir haben uns unterhalten, und ich hoffe ... – ich werd’ jetzt einige Berliner Rapper, die auch was zu sagen haben, mal ansprechen. Leute wie Killa Hakan, die tagtäglich in Kreuzberg mit Jugendlichen arbeiten, die haben’s verstanden. Die machen schon ..., die haben so Stunts ...- das ist dann ’ne Erfahrung. Es sind zwischenmenschliche Sachen, die einen beeinflussen. Man braucht nicht immer die breiten Massen. Das war jetzt grad’ so ’ne Erfahrung, dass meine Musik was bringt. Weil sie ganz offen zu mir gesagt hat, sie war an dem Punkt: Nichts mehr mit Türken. Ja? Weil sie Angst hatte. Was ich auch vollkommen verstehe. Natürlich kann man jetzt sagen: Oh, einen hat sie jetzt und münzt das auf andere um ... Aber wenn ich um mein Leben Angst hätte, wüsste ich auch nicht, wie ich reagieren sollte. Ich kam mit ihr ins Gespräch, und sie will’s jetzt versuchen. Ich hoffe, ich kann. Ich hab’ ja auch kein Patentrezept. Aber das kann Verbindungen schaffen, die ihr helfen. Und dann haben wir schon was geschafft. Dann haben wir eine Person, und aus der einen Person ... – das ist jetzt wieder so ’ne Fantasie. Aber wenn wir langsam drauf aufbauen, auch bei den Protesten gegen den Castorzug, bei allen Protesten: Es wird immer inszeniert, und es ist auch klar, dass da immer die gleichen hinkommen, und das ist auch gut so. Und dass wir dann immer auch vier, fünf noch mitnehmen, und dass wir einfach da bleiben. Ich glaub’, wenn wir darauf eingehen, dass es inszeniert ist, und dann resignieren, dann haben sie genau das ...

Michael Kleff, Kutlu Yurtseven, Bernadette La Hengst und Tapani Gradmann

BLH: Nee, nee: Noch besser inszenieren, heißt das dann! Der bessere Regisseur sein als die andere Seite ... (Geraune im Saal) Schönes Murren! Find’ ich gut.

MK: Wir geh’n gleich auch hin zum Murren. Eine Frage hab’ ich noch hier in dieser Runde, bei der mich die Antwort sehr interessiert: Welche Rolle spielt Technologie im Bezug auf das Verhältnis von Musik und Politik. Auch da ein Rückgriff in die Geschichte: Heute findet ja Protest teilweise im Internet statt, dadurch dass man einen Brief mitunterschreibt, drückt auf den Knopf: Ja, ich protestiere auch, und damit hat man seine Seele, sein Gewissen beruhigt. Weil man ja unterschrieben hat. Aber man muss nicht mehr aus seinem Sessel raus und auf die Straße. Es gab Zeiten, wo es kein Twitter gab und kein Internet, da musste man auf die Straße, wenn man protestieren, sich einsetzen wollte, und da war’s dann auch wichtig, dass man Lieder hatte, die man mitsingen konnte. Lieder wie „We Shall Overcome“ gibt’s eigentlich auch nicht mehr, neue ! Die alle ..., die haben ja auch einen bestimmten Rhythmus, eine bestimmte Diktion, wo jeder mitsingen kann. Hat insofern die technologische Entwicklung da nicht auch ’ne große Role gespielt, was das Verhältnis von Musik und Politik betrifft? Weil ja auch ’ne gewisse Vereinzelung stattfindet.

BLH: Hab’ ich jetzt nicht so richtig verstanden mit der Vereinzelung. Also, auf den Demos, da läuft ja ganz viel Musik, auf den Wagen. Da läuft halt nicht mehr Pete Seeger, da läuft halt als klassisches anderes Klischee südamerikanische Musik oder Reggae – geht mir auch auf die Nerven, muss ich sagen. Also, da muss man auch noch mal hinterfragen: Wieso hör’n die da immer nur dieselbe Musik? Genau wie früher Pete Seeger läuft heute halt das.

MK: Ja, aber es wird eben nicht mehr gesungen ...!

BLH: Ach doch, da wird schon auch mitgesungen. Und dann laufen da natürlich immer noch Slime oder Ton Steine Scherben, das sind ja auch schon alles etwas ältere Bands. Da wird schon mitgesungen. Nur, find’ ich, muss man halt genau wie bei allem anderen auch diese Form noch mal hinterfragen. Es gibt natürlich zu wenig Lieder, die andere Stilmittel benutzen. Oder, wie seht ihr das? Auf Demos?

KY: Ja, Musik machen, ist natürlich einfacher. Jeder Jugendliche sitzt an seinem Rechner und macht ’n Beat und singt dazu, rappt dazu – gar nicht mit der Ambition, dass die Leute das mitsingen. Einfach erst mal: Er will schreiben! Und das gab’s eben damals nicht. Es gab Bands wie Ton Steine Scherben – die war’n eben die Aushängeschilder. Es gibt jetzt ’ne viel breitere Masse an Leuten, die Musik machen können. Und, ganz ehrlich: Ich find’s auch nicht so schlimm, wenn man mit ’ner E-Mail seine Stimme für oder gegen was einsetzt. Es ist ein bisschen unfair, den Leuten in Dresden oder beim G8 zu sagen: Die stehen nicht auf! Es läuft ja parallel. Wir unterschreiben jetzt nicht mehr per Hand, sondern per E-Mail. Aber es gehen immer noch genug auf die Straße – es sind nie genug, es könnten immer mehr sein –, aber trotzdem geh’n die Leute auf die Straße und erheben ihre Stimme und setzen Zeichen. Auch im E-Mail-Zeitalter klappt das immer noch gut.


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Update vom
09.02.2023
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