FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

was verbindet Heino und Peter Maffay miteinander? Der eine wurde wegen seiner deutschen Volkslieder oft in die rechte Ecke gestellt, der andere als Schlagerfuzzi beschimpft. Doch nachdem der Rapper Bushido Ende des vergangenen Jahres bei der Bambi-Verleihung mit einem Integrationspreis geehrt worden war, bezogen beide Position. Heino äußerte sich „zutiefst empört, dass man einem gewalttätigen Kriminellen wie Bushido den Bambi verleiht.“ Mit diesem Mann wolle er nicht auf eine Stufe gestellt werden. Heino ließ den Worten Taten folgen und schickte seine goldene Trophäe, die er 1990 erhalten hatte, an den Burda-Verlag zurück. Peter Maffay, der Bushido bei der Bambi-Verleihung den Preis sogar noch überreicht hatte, kündigte wenig später seine Zusammenarbeit mit Bushido für ein gemeinsames Projekt auf. Er habe geglaubt, der Rapper habe aus seiner Vergangenheit gelernt. Doch auf Worte seien keine Taten gefolgt, meinte Maffay zur Begründung. „So lange er immer noch seine Inhalte, wie etwa gewaltverherrlichende Videos transportiert, kollidieren unsere Standpunkte extrem.“

Auch Bushidos Rapper-Kollegen Kanye West und Jay-Z haben in jüngster Zeit nicht gerade zur politischen Glaubwürdigkeit ihres Genres beigetragen. Beide machten sich bei den Anhängern der Occupy-Bewegung unbeliebt. West posierte lediglich für ein paar Fotos am Rande der Proteste und verschwand dann wieder in seiner Luxuslimousine. Jay-Z präsentierte sich als cleverer Geschäftsmann: Aus dem Slogan „Occupy Wall Street“ machte er den Spruch „Occupy All Streets“, ließ diesen auf T-Shirts drucken und verkaufte sie für 22 Dollar das Stück. Der Occupy-Bewegung kam jedoch kein Cent aus dem Verkaufserlös zugute. „Warum das denn?“, meinte der Musiker in gewohnt arroganter Manier. Wie rappte Jay-Z einst so treffend? „I'm a business, man“. Die Proteste von Occupy-Anhängern, Fans und Medien blieben jedoch nicht ohne Wirkung: Die Produktion des umstrittenen T-Shirts wurde kommentarlos eingestellt. Im „Gastspiel“ beschäftigen sich übrigens Mike Matejka und Bucky Halker mit der Frage nach dem Verhältnis von Occupy Wall Street, Gewerkschaften und Musik in „Wo ist der Soundtrack?“

Altmeister Bob Dylan gibt in diesem Zusammenhang ein Beispiel von Selbstlosigkeit ab. Vor 50 Jahren erschien nicht nur sein erstes Album, sondern auch die Menschrechtsorganisation Amnesty International bekam 1962 offiziell ihren Namen. In Erinnerung daran erscheint im Januar unter dem Titel Chimes Of Freedom eine 4-CD-Box mit über 70 Coverversionen von Dylan-Songs. Zu den Interpreten gehören u. a. Sting, Patti Smith, Joan Baez, Jackson Browne, Taj Mahal und Eric Burdon. Die meisten Stücke sind bislang unveröffentlicht. Bob Dylan selbst ist mit dem Titelsong aus dem Jahr 1964 vertreten. Die Verkaufserlöse sollen Amnesty International zugutekommen.

Im letzten Heft des vergangenen Jahres würdigte Thomas Rothschild den Vater aller politischen Liedermacher: Franz Josef Degenhardt. Sein Tod wenige Wochen vor seinem 80. Geburtstag ließ Rothschilds Gastspiel zu einem Nachruf werden. Einen Tag nach Degenhardts Tod beging Wolf Biermann seinen 75. Geburtstag. Es ist sehr aussagekräftig, die Berichterstattung über diese beiden Ereignisse in den deutschen Mainstreammedien miteinander zu vergleichen. Biermanns „große Klappe“ wurde in der Frankfurter Rundschau damit entschuldigt, dass er sich „seine Unbescheidenheit verdient“ habe, weil er „für eben jene große Klappe auch seinen Kopf hingehalten“ habe. Die Nachrichtenagenturen bis hin zu einem Beitrag sogar in der Tageszeitung ließen dagegen kein Klischee aus, um die Rolle von Degenhardt als politische Stimme und Gewissen einer Generation dadurch zu diskreditieren, dass er sich zum willigen Sprachrohr der Kommunisten gemacht habe. Dabei nahmen es einige Autoren auch mit den Fakten nicht so genau. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass Degenhardt nach seinem Eintritt in die DKP verkündete: „Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf.“ Doch zwischen diesen beiden Aussagen liegen zehn Jahre! Die zitierte Liedzeile stammt aus dem Titel „Manchmal sagen die Kumpanen“ von der 1968 erschienenen LP Degenhardt Live. Da war der Künstler noch Mitglied der SPD. Der DKP trat er erst 1978 bei. Soviel zum Thema journalistische Sorgfalt.

Das Jahr 2012 bringt eine ganze Reihe runder Geburtstage. Reinhard Mey und Hannes Wader werden 70. Und der Musiker, der das Cover dieser Ausgabe des Folker ziert, würde am 14. Juli 100 Jahre alt. Wir begehen Guthries Geburtstag schon in diesem Heft, da nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland das ganze Jahr über auf Festivals sowie mit Konzerten und Veranstaltungen eines Künstlers gedacht wird, dessen Lieder heute aktueller denn je sind. In „Pretty Boy Floyd“ bringt Woody Guthrie in zwei Zeilen – „Manche Leute rauben dich mit einem Revolver aus, andere mit einem Füllfederhalter“ – zeitlos auf den Punkt, was viele Menschen fühlen: Politik und große Konzerne stehlen sich aus der Verantwortung. Den Auftakt der auch vom Folker präsentierten Veranstaltungen macht Ende Februar das diesjährige Festival Musik und Politik in Berlin. Zum Guthrie-Schwerpunkt gehört neben einer Ausstellung, einer Diskussionsrunde und einem Film ein Konzert mit dem Ensemble Woody Sez, Wenzel & Band sowie Tom Morello. Informationen über das Festival und alle anderen geplanten Veranstaltungen rund um Woody Guthries 100. Geburtstag finden sich im Internet unter go! www.woody100.de . Statt Guthries Biografie in der Titelgeschichte nachzuzeichnen – das geschieht in der Reihe „Exklusiv auf www.folker.de“ unter der Überschrift „All you can write is what you see“ –, untersucht Hans-Eckardt Wenzel die Rolle des Sängers als Poet. Für Wenzel war Woody Guthrie ein Mann, der „den ewig diskutierten Widerspruch zwischen ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ mit einfachsten Mitteln aufzuheben vermochte“.

Mit Artikeln u. a. über Aldona, die neue Stimme aus Polen, einer Erinnerung an den portugiesischen Liedermacher und Poeten José Afonso, einem Porträt des Chansonkünstlers Sebastian Krämer und über das kanadische Festival Celtic Colours deckt die aktuelle Folker-Ausgabe wieder einmal das weite Feld von Folk, Lied und Weltmusik ab. Und Ulrich Joosten, den ich an dieser Stelle als Nachfolger von Claudia Frenzel in der Funktion des Szeneredakteurs begrüße, würdigt unter der Überschrift „Tschüss, Bayernland“ das Werk der Biermösl Blosn. Nach 35 Jahren gehen die Well-Brüder getrennte Wege.

Ulrich Joosten vertritt zugleich den im Vaterschaftsurlaub befindlichen Endredakteur Stefan Backes für die ersten drei Folker-Ausgaben in diesem Jahr. Gabriele Nawa übernimmt in dieser Zeit von Stefan Backes das Lektorat. Herzlich willkommen.

Und damit möchte ich Sie in die Lektüre der ersten Nummer des Folker-Jahrgangs 2012 entlassen.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Statt neuer Nachrichten aus dem Land der Freien und Mutigen soll es an dieser Stelle aus gegebenem Anlass eine Klarstellung geben. Um eventuell auftauchenden Irritationen zu begegnen, mache ich es auf die bewährte anglophile Art: „I declare an interest!“ Ich bin seit über zwölf Jahren mit Nora, der Tochter von Woody Guthrie verheiratet. Wobei mein Interesse an dem US-Balladenschreiber und Musiker jedoch schon in den späten Sechzigerjahren aufkam, als ich die deutschen Liedermacher und ihre nordamerikanischen Vorbilder entdeckte. Mein erstes Interview mit Arlo Guthrie habe ich am Rande des Newport Folk Festivals 1985 geführt. Mein erster Rundfunkbeitrag über Woody Guthrie lief zwei Jahre später: ein WDR-Zeitzeichen.

Update vom
09.02.2023
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