FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

wer hätte gedacht, dass ich eines Tages einer Meinung mit der Komödiantin Anke Engelke sein würde. Gegenüber dem Mediendienst DWDL erklärte sie vor kurzem ihre Ablehnung von sozialen Netzwerken: „Ich twitter nicht, ich bin nicht bei Facebook. Ich lehne das alles ab. Ich finde das alles total schrottig und verfluche den Tag, an dem dieser ganze Dreck kam. Es lenkt vom Wesentlichen und vom sozialen Miteinander ab. Das ist für mich totale Zeitverschwendung.“

Ähnlich kritisch äußerte sich Sven Regener (Element Of Crime). In einem Interview der Berliner Morgenpost sagte er, dass er die Kommentare in seinem Blog „natürlich nicht“ lese. „Was bringt das? Mit der Kommentarfunktion wird doch vorgegaukelt, dass die Leute tatsächlich Einfluss hätten, wenn sie dort schreiben. Kein ernstzunehmender Künstler aber lässt sein Publikum Einfluss nehmen auf das, was er da tut“, erklärte er und fügte hinzu, dass er das Internet zwar sehr praktisch finde, aber sich weigere, es zu wichtig zu nehmen. „So doll ist das Internet nicht. Es wird nicht die Probleme der Menschheit lösen.“ Nicholas Carr bringt es in seinem gerade erschienenen Buch The Shallows – What The Internet Is Doing To Our Brains so auf den Punkt: Während wir früher einmal in der Beschäftigung mit Literatur geistige Nahrung zu uns genommen hätten, würden wir heute nur noch auf eine Ansammlung von Bruchstücken setzen. „Das schnelle Abschöpfen relevanter Fakten tritt an die Stelle einer langsamen Entdeckung von Inhalt“, schreibt Carr.

„Gier frisst Gehirn.“ So überschrieb Spiegel Online seinen Bericht über die diesjährige ARD-Echo-Gala, die sich für Autorin Hanna Pilarczyk als „plumper Kommerz-Mischmasch“ erwies. Inszeniert vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen – also von Ihren und meinen Gebühren – Hand in Hand mit den Großen der Plattenindustrie feierte man und frau sich selbst mit tiefsinnigen Ansagen. „Wir mögen Musik“, meinte ein Echo-Vertreter und wurde gleich von einem ARD-Abgesandten unterstützt: „Wir auch, wir lieben Musik!“ Da wollte die Moderatorin des Abends, Ina Müller, in ihrer Begeisterung nicht zurückstehen und setzte noch einen drauf: „Ihr redet über Musik? Die find‘ ich auch voll geil!“ Kein Wunder bei der Qualität der geehrten Künstler, deren Spektrum von Schlagerstar Andrea Berg über das volkstümliche Brüder-Duo Amigos bis zum Technomusiker und DJ Pantha du Prince reichte. Natürlich fehlte auch Lena Meyer-Landrut nicht, die als beste Newcomerin ausgezeichnet wurde. Wobei die Opel-Markenbotschafterin sich allerdings bei ihren Dankesworten fast um Kopf und Kragen geredet hätte. Weil sie einfach kein Ende fand, erklangen „Aufhören“-Rufe aus dem Saal. Wenn das kein böses Omen für die „Titelverteidigung“ im Mai beim Eurovision Songcontest mit der Elektropop-Nummer „Taken By A Stranger“ ist. A propos.

Wussten Sie, was Zweitligist Fortuna Düsseldorf und der europäische Songwettbewerb miteinander zu tun haben? In Düsseldorf musste ein Ersatzstadion mit Rohrgestellen für drei Millionen Euro gebaut werden. Weil das Rheinstadion für „unsere“ Lena und die Galaveranstaltung gebraucht wird. Und jeder hat ja wohl Verständnis dafür, dass, vom Steuerzahler getragen, mal eben ein Ersatzstadion für die Fortuna gebaut wird. Oder etwa nicht?

Was haben der deutsche Außenminister auf Abruf, Guido Westerwelle, und Bob Dylan gemeinsam? Beide verschließen ihre Augen vor Zensur und Unterdrückung in China. Während die Regierung den regimekritischen Künstler Ai Weiwei festnehmen ließ, eröffnete Westerwelle eine Ausstellung deutscher Kunstwerke in Peking; für die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller eine „Dekoration für eine Propagandashow eines autoritären Regimes“. Und Dylan ging bei seinem Konzert in China mit keinem Wort auf die Verhaftung des Künstlers ein. Offensichtlich hat er diese Zeilen aus „Hurrican“ vergessen über „the man the authorities came to blame for something that he never done.“ Stattdessen spulte er seine von den Behörden zensierte Setliste ab, nahm das kommunistische Bargeld und machte sich vom Acker. Der politische Ausverkauf von Künstlern – so die Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times – habe damit eine neue Dimension erreicht. Nachdem Beyoncé und Usher Millionen dafür einsteckten, Gaddafi und Familie ein Ständchen darzubringen und Elton John ein Vermögen dafür kassierte, Schwulenhasser bei der (vierten) Hochzeit des rechten Radiomoderators Rush Limbaugh zu unterhalten. Damit sind wir bei einem Thema der aktuellen Folker-Ausgabe. Mit gleich zwei Beiträgen im Heft würdigen wir das Werk Bob Dylans anlässlich seines 70. Geburtstags am 24. Mai. Manfred Maurenbrecher fragt: „Der ‚echte‘ Bob Dylan – eine Fiktion?“ Und Walter Liederschmitt „Woltähr“ fordert; „Natürlich muss er den Nobelpreis für Literatur endlich auch noch bekommen.“ Sein erstes Geburtstagsgeschenk bekam Dylan übrigens schon Anfang des Jahres: Für einen achtstelligen Dollarbetrag unterschrieb er einen Vertrag mit dem Verlagshaus Simon & Schuster für sechs Bücher, darunter Chronicles 2 und Chronicles 3. Und exklusiv auf www.folker.de können Sie ein Interview nachlesen, das der Musikkritiker Richard Goldstein, langjähriger Redakteur der New Yorker Alternativzeitschrift The Village Voice, zu Bob Dylan anlässlich seines 65. Geburtstags in Heft 4/2006 des Folker gab. Darin charakterisierte Goldstein Dylan mit den Worten „Ein bedeutender Künstler, aber kein Gott“ und warf ihm zugleich vor, „konservative politische Ansichten“ zu vertreten.

Etwas in eigener Sache: In der „Szene“ gratulieren wir unserem Endredakteur Stefan Backes, der Ende März Vater geworden ist. Die Gratulation erfolgt jedoch auch mit einem weinenden Auge. Für eventuell ein Jahr, d. h. für die nächsten sechs Folker-Ausgaben, steht er nicht für die Endredaktion zur Verfügung. Hinter diesem Wort verbirgt sich ein von Stefan Backes akribisch betriebenes Lektorat aller Beiträge und Artikel im Folker. Angesichts des nicht zuletzt durch den von den sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter mitverschuldeten Niedergangs der deutschen Sprache in Ausdruck und Form, war es der Folker-Redaktion von Anfang an wichtig, hier einen Gegenpol zu setzen und der Endkorrektur jeder Ausgabe einen wichtigen Stellenwert zu geben. Da der Verlag der Redaktion während der „Auszeit“ von Stefan Backes aus finanziellen Gründen keine professionelle Vertretung zur Verfügung stellt, kann die Redaktion nicht versprechen, dass jedes Heft in der nächsten Zeit den selbst gesetzten Ansprüchen in Sachen Lektorat gerecht wird. Wir bitten um Verständnis.

Auch wenn alle Beiträge in diesem Heft ihren jeweils ganz eigenen informativen und unterhaltsamen Charakter haben, so möchte ich Sie dennoch auf den einen oder anderen Beitrag besonders hinweisen. Nicht nur Bob Dylan wird in diesem Jahr 70. Auch die barfüßige Diva Cesaria Evora feiert Geburtstag. Der Botschafterin der Morna, des Blues der Kapverden, ist unsere Titelgeschichte gewidmet. Gleich mit mehreren Artikeln wollen wir Sie auf das TFF Rudolstadt hinweisen, das dieses Jahr erstmals ganz offiziell vier Tage lang dauert und am Donnerstag, dem 30. Juni, eröffnet wird. Und in seinem „Gastspiel“ findet der Produzent und Musiker Pit Baumgartner unter der Überschrift „Wo bleibt das Fachpersonal?“ deutliche Worte zum qualitativen Kahlschlag im Musikbereich.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre dieser und aller anderen Beiträge im aktuellen Folker.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Das Neueste aus dem Land der Freien und Mutigen gibt es dieses Mal unter der Überschrift „Only in America“. Der naive Gottesglaube in den USA nimmt immer bizarrere Formen an. Ein aktuelles Beispiel: Der neue Vorsitzende des Kongressunterausschusses für Umwelt und Wirtschaft, der Republikaner John Shimkus, ist gegen jede gesetzliche Aktivität zum Eindämmen der Treibhausgase. Seine Begründung: „Ich glaube an die Bibel als das Wort Gottes. Und ich glaube daran, dass Gott gesagt hat, dass die Erde nicht durch eine Flut zerstört wird.“ Und das Onlineorgan The Raw Story weiß über den Präsidenten der Tea Party Nation, Judson Phillips, zu berichten, dass es „viel Sinn ergebe“, Leuten ohne Besitz und Vermögen das Wahlrecht zu entziehen. „Wer ein Haus oder Land besitze, habe ein berechtigtes Interesse an der Gemeinschaft – im Unterschied zu den Besitzlosen“, wird Phillips zur Begründung zitiert. Dies zum Niveau der politischen Debatte in den USA.

Update vom
09.02.2023
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