FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

ich kann meine Verwunderung nicht verhehlen. Ich hätte schon gedacht, dass das Thema „ARC und Scientology“ Reaktionen in den Reihen der Folker-Leserschaft auslösen würde. Das ist von wenigen Ausnahmen abgesehen – siehe die Leserbriefe in dieser Ausgabe – nicht geschehen. Offensichtlich spielt die Einordnung von Musik in politische Zusammenhänge eine geringere Bedeutung als von mir angenommen. Davon zeugt auch die Tatsache, dass andere Musikmagazine sich der neuen Veröffentlichung von Clannad auf dem ARC-Label angenommen haben, ohne den umstrittenen Sachverhalt auch nur anzusprechen. Und die Jury der Weltmusikmesse WOMEX hat ARC, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Liste der zehn besten Weltmusiklabels des Jahres aufgenommen.

In gewisser Weise passt dies jedoch in das größere Bild vom Stand der Diskussion in der Szene. Überwachung durch NSA mit Hilfe von Facebook und Google scheinen für die meisten Musikkonsumenten und -produzenten ebenso wenig ein Problem darzustellen wie zum Teil unhaltbare Arbeitsbedingungen bei Amazon. Die französische Nationalversammlung hat übrigens ein Gesetz verabschiedet, das Buchhändler vor der Konkurrenz durch Internetanbieter schützen soll. Demnach ist es dem Onlinehandel fortan untersagt, bereits rabattierte Bücher auch noch kostenlos zu versenden. Kulturministerin Filippetti warf in der Debatte insbesondere Amazon vor, mit dieser Praxis Dumpingpreise zu verursachen, die zum Sterben der Buchläden beitragen. Ich vermisse Aktionen in unserem Land, wo wir weder bei Amazon kaufen noch über Amazon verkaufen! Wo ist die Kampagne, seinen Facebook-Account zu kündigen, solange der fälschlicherweise als soziales Netzwerk bezeichnete Dienst als willfähriger Partner des US-Überwachungsstaates auftritt. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich jetzt sowohl Facebook als auch Google dem American Legislative Exchange Council angeschlossen haben. ALEC ist eine Organisation, deren Ziel vor allem die Erarbeitung und Verbreitung von Gesetzesvorlagen mit rechtsgerichteten beziehungsweise unternehmensfreundlichen Inhalten in den USA ist. Na, wenn das kein Grund ist, den Like-Button anzuklicken!

Das „Sterben“ beziehungsweise Wegreformieren von Musiksendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht weiter. Jüngstes Opfer ist das Musikprogramm des Internetsenders DRadio Wissen. Ende des Jahres wird dort die Reihe Lärm eingestellt, wo bislang unter anderem Alan Bangs jeden Sonntag seinen Nightflight präsentierte. Es gab Spezialsendungen zu Folk ebenso wie zu Weltmusik. Wie das neue Programm aussehen wird, weiß noch niemand. Allerdings, so heißt es im Kölner Funkhaus, will man das Programm auf ein jüngeres Publikum hin ausrichten. Was immer das auch heißt! Erst einmal will der Sender einen Musikredakteur einstellen.

Wo wir gerade bei den Öffentlich-Rechtlichen sind, denen wir unsere Gebühren in den Rachen schmeißen. Der neue WDR-Intendant Tom Buhrow hat massive Kosteneinsparungen im größten ARD-Sender angekündigt. Der frühere Tagesthemen-Moderator kündigte an: „Im Klartext kommt der ganze WDR auf den Prüfstand.“ Ich schlage vor, dass Gegenstand dieser Prüfung alle ARD-Anstalten sein sollten. Und da besonders ausgegliederte Tochterfirmen, die sich unter anderem um Werbung und Vermarktung kümmern. Beim Deutschlandradio ist das die Deutschlandradio Service GmbH. Was die konkret machen? Hier ist ein Beispiel: Beim Liederfest der Liederbestenliste im Mainzer Unterhaus war im vergangenen September Deutschlandradio Kultur mit einem eigenen Stand vertreten. Dazu wurden aus Berlin sowohl eine Mitarbeiterin als auch der Stand selbst und die entsprechenden Materialien nach Mainz geschickt. Die Kosten dafür dürften sich auf mehrere Hundert Euro belaufen. Die Frage, wieso Deutschlandradio Kultur dafür Geld hat, wo es für den Mitschnitt der Veranstaltung – also für Programminhalte – gerade einmal 500 Euro zur Verfügung stellt, wurde bis zur Drucklegung dieser Ausgabe unter Verweis auf Krankheit und Urlaub nicht beantwortet. Gespart hat das Deutschlandradio dann aber doch. Zumindest an der in Mainz anwesenden Mitarbeiterin. Für eine Eintrittskarte für das Liederfest reichte das Geld nämlich nicht. Die spendierte dann die Liederbestenliste, damit die junge Dame sich während des Konzerts nicht vor verschlossenen Türen die Beine in den Bauch stehen musste.

In eigener Sache will ich an dieser Stelle auch noch einmal auf die in letzter Zeit um sich greifende Unsitte eingehen, wonach Künstler, Theater und Kulturvereine, die Rezensionen über ihre eigenen Darbietungen beziehungsweise Aktivitäten auf ihre Websites gestellt haben, mit erheblichen Geldbeträgen abgemahnt worden sind. Einen offenen Brief in dieser Angelegenheit von Kulturschaffenden, Kulturvereinen, Journalisten und Kulturfreunden an die Zeitungsverleger und entsprechenden Rechteinhaber habe auch ich in meiner Eigenschaft als Folker-Chefredakteur unterschrieben (siehe Kasten in der „Szene“). In diesem Zusammenhang möchte ich klarstellen, dass Folker-Artikel und -Rezensionen mit Hinweis auf Autor und Zeitschrift sowie entsprechendem Link auf Anfrage grundsätzlich frei zur Verfügung gestellt werden. Eine entsprechende Freigabe ist Teil der Honorarvereinbarung mit unseren Autorinnen und Autoren.

Bleibt mir nur noch, Sie wieder einmal auf die – wie ich finde – spannende Mischung der in dieser Ausgabe enthaltenen Artikel hinzuweisen. Der Inhalt reicht von Dota, der „Meisterin der leisen Töne“, und madegassischer Musik aus Brüssel mit Lala Njava über den kanadischen „Geschichte-Erzähler“ James Keelaghan und das Ende der Gruppe Das Blaue Einhorn bis hin zu Musikpower aus Simbabwe mit Mokoomba und den neu eingespielten Liebesliedern von Wolfgang Niedecken. Zusätzlich werfen wir einen Blick auf die junge Musikszene Belfasts und erfahren, was sich in diesem Jahr bei der Musikmesse Mercat de Música Viva de Vic in Spanien getan hat.

In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß bei der Lektüre.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Wie schrieb Woody Guthrie in seinem Song „Jinga Ling“ über das Land der Freien und Mutigen: „The free’s in jail an’ th’ brave in graves.“ Dazu passt der Beitrag über Countrymusik unterm Regenbogen in diesem Heft. Nicht nur wegen des Umgangs mit der Homophobie im Land sollte man die USA endlich komplett in eine geschlossene Anstalt einweisen. Auch die jüngste Debatte um den Haushalt zeigt einmal mehr, dass die Vereinigten Staaten von einer Handvoll Verrückter geführt werden. Dass es einer kleinen Gruppe von Superreichen und Reaktionären gelingt, nicht nur ihr Land, sondern die ganze Welt als Geisel zu nehmen, um den Menschen ein Mindestmaß an Gesundheitsversorgung zu verweigern, ist geradezu kriminell zu nennen. Zumal dies ganz im orwellschen Sinne einer Umwertung aller Werte mit der Begründung geschieht, eine Krankenversicherungspflicht stelle eine Einschränkung der Freiheit dar …

Update vom
09.02.2023
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