FOLKER – Editorial

EDITORIAL

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

Frage: Woran erkennt man gute Musik? Antwort: Wenn sie sich für Werbung verkaufen lässt. Jüngstes Beispiel: Shantel. Deutschlands DJ-Superstar wurde zur Milan Fashion Week eingeladen und wirbt für das türkische Pay-TV-Unternehmen Turkcell und Digiturk. Gegen die Werbung an sich ist nichts zu sagen. An wen man sich verkauft, muss jeder selbst entscheiden. Doch dies als Qualitätsmerkmal für einen Künstler per Pressemitteilung zu verbreiten, sagt einiges aus über den Zustand des Musikgeschäfts. Oder auch diese Ankündigung der neuen CD New Weird Austria von Binder & Krieglstein: „NWA ist Bewegung, aber sie ist keine Bewegung. Das Ziel von NWA ist eine sanfte Revolution. An die Stelle der Ordnung setzt sie das hierarchiefreie In-Beziehung-Setzen. NWA hat keine Zielgruppe und keinen Endnutzer, weil der Weg, der das Ziel ist, noch lange nicht zu Ende ist.“ ??? Da müssen eine Menge Liter Grüner Veltiner geflossen sein, um einen solchen Unsinn zu Papier zu bringen. Da lobe ich mir doch den politischen „Schwachsinn“, den Gruppen wie die Fugs in den Sechzigerjahren auf die (musikalischen) Beine stellten. Ihre Happenings, wie die „Teufelsaustreibung“ vor dem Pentagon im Oktober 1967, waren keine PR-Kampagnen. Ed Sanders, Tuli Kupferberg & Co. war politische Aktion wichtig, nicht die individuelle Karriereplanung. Aber das ist eben lange her ...

Zum ersten Mal ist nicht nur eine Stadt, sondern eine ganze Region Kulturhauptstadt Europas: das Ruhrgebiet. Herbert Grönemeyer eröffnete Anfang Januar das ein Jahr lang dauernde Spektakel mit seinem eigens für das Ereignis komponierte Lied: „Komm zur Ruhr“. Für Claus Spahn eine „schlimme Hymne“. Auf Zeit Online schrieb er: „Es war gewiss der schlimmste Auftritt, seit die Berliner Philharmoniker bei der Expo in Hannover gemeinsam mit den Scorpions ‚Wind of Change‘ aufgeführt haben. Der Streicherbombast, der seifige Mädchenchor, Grönemeyers lila Pullover unterm offenen Wintermantel – alles sehr bedenklich. Obwohl doch die erste Strophe der Hymne lautet: ‚Wo ein raues Wort dich trägt, weil dich hier kein Schaum erschlägt.‘ Zeigt sich da schon das ganze Dilemma des Ruhr-2010-Spektakels? Die pompösen Arrangements treten in einen peinlichen Widerspruch zu den Botschaften, die sie propagieren sollen.“ Autsch. Das tut weh. Wobei frau auch fragen könnte, ob das Ruhrgebiet keine dort lebenden Künstler hat, die man für die Komposition der Hymne zum Ruhrjahr hätte engagieren können. Grönemeyers Verbindung ist doch nur noch eine „virtuelle“. Schon seit 1998 lebt er mit seiner Familie in London. Sein Viertel ist eines der besseren. In seiner Straße wohnte – zumindest bis noch vor wenigen Jahren – Stings Ex-Frau. Und nur wenige Autominuten weiter hat Paul McCartney eine Wohnung. Allerdings beginnt gleich um die Ecke auch der soziale Wohnungsbau. Damit Grönemeyer das Ruhrgebietsmilieu nicht ganz vergisst!

Landauf, landab finden in diesen Tagen Benefizkonzerte zugunsten Haitis statt. die Redaktion des Folker kann nur dazu aufrufen, diese Veranstaltungen zu besuchen, um den Menschen dort zu helfen. Aufgabe einer Zeitschrift ist es aber auch, Hintergründe angesichts eines katastrophalen Ereignisses zu vermitteln. Am 22. Januar organisierte Schauspieler George Clooney ein zweistündiges Konzert „Hope For Haiti“, das auf vielen US-Fernsehkanälen und im Internet gezeigt wurde. Unter den teilnehmenden Künstlern waren unter anderem Bruce Springsteen, Madonna, Sting, Sheryl Crow und viele andere. Natürlich fehlte auch Gutmensch Bono nicht. Obwohl einige politische Künstler vertreten waren, wurden Politik und Geschichte klein geschrieben. So konnte man meinen, es ginge nur um eine schlimme Naturkatastrophe, die Haiti heimgesucht hat. Kein Wort über die erfolgreiche Sklavenrebellion, die mit US-Hilfe von den Franzosen niedergeschlagen wurde; über die ein Jahrhundert lang andauernde wirtschaftliche Ausbeutung des Landes durch Frankreich; über die neunzehn Jahre lang andauernde Besetzung durch US-Marineeinheiten; über die Zusammenarbeit der USA mit den Diktatoren der Duvaliers; über die Verbrechen neoliberaler Wirtschaftspolitik mit Hilfe des Weltwährungsfonds. Die Folgen des katastrophalen Erdbebens wären ohnehin schrecklich gewesen. Doch angesichts der Armut des Landes und der nicht vorhandenen Infrastruktur gingen diese, wie ein Kritiker schrieb, weit über Stärke 7 auf der Richterskala hinaus. „Der Horror, der Haiti, überfallen hat, ist ebensowenig ein ‚Akt Gottes‘ wie die Schrecken von Katrina.“

Ein Wort in eigener Sache: Abokündigungen sind leider Teil unseres Alltags. Nicht immer, aber doch hin und wieder begründen Ex-Leser, warum sie den Folker abbestellen. Sollte es mit dem Inhalt zu tun haben, beschäftigen wir uns innerhalb der Redaktion damit. Oft sind es finanzielle Gründe, die angegeben werden. Da können wir außer dem Angebot eines ermäßigten Abos leider wenig machen. In jüngster Zeit wird aber auch immer wieder einmal gesagt, „man habe keine Zeit mehr, den Folker zu lesen“. Das sollte uns alle nachdenklich stimmen. Weil es etwas darüber aussagt, wie wir unser Leben gestalten (lassen). Die Antwort auf dieses Problem sollte nicht in der Kündigung eines ansonsten als wichtig erachteten Mediums liegen, sondern in der Auseinandersetzung mit Lebensbedingungen, die einem die Zeit „stehlen“. In diesem Zusammenhang empfehle ich die Lektüre von Michael Endes Buch Momo. Das trägt den vielsagenden Untertitel „Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“.

Natürlich will ich nicht versäumen, auf die Besonderheit der Ihnen vorliegenden neuen Folker-Ausgabe zu verweisen. Nach dem Schottland-Heft Anfang 2007 stellen wir mit Irland zum zweiten Mal ein „keltisches“ Thema in den Mittelpunkt unserer Zeitschrift. Ganz nach dem Motto „Sláinte! Auf Irland!“ lade ich Sie ein, mit uns nicht nur einen Blick auf das Land und seine musikalischen Szenen zu werfen. Denn „Irish Sounds“ erklingen auch in Deutschland, wie etwa im „Heimspiel“ das Beispiel Bonn zeigt.

Und damit wünsche ich Ihnen wie immer eine interessante und unterhaltsame Lektüre.

Ihr Folker-Chefredakteur
Michael Kleff

PS: Große Aufregung herrscht im Musterland der Demokratie immer dann, wenn es etwas über Zensur in politisch nicht zu seinen Freunden zählenden Ländern gibt. Das ist Zeitungen wie der New York Times immer eine Titelgeschichte wert. Weniger Platz, genauer gesagt, überhaupt keiner, wird dem schleichenden Demokratieabbau im eigenen Land eingeräumt. Nur in alternativen Medien wie dem Onlinemagazin Rock & Rap Confidential erfährt man dann, wie Zensur im Land der Mutigen und Freien funktioniert. Ein aktuelles Beispiel aus Aspen, Colorado: Der Singer/Songwriter Dan Sheridan unterhielt am Neujahrsabend in einer Taverne seine Gäste mit seinem lokal erfolgreichen Lied „Big Money“ – eine Klage in bester Woody-Guthrie-Tradition darüber, wie Millionäre mit ihrem Geld das einstige Mekka der Gegenkultur ruinieren. In der Woche drauf war Sheridan seinen regelmäßigen Gig erst einmal los. Die Aspen Skiing Company fürchtete, er könne reiche Touristen vom Besuch des Skiparadieses abschrecken ...

Update vom
09.02.2023
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