FOLKER – Rezensionen

Rezensionen BÜCHER


HANS THEESSINK
Big Bill’s Guitar
Aufgeschr. v. Dietmar Hoscher

Wien: Echomedia Buchverlag, 2011
173 S.
ISBN 978-3-902672-38

Hans Theessink, Musiker mit sonorer Stimme und lässigem Groove, ist ein Phänomen. Im holländischen Enschede geboren, zudem mit einem dänischen Pass ausgestattet und in Wien lebend, ist er, neben John Mayall, Rory Gallagher, Eric Clapton und den Rolling Stones einer der wenigen weißhäutigen Europäer, die lobend [!] im All Music Guide: Blues erwähnt werden. Mit mehr als zwei Dutzend Alben hat er sich offenbar in eine besondere Güteklasse gespielt. Von seiner ersten LP, 1970 auf dem Autogram-Label des Folkenthusiasten Willy Schwenken im westfälischen Nottuln erschienen, bis hin zu seinem eigene Label Blue Groove war es ein weiter Weg. Unablässig tourend, hat er Bekanntschaften mit Flaco Jimenez, Terry Evans, Donovan, Wolfgang Puschnig, Jon Sass, Arlo Guthrie und Derroll Adams geschlossen – sie alle sind auf seinen Alben zu hören, welche dem Rezensenten im All Music Guide Kopfzerbrechen bescherten: Sie seien alle so gut, dass es schwierig sei, eines davon besonders zu empfehlen. Mittlerweile über sechzig Jahre alt, sei es Zeit für einen Rückblick, meinte Dietmar Hoscher, Freund und Förderer der Wiener Musikszene. So traf man sich, mitsamt Mikrofon und Wein, und Hoscher gelang es, dem eher introvertierten Musiker seine Lebensgeschichte entlang ausgesuchter Lebensstationen zu entlocken. Theessink, privat lieber Schweiger als Dummschwätzer, erweist sich im Gespräch als wortgewandter Fachmann, der Blues nicht nur singen, sondern auch über seine Begegnungen mit Musikern wie Derroll Adams oder Son Thomas interessant erzählen kann. So führt diese Gesprächsbiografie in die Lebensgeschichte Theessinks ein und gewährt zudem Einblicke in eine Welt, in der, so wird es erzählt, Freundschaften mehr als Geld zählt und alte Achtundsechzigerideale noch in Ehren gehalten werden.

Harald Justin

Bezug: go! www.echomedia-buch.at

 

HANS THEESSINK – Big Bill’s Guitar


REINHARD GAGEL
Improvisation als soziale Kunst:
Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität

Mainz: Schott Music, 2010
207 S., mit s/w Abb. [Üben & musizieren – Texte zur Instrumentalpädagogik]
ISBN 978-3-7957-0727-9

Über Jahrhunderte war innerhalb oraler Tradierung, der mündlichen Weitergabe von Klangstrukturen, das Improvisationsvermögen der Sänger oder Instrumentalisten ein Basiselement jeglichen Musizierens. Es verlangte Kreativität des Solisten ebenso wie soziale Kompetenz bei Ensembleleistungen. Findet man heute noch großartige Improvisationskunst außerhalb Europas und in klassikfernen Musikstilen, wird der Verlust, der über verschriftetes, sprich genormtes Musizieren Einzug in unsere Musikschulen gehalten hat, langsam auch in diesen Kreisen bewusst. Vor diesem Hintergrund macht sich ein Praktiker, ein Musikpädagoge nämlich, über fünf Kapitel auf die Suche nach der verlorenen Lust am oder auch dem verlorenen Mut zum Improvisieren. Der Autor nähert sich dem Thema über philosophische, psychologische und musikdidaktische Blickwinkel, bietet Einblicke in ein großes Spektrum an relevanten theoretischen Fragen, die sich allerdings erst stellen, wenn die spontane, unverbildete Freude am Musikspielen nicht mehr vorhanden ist. Aspekte wie Affektlogik, nonverbale Ausdrucksformen, situative Wirkfaktoren, die Klangentscheidungen beeinflussen können, werden aufgezeigt und Anwendungsbeispiele für den Unterricht vorgeschlagen: „Was tut ein Improvisationsleiter?“ Die Antwort darauf fällt ebenso vage aus wie die abschließenden titelgebenden Thesen zur Improvisation als „soziale Kunst“. Das Buch setzt Vorkenntnisse und ein Interesse an themenverwandten Überlegungen voraus, die durch eine sorgfältig zusammengestellte Bibliographie weiterverfolgt werden können.

Cathrin Alisch

Bezug: go! www.schott-musik.de

 

REINHARD GAGEL – Improvisation als soziale Kunst


LILIAN VAMMEN, MAREN HALLBERG LARSEN
Buestrøg og Bælgtræk:
Om en spillemandsfamilie fra vestjylland; Fortælling og noder

1. Aufl. O. O.: Go’ Danish Folk Music, 2010
83 S., mit zahlr. Noten u. Abb., plus CD.
ISBN 978-87-991919-1-8

Buestrøg og Bælgetræk
Musik Fra En Vestjysk Spillemandsfamilie

(Go’ Danish Folk Music GO1910, go! www.gofolk.dk )
31 Tracks, 60:01

Bogenstrich und Balgenzug. Natürlich geht es hier um Geige und Akkordeon, Hauptinstrumente der dänischen traditionellen (Tanz-) Musik. Das Buch ist ein von Maren Hallberg, bekannt als Akkordeonspielerin der Gruppe Svøbsk, sorgfältig zusammengestellter Beweis für die ungebrochene Tradition dänischer Spielmannsmusik. Inspiriert dazu wurde sie durch einen Besuch mit ihrem Dozenten Carl Erik Lundgaard bei Lilian und Gitte Vammen im Jahr 2003. Es geht um die seit etwa 1870 musizierende Spielmannsfamilie Sørensen aus Westjütland, wo Lilian Vammen geb. Sørensen (Akkordeon) traditionelle Tanzmusik in der vierten Generation spielt, zunächst im „Familie Sørensen Orchester“ mit ihrem Vater Thomas Ingolf und dessen Vetter Helge, und dann seit über dreißig Jahren auch zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Gitte (Piano). Aber das scheint noch nicht das Ende zu sein. Der 1993 geborene Jonathan Fjord (fünfte Generation) hat sich dem Jazzpiano verschrieben, aber daneben einige traditionelle und eigene Folkmusikstücke auf seiner Geige eingeübt, was er fortsetzen will. Allerdings ist die junge Folkszene in Dänemark, wie in den meisten Ländern, musikalisch im Aufbruch. Eine direkte Übernahme der Tanzmusik von Generation zu Generation ist eher unwahrscheinlich. In dem Buch findet man eine ausführliche Familiengeschichte der vier Generationen mit besonderer Berücksichtigung von Lilian und Gitte Vammen. Außerdem ein Kapitel über deren persönlichen Musik- und Tanzstil und ihr Repertoire. In einem weiteren wird die Frage behandelt, warum diese Folkmusiktradition überlebt hat. Dass es in Deutschland so etwas kaum gibt, ist kein Wunder bei zwei Weltkriegen und den dadurch zerrissenen Familien. Wer nur ein wenig die skandinavische Schriftsprache kennt, wird hier sehr spannend zu lesende authentische Informationen finden. Außer dem Textteil sind die Noten von 31 Melodien aus dem Repertoire des Familienorchesters abgedruckt. Sie wurden von Maren Hallberg übertragen und enthalten auch einige Verzierungen, wie sie von Lilian Vammen gespielt werden.

Die CD enthält alle 31 Stücke. Ein Drittel davon wurde von Lilian und Gitte Vammen allein, der Rest zusammen mit Maren Hallberg, Jørgen Dickmeiss, Mette Katrine Jensen oder Kristian Bugge eingespielt. Alle vier sind übrigens Absolventen der Folkmusiklinie am Fynske Musikkonservatorium. Der Herausgeber Erling Olsen von Go’ Danish Folk Music hat sich wieder einmal sehr verdient gemacht um die dänische Folkmusik.

Bernd Künzer

Bezug: go! www.gofolk.dk

 

LILIAN VAMMEN, MAREN HALLBERG LARSEN – Buestrøg og Bælgtræk


ERNST MOLDEN
Liederbuch: Songtexte aus fünfzehn Jahren
Mit einem Vorwort von Robert Rotifer

Wien: Deuticke, 2011
192 S.
ISBN: 978-3-552-06157-6

Ernst Moldens Liederbuch beinhaltet, was der Titel verspricht: ein Lesebuch mit den zwischen 1996 bis 2011 entstandenen Texten zu den Liedern des Wiener Poeten, Schriftstellers und Musikers. Ob es eine gute Idee ist, Liedtexte unabhängig von der Musik, quasi als Gedicht, noch einmal zu betrachten, fragt sich bereits im Vorwort Molden-Freund und Journalist Robert Rotifer und erklärt seine ausgleichende Antwort mit persönlichen Reminiszenzen. Tatsächlich bedarf es einer gehörigen Portion Interesses an der Person Moldens, um die frühen Texte noch goutieren zu können. Molden, Spross einer Verlegerfamilie, probte den jugendlichen Aufstand als Dandy im Rotlichtmilieu. Wem derlei Formen des Aufbegehrens aus den Jugendbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt vorkommen, wird in der frühen, hochdeutschen Lyrik Moldens romantische und sattsam bekannte Versatzstücke wiederfinden. Da gibt es Huren, Hotelzimmer, Storchengeister und Suff en masse, und wer dazu die Musik zu den Texten kennt, dem klingen Vorbilder wie Dylan und Waits unangenehm nach. Persönliche Reifung miteingeschlossen, hat er glücklicherweise in späteren Werken unter dem Einfluss von H. C. Artmann und Willi Resetarits zum Dialekt, zum Wienerlied und zur genauen, in Kolumnen für die Wochenpresse auch gut erprobten Alltagsschilderung gefunden. Bei Zeilen wie „I hob a söö wiara besalbaak“ schaltet sich zwar der deutsche Sachverstand aus, aber bereits auf dem Papier verwandelt sich derlei in konkrete Sprachpoesie. Mit Musik klingt es sogar noch besser.

Harald Justin

Bezug: go! www.hanser-literaturverlage.de

 

ERNST MOLDEN – Liederbuch


WINFRIED SIEBERS (Hrsg.)
Das Blaue Wunder: Blues aus deutschen Landen

Eutin: Lumpeter & Lasel, 2010
540 S., mit Fotos
ISBN 978-3-9812691-5-0

Wie unterscheidet man gute, schlechte und überflüssige Bücher? Durch Vergleich? Nun denn: Es gab einmal einige Bluesfans, die mehr wissen wollten über die Szene in Deutschland. Sie schrieben die Kundigen des Landes an, um aus ihren Beiträgen ein Buch machen. Noch in der Vorbereitungsphase zerstritt man sich. Immerhin erschien 2008 Ich hab den Blues schon etwas länger, herausgegeben von Michael Rauhut und Reinhard Lorenz, eine Aufsatzsammlung, die gelungen war, weil sie eine muntere Mixtur aus Reflexion und Erlebnisberichten war, thematisch alles abdeckte und von bekannten Szeneprofis geschrieben war. (Bei dem Ergebnis konnte sich der Rezensent als Mitautor beruhigt zurücklehnen.) Nun ist der Band der Konkurrenz erschienen. Einmal mehr werden Geschichten erzählt, wie man hierzulande etwa durch das American Folk Blues Festival zum Blues kam, den für subversiv hielt und sich irgendwann als Nischenpublikum wiederfand. Derlei Dönekes kennt man längst und möchte sie nicht wieder lesen, jedenfalls nicht ohne einen Funken Inspiration und nicht auf dem Niveau schülerhafter Erlebnisaufsätze. Von drei, vier Ausnahmen abgesehen, ist der Großteil der Beiträge zu lang und sprachlich so ungelenk wie gedankenlos. Dient es noch der Wahrheitsfindung, wenn seitenlang Besetzungslisten unbekannter Amateurbands abgedruckt werden? Bedarf es nochmalig der Erzählung eines Auftrittes in der Provinz, um das System „Blues in D“ zu verstehen? Wo bleibt das Lektorat, um zu kürzen, zu fokussieren, Gesprochenes in Schriftsprache umzusetzen und um „Alexis Corner“ [sic!] zu verhindern? Erkenntnistheoretisch wenig Neues bietend, belegen die 540 Seiten die Selbsterkenntnis einer der wenigen nachvollziehbaren Einsichten des Buches: Blueser seien halt „narrowminded“. Womit die Eingangsfrage gelöst ist, oder?

Harald Justin

Bezug: go! www.lumpeter.de

 

WINFRIED SIEBERS (Hrsg.) – Das Blaue Wunder


GREG HERRIGES
Guitar Explorer:
A Guitarist’s Guide to the Styles and Techniqes of Ethnic Instruments from around the World

Cheltenham, Victoria: Hal Leonard, 2010
70 S., Noten, Abb., plus CD
ISBN 978-1-4234-2356-0

Das ist nun wirklich einmal ein ganz und gar erstaunliches Buch. Melodien und Rhythmen aus aller Welt, gut und schön. Doch Autor und Gitarrist Greg Herriges geht einen Schritt weiter. Aus seiner Beschäftigung mit verschiedensten ethnischen Instrumenten resultiert dieses Weltmusik-Buch für Gitarre. Wie überträgt man denn, bitteschön, die Spieltechniken einer indischen Sitar, einer persischen Santur, einer südafrikanischen Mbira oder einer japanischen Shamisen auf die schlichte sechssaitige Gitarre? Im Falle des afrikanischen „Daumenklaviers“ wird der typische schnarrende Ton durch Heftklammern erzeugt, mit denen die Gitarre präpariert wird. Das persische Hackbrett, die Santur, wird imitiert, indem die Saiten mit Essstäbchen angeschlagen werden. Kleine, sehr wirkungsvolle Tricks, die in Verbindung mit den raffiniert ausnotierten Stücken der sechssaitigen Stahl- und Nylongitarre bisweilen überraschende Klänge entlocken. Und sehr nahe an die Welt einer puerto-ricanischen Cuatro, einer chinesischen Pipa oder sogar dem balinesischen Gamelanorchestersound führen. In diesem Fall ist die beigefügte CD gewissermaßen ein Muss. Spieltechnisch sollte man der reinen Akkordbegleitung ein gutes Stück entwachsen sein. Der nicht ganz notenfeste Gitarrist kann sich an der Tabulatur orientieren. Eine sehr schöne Idee. Bitte mehr davon.

Rolf Beydemüller

 

GREG HERRIGES – Guitar Explorer


JOHNNY CASH
Best of the American Recordings

O. O.: Bosworth, 2011
169 S., Text mit Akkordang. [The Little Black Songbook] [BOE; 7530]
ISBN 978-3-86543-597-2

Dass Johnny Cash viel mehr, als nur ein populärer Countrysänger war, dessen große Zeit eigentlich der Vergangenheit anzugehören schien, dass er vielmehr ein wirklich faszinierender und bedeutender Singer/Songwriter war, das erfuhr eine größere Öffentlichkeit erst durch Cashs späte Zusammenarbeit mit dem wesentlich jüngeren Produzenten Rick Rubin. Die aus insgesamt sieben Alben – erschienen in den Jahren 1994 bis 2006 – bestehende American-Recordings-Reihe kann als ein sorgfältig durchkonzipiertes Spätwerk ganz besonderer Güte angesehen werden. Rick Rubin ermöglichte es dem alternden Künstler, genau die Lieder einzusingen, die er schon immer aufnehmen wollte – ohne jede Berücksichtigung kommerzieller Gesichtspunkte, frei von technischem Schnickschnack, teilweise nur Stimme und Gitarre. So entstand eine repräsentative Sammlung eigener Songs, auch ein paar Folk- und Gospelsongs sind darunter sowie eine Reihe von zeitgenössischen Liedern, unter anderem von Bruce Springsteen, Beck, Bob Marley, Paul McCartney, Kris Kristofferson, Merle Haggard, Nick Cave, Nick Lowe, Tom Petty, Neil Diamond, Trent Reznor und Sting. Das vorliegende Liederbuch im Taschenformat vereint eine Auswahl von insgesamt achtzig Songs der schon jetzt legendären Reihe. Vor jedem Lied sind die jeweils benötigten Akkorddiagramme abgebildet, die Akkordbezeichnungen sind durchgehend im Text notiert, alles sehr übersichtlich und benutzerfreundlich angeordnet. Beachtenswert ist übrigens auch das ausführliche Vorwort des ehemaligen Spex-Chefredakteurs Max Dax.

Kai Engelke

Bezug: go! www.bosworth.de

 

JOHNNY CASH – Best of the American Recordings


KATHERINE CAMPBELL (Hrsg.)
Songs from North-East Scotland:
A Selection for Performers from The Greig-Duncan Folk Song Collection

Edinburgh: John Donald/Birlinn, 2009
263 S., mit Noten, Fotos, plus CD
ISBN 978-1-906566-01-2

Der Lehrer Greig und der Pastor Duncan sammelten getrennt voneinander zwischen 1902 und 1917 Volkslieder in der Gegend nordwestlich von Aberdeen, in Fachkreisen auch „ballad country“ genannt. So kamen 1933 Songs zusammen, die zwischen 1981 und 2002 in acht themenorientierten und editierten Ausgaben veröffentlicht wurden. Diese dicken Bände sind natürlich selbst in Schottland eher etwas für Bibliotheken und Institute, und so ist es höchst sinnvoll, dass nun eine Auswahl von 150 dieser Lieder quasi für den Hausgebrauch und den normalen Geldbeutel erschienen ist. Zeitgemäß liegt dem Buch auch eine Audio-CD mit einer Auswahl von Liedern aus der Zusammenstellung bei, gesungen und auf dem Piano begleitet von Herausgeberin Katherine Campbell, einer Ethnologin an der Universität Edinburgh. Diese Stücke gibt es auch im Internet als elektronische Musikfiles. Im Gegensatz zu der Originalkollektion stellt Frau Campbell die Informanten als Ordnungsmerkmal stärker ins Zentrum des Buches. Die Lieder sind also sortiert nach den 28 wichtigsten Menschen, von denen Greig und Duncan sie erhalten haben. Die Präsentation ist jeweils gleich: Zuerst gibt es biografische Angaben und – wo vorhanden – ein Foto. Dann folgt mit Notation die erste Strophe plus der Rest des Liedes und danach die Originalnotizen der Sammler und zusätzliche neue editorische Angaben. Ab und zu wird das Paket ergänzt mit Übersetzungen aus dem Dialekt, die über das Glossar hinausreichen. Das macht Präsentation und Buch zu einer runden und umfassenden Sache. Für ernsthaft Interessierte sicherlich auch hierzulande empfehlenswert.

Mike Kamp

Bezug: go! www.birlinn.co.uk

 

KATHERINE CAMPBELL (Hrsg.) – Songs from North-East Scotland


RICHARD ELLIOTT
Fado and the Place of Longing:
Loss, Memory and the City

Farnham, Surrey: Ashgate Publ. Ltd., 2010
245 S. [Ashgate Popular and Folk Music Series]
ISBN 978-0-7546-6795-7

Das portugiesische Wort saudade lässt sich nicht übersetzen. Weder ins Deutsche, Englische, noch in irgendeine andere Sprache. In Fado and the Place of Longing (engl. „Fado und der Ort der Sehnsucht“) versucht der Autor, dem Phänomen des Fado und dem damit einhergehenden Gefühl der saudade auf den Grund zu gehen. Wie kam es dazu, dass Fado zum musikalischen Ausdruck der Stadt Lissabon und zum nationalen Kulturgut schlechthin wurde? Wie beeinflussen diese Lieder die Erinnerung der Portugiesen? Und wie beeinflussen die Portugiesen den Fado? Welche Rolle spielte er während der Salazar-Diktatur, welche danach? Wie verträgt sich der Fado der Kneipen mit demjenigen der Konzertsäle? Welcher Fado ist authentisch? Richard Elliott wollte diese und andere Fragen beantworten. Dabei hätte er in ein Fadolokal gehen können, wo Lastwagenfahrer und Sekretärinnen Fados singen. Im Gespräch mit ihnen und dem Publikum wäre er vielleicht dem Kulturphänomen Lissabons und der saudade näher gekommen. Er wählte einen anderen Weg: Er versuchte, anhand der Schriften von Roland Barthes, Sigmund Freud, Henri Lefebvre und vielen anderen den Fado zu erklären. Fado ist viel mehr Gefühl als Intellekt, auch wenn manche Fadistas portugiesische Poesie vertonen. Die Ursprünge des Fado liegen im Dunkeln. Mag sein, dass man den Blues Lissabons gar nicht erklären kann. Man kann ihn nur erspüren – der Schlüssel liegt im Herzen des singenden Lastwagenfahrers. Im zweiten, spannenderen Teil des Buches geht der Autor auf die Entwicklung des Fado nach der Nelkenrevolution ein. Da erfährt man viel über im deutschen Sprachraum völlig unbekannte Musiker und Gruppen am Rande des Phänomens – Folker und Rocker, die sich dem Fado angenähert haben. Dieser Teil ist für Interessierte höchst lesenswert und lässt einen verstehen, wie sich der Fado Novo um Mariza oder Ana Moura entwickelt hat.

Martin Steiner

Bezug: go! www.ashgate.com

 

RICHARD ELLIOTT – Fado and the Place of Longing


FRANCO VASSIA
Über die Grenzen trägt uns ein Lied –
Leben & Musik von Pippo Pollina

Aus d. Ital. von Ricarda Gerosa. Hg. Jazzhaus Freiburg GmbH

Freiburg: Rombach Verlag, 2011
280 S., mit einigen s/w-Fotos
ISBN 978-3-7930-5073-5

Als man an ihn herantrat, ob er es sich vorstellen könnte, seinen menschlichen und musikalischen Werdegang in einem Buch zu erzählen, fragte sich Pippo Pollina, warum gerade jemand wie er, kaum fünfzig Jahre alt, eine Biografie aus anderen Gründen auf den Markt bringen sollte als rein zur Befriedigung des eigenen Egos? Seine Antwort war, um den Wissensdurst der vielen Menschen, die seine Konzerte besuchten und mehr von ihm und über ihn wissen wollten, zu stillen, aber auch um die eigenen Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Herausgekommen ist ein Werk, das dennoch nicht so sehr akribisch-analytische Nabelschau ist als vielmehr ein Buch, das der Künstler selbst „eine Art Therapie“ nennt. Franco Vassia zeichnet den Werdegang als Mensch und als Künstler dabei chronologisch und in einer eher romanhaft anmutenden lyrischen Sprache in seinen entscheidenden Augenblicken nach – von dem Unfall, der Pollina als Kind in Palermo fast sein Augenlicht verlieren lässt, über die ersten musikalisch-politischen Schritte mit der Gruppe Agricantus, das Verlassen der Heimat, die schicksalhafte Begegnung mit Linard Bardill, der ihn von der Straße zurück auf die Bühne holt, die Konzerttournee mit Konstantin Wecker, die ihn dem deutschen Publikum bekannt macht, bis hin zu Aufnahmen in den Londoner Abbey Studios und der Komposition und Aufführung einer Oper. Begegnungen, Erlebnisse, Anekdoten, Erfolge, Enttäuschungen, darunter Frühstücksgespräche mit Michael Ende in einem österreichischen Fünf-Sterne-Hotel, die Zusammenarbeit mit dem Idol Georges Moustaki bei Pollinas Ferré-Hommage „Leo“, aber auch Konzerte vor nur drei oder fünf Personen in Italien, das lange braucht, um seinem „verlorenen Sohn“ eine würdige Plattform zu bieten und seine künstlerische wie politische Leistung anzuerkennen. Raum widmet das Buch immer wieder auch Begegnungen mit seinen Weggefährten aus der „alten Zeit“ in Sizilien im Kampf gegen die Mafia und für eine gerechtere Welt.

Einziger Schwachpunkt vielleicht: Eine bessere Übersetzung und weniger Pathos in manchen Formulierungen hätten dem Buch gut getan und wären der eigentlichen Bescheidenheit des Künstlers als Person und auf der Bühne gerechter geworden. Aber auch so ist es die außergewöhnliche Geschichte eines außergewöhnlichen Menschen, der nie aufgehört hat, für seinen Traum einer besseren Welt mit seinem „Instrument“ – seiner Musik – zu kämpfen. Eine Geschichte, die hoffentlich noch lange nicht zu Ende ist.

Stefan Backes

Bezug: go! www.rombach.de

 

FRANCO VASSIA – Über die Grenzen trägt uns ein Lied

Update vom
09.02.2023
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