FOLKER – Rezensionen

Rezensionen Bücher


PETER COX
Set into Song –
Ewan MacColl, Charles Parker, Peggy Seeger and the Radio Ballads

O. O.: Labatie Books, 2008, VI
298 S., mit wenigen s/w-Fotos.
ISBN 978-0-9551877-1-1

Von 1958 bis 1964 schufen MacColl und Seeger sowie der Produzent und Techniker Parker für die BBC die „Radio Ballads“, eine für die Zeit wahrhaft revolutionäre achtteilige Serie von Radiodokumentationen mit unterschiedlichen Themen wie Bergbau, Fischfang oder den Travelling People. MacColl schrieb die passenden Lieder (einige davon wurden Teil des Folkrevivals), Seeger arrangierte sie und Parker arbeitete Orginalinterviews und Soundeffekte ein, alles ohne den damals konventionellen Sprecher. Die historisch herausragende Rolle der „Radio Ballads“ ist unbestritten, und angesichts der neuen Generation der „Ballads“ von 2006 (siehe auch go! Plattenprojekte Folker 2/2008 , S. 87) wäre eine generelle Reflexion über die aktuelle Funktion des Mediums Radio in Sachen anspruchsvoller Präsentation von Minoritätenmusik sinnvoll, würde aber den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Welche klitzekleine Lesergruppe von einem Buch über ein fünfzig Jahre altes britisches Phänomen angesprochen werden soll, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Andererseits würde das Buch zu übergehen bedeuten, eine gute Geschichte der Folkmusik zu ignorieren und eine sehr gut erzählte obendrein. Cox stellt die Protagonisten ausführlich vor, schildert die Probleme und Triumphe eines jeden Programms, beleuchtet die Elemente „Lieder“, „Interpretation“ und „Aufnahmetechnik“, würdigt alle teilnehmenden Künstler etc. Seine bewundernswerte Liebe zum wohlinformierten Detail wird vielleicht verständlicher, wenn man weiß, dass ein weiteres Buch von Cox die Geschichte des englischen Cricket seit dem Zweiten Weltkrieg behandelt. Er schafft es tatsächlich, ein zwar interessantes, aber ziemlich trockenes Thema durch Interviews und Zitate so packend und oft auch kritisch zu bearbeiten, dass sich das Buch streckenweise wie ein Roman liest. Ich hab’s genossen und bin sicher, jedem am britischen Folkrevival Interessierten wird es ähnlich ergehen.

Mike Kamp

Bezug: go! www.setintosong.co.uk

 

PETER COX – Set into Song


SUSANNE RODE-BREYMANN (Hrsg.)
Orte der Musik: Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt

Köln: Böhlau, 2007
290 S., mit Abb. [Musik – Kultur – Gender; Bd. 3]
ISBN 978-3412-20008-4

Der Untertitel ist zu weit und zugleich zu eng gefasst. Städte gibt es schon seit Jahrtausenden, aber die Untersuchungen im Buch beziehen sich auf die frühe Neuzeit und auf einige Städte in Europa. Und nicht alle Aufsätze haben überhaupt etwas mit Musik zu tun – der über Aphra Behn zum Beispiel, Spionin für den Stuart-König Jakob II. und erste namentlich bekannte englische Autorin, die vom Schreiben leben konnte, mit Musik hat sie sich aber nicht beschäftigt. Und wo wir schon beim Kritisieren sind: Es wäre schön gewesen, wenn die Herausgeberin eine klare Linie ins Buch gebracht, zum Beispiel entschieden hätte, ob Zitate übersetzt werden sollen oder nicht und ob das Buch nur für ein Publikum bestimmt ist, das den hohen Bildungsstand seiner Verfasser und Verfasserinnen teilt.

Herr Gundelfinger ist in diesem Buch wichtig, weil seine Gattin verstarb und er für sie Begräbnismusik komponieren ließ. So weit gefasst ist nämlich das Spektrum. Auf dem Titelbild ist eine Flöte spielende Frau zu sehen, aber die Beiträge zeigen Frauen, die auf vielfache Weise musikalisch tätig wurden: als Musikerinnen, als Komponistinnen, als Textdichterinnen, als Sängerinnen, als Mäzeninnen, als Notendruckerinnen, als Tänzerinnen – oder eben als Objekt, zu dessen Ehren Musik komponiert wurde. Immer wieder wird beklagt, wie spärlich die Quellenlage ist, und so sind sich die Gelehrten oft nicht einig: Sind die bildlichen Darstellungen von musizierenden Frauen ein Beweis dafür, dass viele Frauen im Untersuchungszeitraum musiziert haben oder haben wir es mit allegorischen Darstellungen zu tun, die nichts über die tatsächlichen musikalischen Aktivitäten von Frauen aussagen? Ein Beitrag im Buch vertritt die eine, ein anderer die andere Ansicht, und beide argumentieren gleichermaßen plausibel.

Die meisten Frauen, deren musikalische Aktivitäten hier untersucht werden, stammen aus dem Adel oder dem städtischen Bürgertum – mit Ausnahme der römischen Kurtisanen, die aus allen Ständen kamen und ihre Gönner (zumeist hochrangige Geistliche) auch mit musikalischen Darbietungen unterhielten. Ohne, dass die einzelnen Beiträge aufeinander eingingen, sehen wir Unterschiede geografischer und klassenmäßiger Art. Wurde im England der Tudorzeit das Lautenspiel von einer Dame geradezu erwartet, so war es zur selben Zeit in den süddeutschen Städten eher anrüchig.

Was fehlt, und dies ist sicher weniger der wenig geklärten Quellenlage geschuldet als dem Desinteresse der Autoren und Autorinnen, ist die Musik der Unterschichten, also das, was vage als Volksmusik bezeichnet werden kann. Nach Lektüre des vorliegenden Bandes liegt es deshalb nahe, die Beschäftigung mit Musik ausübenden Frauen als Wechselbalg der Forschung zu bezeichnen. Höchste Zeit, dass sich das ändert, Bücher wie dieses sind da ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Gabriele Haefs

 

SUSANNE RODE-BREYMANN – Orte der Musik


KIRSTEN SASS BAK, SVEND NIELSEN (Hrsg.)
Spiritual Folk Singing:
Nordic and Baltic Protestant Traditions

O. O.: Gazelle Book Service, 2006
283 S. mit zahlr. Noten, plus CD
ISBN 87-89160-11-8

Dass seit der Reformation die Menschen in protestantischen Gegenden Europas ihre eigenen Versionen der lutherischen Choräle entwickelt haben, lesen wir hinten auf dem Buch, und schon ist der Widerspruchsgeist geweckt – vor der Reformation lutherische Choräle zu variieren, wäre ja wohl ein wenig schwierig gewesen. Der Widerspruchsgeist wird beim Lesen häufiger geweckt, verstummt aber am Ende, denn die Lektüre ist gar zu faszinierend. An Beispielen von Kirchenliedern aus Norwegen, Schweden, Dänemark, Island, den Färöern, Litauen und Estland wird gezeigt, wie Gesangsstil und Liedgut sich verändert haben – die Frage, warum Lettland fehlt, bleibt dabei unbeantwortet. Gezeigt wird der Veränderungsprozess an Beispielen, die zumeist aus dem Milieu von Sekten und Freikirchen stammen, wo sich das Liedgut in Opposition zu den dominierenden lutherischen Amtskirchen entwickelte. Die Ausnahme bildet das vornehmlich katholische Litauen, wo die musikalischen Gewohnheiten der lutherischen Minderheit untersucht werden.

Die Herausgeber scheinen ihre Tätigkeit allerdings nicht richtig ernst genommen zu haben, eklatante Widersprüche zwischen einzelnen Artikeln werden so wenig hinterfragt wie das teilweise grausige Englisch der Übersetzungen korrigiert wurde. In manchen Beiträgen sind die Liedtitel übersetzt, in anderen nicht. Aber dennoch, die Beiträge sind spannend, lehrreich, faszinierend, und viele Details, von denen die wenigsten hierzulande auch nur eine Ahnung haben dürften, kommen zur Sprache. Wer weiß hier schon von „Gammelsvenskby“? Die Bevölkerung einer schwedischsprachigen, zu Estland gehörigen Insel, wurde auf Zarengeheiß in die Ukraine umgesiedelt, ihre Nachkommen lebten dort über zwei Jahrhunderte fast ohne Kontakt mit Schweden und wurden so – und sind es noch – zur Fundgrube für Sprach- und Brauchtumsforschung.

Insgesamt lässt sich beobachten, dass in allen untersuchten Ländern sehr alte Gesangsstile erhalten waren und teilweise sind, keine klare, oder gar rhythmische Melodieführung, keine Endreime, sehr viel mehr Freiheit in der eigenen Ausgestaltung. Dieser „alte Stil“ konnte in vielen Gemeinden einfach dadurch erhalten bleiben, weil diese zu arm waren, um sich eine Orgel zu leisten. Nahm die Orgel ihren Einzug ins Gebetshaus, änderte sich zwangsläufig auch der Gesangsstil, zudem sahen manche Geistliche die Chance, endlich Lieder nach ihrem Geschmack zu verfassen und in ihren Gemeinden zu verbreiten. Und auch, wenn es immer wieder trotzige, vor allem alte Leute gab, die sich dann lieber in Privathäusern trafen, um dort ungestört die alten Lieder zu singen, konnte der Gesang im „alten Stil“ eben doch nur in ausgesprochenen Reliktgebieten überleben – von denen es, wie das Buch zeigt, in Nordeuropa eine überraschende Menge gibt.

Gabriele Haefs

Bezug: go! www.gazellebooks.co.uk
 

KIRSTEN SASS BAK, SVEND NIELSEN – Spiritual Folk Singing


WALTER MOSSMANN
Realistisch sein:
das Unmögliche verlangen – Wahrheitsgetreue gefälschte Erinnerungen

Berlin: Edition der Freitag, 2009
252 S.
ISBN 978-3-936252-11-8

Walter Mossmanns Buch ist eine alternative Geschichte der Achtundsechzigerjahre. Sie beginnt mit einer persönlichen Begegnung am Strand in Südfrankreich 1961 und endet mit einer im D-Zug Amsterdam-Mailand 1979. Was in diesen knapp zwanzig Jahren geschah und heute im Rückblick als eine Zeit des Aufbegehrens einer jungen Generation beschrieben wird, beschreibt Mossmann aus mehreren Blickwinkeln: als Sänger, als Aktivist und als Journalist. Wobei er immer wieder zwischen Ereignissen, Orten und Zeiten hin- und her springt. Auf diese Art und Weise webt er ein dichtes Netz voll mit (subjektiven) Informationen über die sich auf der Burg Waldeck artikulierende neue deutsche Musikszene, über das Entstehen und Scheitern der Studentenbewegung, über das Auftreten der Bürgerinitiativen im Kampf gegen die Atomkraftwerke und über das politische Engagement für die „Dritte Welt“. Mossmann lässt sich dabei vor allem von einem ihm eigenen gesunden Misstrauen leiten. Sowohl gegenüber der Heroisierung beteiligter Personen – sich selbst eingeschlossen – als auch gegenüber gängigen Mythen in Sachen „1968“ wie der APO-Nostalgie. Dem Untertitel seines Buchs „Wahrheitsgetreue gefälschte Erinnerungen“ wird er gerecht, indem er an vielen Stellen auch sein eigenes Gedächtnis in Frage stellt.

Zwar finden natürlich viele der „Helden“ jener Jahre statt, wie beispielsweise Rudi Dutschke. Aber auch die von den Medien kaum wahrgenommene Rolle der vielen nichtintellektuellen Streiter vor allem bei den Auseinandersetzungen um das AKW Wyhl werden von Mossmann gewürdigt. Dabei tritt seine eigene Biografie fast in den Hintergrund. Eher beiläufig lässt er sein Leben und seine Karriere in die Beschreibung vom Gang der Dinge einfließen. Dabei treten vor allem sein Literaturwissen und seine Kenntnisse in der Musik hervor. Entsprechende Zitate gehören zu den vielen roten Fäden, die sich quasi parallel durch seine Erinnerungen ziehen.

Hier und da mag Mossmann in seiner Beurteilung falsch liegen. Zum Beispiel in einer völlig unkritischen Einschätzung Wolf Biermanns, oder wenn er Joan Baez als „banales Glitzerding“ abtut. Zudem scheinen bei aller „Internationalität“ die politischen Entwicklungen der Sechzigerjahre in Nordamerika und ihre Bedeutung auch für Europa irgendwie an dem ansonsten so aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens vorbeigegangen zu sein. Das ändert jedoch nichts daran, dass Mossmanns Buch zur Pflichtlektüre im Schulunterricht werden sollte. Es ist ein für den Deutsch-, Musik- und Geschichtsunterricht gleichermaßen geeignetes interdisziplinäres Werk, das mehr zum Verständnis einer wichtigen Epoche beiträgt als die meisten vorliegenden „Sachbücher“ zu diesem Thema. Nicht zuletzt sollte erwähnt werden, dass sich Mossmanns Erinnerungen so lesen wie – diese Analogie sei mir gestattet – ein guter Kriminalroman. Einmal angefangen, will man das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bis man bei der letzten Seite angekommen ist.

Michael Kleff

 

WALTER MOSSMANN – Realistisch sein


AMANDA PETRUSICH
It Still Moves –
Lost Songs, Lost Highways, and the Search for the Next American Music

New York: Faber and Faber, 2008
290 S., mit s/w-Abb.
ISBN 978-0-86547-950-0

Fast eineinhalb Jahre lang war Amanda Petrusich unterwegs. Auf Seiten- und auf Hauptstraßen – von New York über Memphis und das Mississippidelta nach Nashville und über die Appalachen zurück nach New York. Ihr Werk ist eine Mischung aus Reisereportage und Sachbuch. Von der Straße aus macht sich die Autorin auf die Suche nach der „amerikanischen“ Musik. Unter Vermeidung jeglichen akademischen Jargons nähert sie sich ihrem Thema in Gesprächen nicht nur mit Musikern an, sondern auch mit Menschen, die sie an für die Musikgeschichte wichtigen Orten trifft – an der Tankstelle oder im Diner. Interviewausschnitte fließen in ihren Bericht ebenso ein wie Literatur- und Archivrecherchen oder Liedzeilen aus Songs, die ihr bei den langen Fahrten auf den US-Highways durch den Kopf gehen oder aus dem CD-Player klingen.

Von Elvis Presley und Moses Asch über Sam Phillips, die Carter Family und Ramblin’ Jack Elliott bis zu Woody Guthrie, Lead Belly, Chet Atkins, Freakwater und Bonnie Prince Billy reicht die Palette der illustren Künstlerschar, anhand deren Petrusich versucht, sich ein Bild davon zu machen, was unter dem Begriff „Americana“ verstanden werden kann. Immer wieder bettet die Autorin die Musiker in die jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ein. Auf diese Weise zeichnet sie auch ein Bild der US-Gesellschaft. Memphis ist eben nicht nur Beale Street, sondern auch Verfall und Rassismus. Der Mythos von der frühen Countrymusik kann beim genauen Hinsehen nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Appalachen Minenarbeiter aus Mangel an Drogen medikamentenabhängig werden. Und wie Starbucks die Musik gewinnbringend vermarktet: „Starbucks-approved singer-songwriters“ schreibt Petrusich.

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, was authentisch ist, wo „populär“ zu „rein kommerziell“ wird, gibt es in diesem Buch nicht. Wie der Titel It Still Moves schon andeutet, die Dinge sind in Bewegung. Auch wenn für viele junge Künstler der weiten Americana-Szene bis heute die 1952 von Harry Smith erstmals veröffentlichte Anthology Of American Folk Music eine unverrückbare Grundlage bedeutet. Und wie sieht es mit der neuen amerikanischen Musik aus, nach der Amanda Petrusich laut Untertitel ihres Buches gesucht hat? Damit – und das ist auch eine Antwort – befasst sich eigentlich nur das letzte Kapitel: „The New, Weird, Hyphenated America: Indie-Folk and the Next American Revival“. Im Bundesstaat Vermont, in dem kleinen Ort Brattleboro an der Ostküste glaubt die Autorin fündig geworden zu sein. Dort ist eine kleine Gruppe von Folkavantgardisten zu Hause, die mit dem Brattleboro Free Folk Festival sogar eine eigene Veranstaltung ins Leben gerufen haben. Wobei hinter dem „neu“ ein großes Fragezeichen stehen muss, folgt man der Aussage des Musikers und Journalisten (Spin, The Wire) Byron Coley, den Amanda Petrusich so zitiert: „Free Folk gehört nicht zur Folktradition. Seine Platten sind alle auf der Folktradition basierende Produkte oder Nachahmungen. Es ist nicht etwas, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde, es ist vielmehr angelernt, angelernt durch das Hören von Platten.“

Michael Kleff

 

AMANDA PETRUSICH – It Still Moves

Update vom
09.02.2023
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