FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

„Protestsänger: Karriere ohne Zukunft?“, fragten die Kollegen von Spex in ihrer Mai/Juni-Ausgabe. Und das „Magazin für Popkultur“ hat auch gleich eine Antwort parat: einen Wettbewerb. Unter der Überschrift „Spex und Byte FM suchen neue Protestsongs“ wurden Musiker aufgefordert, Lieder einzureichen, „die textlich und/oder musikalisch Bezug nehmen auf politische, soziale oder kriegerische Konflikte der letzten Monate“. Und weiter hieß es in der Ausschreibung, „Gern dürfen die Songs … ‚Nein‘ sagen, indem sie ‚Ja‘ sagen.“ Einschränkend wurde jedoch darauf verwiesen: „Akustikgitarre und Mundharmonika sind nicht verboten, führen aber zu Abzügen in der B-Note.“ Natürlich gab bzw. gibt es auch einen „Lohn“ für die Mühe: Die zehn Favoriten der Jury wurden im Mai beim Webradio Byte FM in Rotation gespielt und der Sieger – Brockdorff Klang Labor mit „Festung Europa“ – bekommt einen Ehrenplatz auf der CD der nächsten Spex-Ausgabe. Was würden beispielsweise Hannes Stütz als Komponist und Fasia Jansen und Dieter Süverkrüp als Interpreten von „Unser Marsch ist eine gute Sache“, der Hymne der Atomwaffengegner Anfang der Sechzigerjahre, wohl dazu sagen? „Protestsongs“ als preiswürdige Attitüde – A-Wertung – und ästhetisch zu bewertende Komponente – B-Wertung. Unvorstellbar für Künstler, die ihre Musik als Teil einer politischen Bewegung verstanden.

In diesen Zusammenhang passt folgender Waschzettel zur neuen CD von Julia Neigel: „Gleich der Startsong ‚Wir sind frei‘ befeuert den Hörer durch seine intensive Power und Aussage, das Hier und Jetzt in Zeiten der gerade überstandenen Finanzkrise zu korrigieren. […] Julia Neigel steht seit Beginn ihrer Karriere für eine soziale, philanthropische Haltung, die sie auch in ihren Songs vermittelt.“ Dann hören wir doch einmal rein in den „Opener“ von Neigelneu: Da ist die Rede von Raubtierkapitalismus und Versklavung durch das rein materialistische Denken. Und Julia Neigel hat auch ein Rezept dafür, wie das Problem zu lösen ist: „Komm her zu mir, / Komm ein bisschen näher. / Wir feiern zusammen / Und lernen wieder lachen, / Und freuen uns dabei, / Das wir einander haben.“ Vielleicht hätte sich Neigel mit diesem Lied beim Wettbewerb von Spex und Byte FM bewerben sollen. Bei der aufwendigen Produktion hätte es zumindest keine Abzüge in der B-Note gegeben!

Nach der Nuklearkatastrophe in Japan wurde in vielen Feuilletons auf Bob Dylans angebliche Apokalypsendrohung „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ verwiesen. Fälschlicherweise, denn in einem Interview mit dem legendären Studs Terkel hatte Dylan bereits 1963 selbst gesagt, dass sein Lied überhaupt nichts mit dem atomarem Niederschlag zu tun habe. Auf der Suche nach entsprechenden Songs für die Aprilausgabe des Folker-Mixtapes auf Byte FM stieß ich auf einige interessante Beiträge zum Thema – zumindest aus dem angloamerikanischen Bereich –, die man sich wieder einmal anhören sollte. Bereits 1950 nahm Sam Hinton „Old Man Atom (Talking Atomic Blues)“ auf. Der Titel wurde für kurze Zeit im Radio gespielt, um dann ein Opfer der Kalte-Krieger-Hysterie jener Tage zu werden, da er sich für den Frieden stark machte. Die Plattenfirma nahm die Scheibe freiwillig vom Markt. Sowohl Hinton als auch Texter Vern Partlow kamen auf die Schwarze Liste des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ der kalifornischen Legislative. Als 1963 Präsident John F. Kennedy das Gesetz gegen oberirdische Atomversuche unterschrieb, glaubten nicht wenige, dass ein Lied seine Entscheidung beeinflusst hatte: „What Have They Done To The Rain“, das die Musikerin und politische Aktivistin Malvina Reynolds als Erkennungsmelodie einer landesweiten Kampagne gegen oberirdische Atomversuche geschrieben hatte. Die Searchers und Joan Baez machten das Lied weltweit bekannt. Ähnlich ruhige Töne wie Reynolds schlug die britische Künstlerin Kate Bush an, um auf die Gefahren der Nukleartechnologie hinzuweisen. In ihrem 1980 auf dem Album Never For Ever erschienenen Song „Breathing“ beschreibt sie die Folgen nuklearen Niederschlags aus der Sicht eines ungeborenen Kindes im Mutterleib. Als sich im Oktober 1980 die Folk Friends in Hannes Waders Windmühle „Fortuna“ in Nordfriesland versammelten, nahmen sie auch diesen Song auf: „Take The Children And Run“. Die Folk Friends – das waren neben Wader unter anderem Derroll Adams, Ramblin’ Jack Elliott, Dick Gaughan, Wizz Jones und Guy Carawan. Obwohl es in dem Lied von Don Lange um das „Beinahe-Disaster“ im Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg geht, wo es im März 1979 erstmals zu einer Kernschmelze gekommen war, könnte Vergleichbares – wie wir heute ja wissen – in jedem Kernkraftwerk irgendwo auf der Welt passieren. Three Mile Island ist auch das Thema eines Songs des Ende Mai verstorbenen Gil Scott-Heron (siehe „Halbmast“ in der „Szene“ dieser Ausgabe). Der Musiker bringt das Problem auf den Punkt: „Wenn du perfekt sein willst, dann kannst du keine Menschen hier einsetzen. Menschen machen Fehler.“ Logische Konsequenz für ihn in seinem Lied „Shut ’Em Down“: „Macht alle Kernkraftwerke dicht!“

Sieben Jahre nach Harrisburg ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl in Block 4 des dortigen Kernkraftwerks nahe der ukrainischen Stadt Prypjat. Sie gilt als bislang schwerste nukleare Havarie. Mit Blick auf die Ereignisse in Japan mag es makaber klingen, dass schon 1988 die japanische Punkband The Blue Hearts einen atomkritischen Song mit Blick auf den Unfall in der Ukraine aufnahmen. Ihr Titel „Chernobyl“ mit den Zeilen „Don’t wanna go to Chernobyl … / To whom does this global earth belong?“ durfte auf Druck von Mitsubishi, denen das Label der Blue Hearts gehörte, nicht auf dem neuen Album der Band erscheinen. Die Musiker veröffentlichten den Song dann in Eigenregie als Single.

In diesem Heft thematisiert Cathrin Alisch mit ihrem Beitrag über die Sängerin Setsuko Hirao in indirekter Weise die Ereignisse in Japan. Während ihres Besuchs in Berlin sammelte man Spenden bei den Konzertbesuchern, um baldmöglichst das musikalische Leben in den krisengeschüttelten Regionen des ostasiatischen Landes im Sinne von „Musiker für Musiker“ wieder aufbauen zu helfen. Weitere Unterstützung auf das Spendenkonto 657104 bei Postbank Berlin, BLZ 100 100 10 ist willkommen (Ansprechpartner: Dr. Wolfram Irmer, Akademisches Orchester Berlin e. V., go! www.aob-ev.de ).

Ansonsten steht dieses Folker-Heft auch im Zeichen des TFF Rudolstadt 2011. Vor dem Hintergrund des diesjährigen Länderschwerpunkts „Schweiz“ beklagt der Sänger, Texter und Autor Ernst „Aernschd“ Born, dass auf den Bühnen seines Landes Politsongs „Mangelware“ sind. Hans-Jürgen Schaal stellt mit dem „tönenden Jagdbogen“ das Instrument vor, das in diesem Jahr im Mittelpunkt des Rudolstädter Magiekonzerts steht: die Harfe.

Und damit möchte ich Sie wieder einmal in die, wie wir hoffen, spannende Lektüre einer neuen Ausgabe des Folker entlassen.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

Update vom
09.02.2023
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