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Gastspiel im Folker!

Magische Wirkungen ...

Von Jan Reichow*

go! www.janreichow.de

* Jan Reichow war von 1976 bis zu seiner
Pensionierung Ende 2005 Musikredakteur
beim WDR, u. a. als langjähriger Leiter
der Abteilung „Volksmusik“
(s. Folker! 02/2006 und 03/2006).

In einer Dorfkneipe bei Bielefeld wurde ich einmal zu später Stunde mit dem „Musikgenie“ des Örtchens bekannt gemacht: Der sangesfreudige Mann beherrschte sämtliche Titel der Musikbox auswendig, und zwar von A bis Z. Ich war zunächst ganz beeindruckt, bis ich merkte, dass hier weniger ein Leistungsnachweis seines musikalischen Vermögens vorlag als dessen planmäßige Beschädigung. Er war selbst ein Automat.

Man kann musikalische Begabung nämlich nicht losgelöst sehen von dem Material, aus dem sie Nahrung bezieht, mit dem sie sich identifiziert und in dem sie sich wohl fühlt. Besteht es vorwiegend aus Schnulzen und Schlagern, so ist der Tatbestand der fahrlässigen Selbstverdummung erfüllt. Für unseren Dauerkonsumenten war die Musikbox vermutlich zu einem musikalischen Universum geworden. Die ständige Wiederholung lädt mit Bedeutung auf, das ist der normale Effekt besinnungslosen Übens. Jedes Detail prägt sich so verlässlich ein, dass es schließlich gleichsam selbsttätig wieder Dr. Jan Reichow hervorkommt, es erscheint fast wie ein Wunder. Man fühlt sich als Eigentümer einer unfassbaren Welt.

Nun wird sogleich jemand aufstehen und sagen: Jeder auf seinem Niveau! Gustav Mahler erhob auch den Anspruch, mit allen ihm zu Gebote stehenden musikalischen Mitteln eine Welt zu schaffen. Und diese symphonischen Riesenschlangen sind nun weiß Gott nicht das Maß aller Dinge. Wissen Sie was? Eine einzige gelungene Melodie kann ganze Symphonien aufwiegen.

Das gehört zu den leicht hingehauenen Sätzen, die in öffentlichen Talkshows spontanen Beifall erhalten. Trotzdem sind sie alles andere als richtig. Denn schiere zeitliche Ausdehnung und sinnvoll gegliederte Größe sind kein lästiges Nebenprodukt. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es wunderbare Melodien gibt, deren einziger Makel darin besteht, dass sie zu früh enden?

„En Älskelig Vän“ von der schönen CD Courage der schwedischen Sängerin Sofia Sandén ist solch ein Fall: „Ein geliebter Freund“. „So lange wie mein Blut dies Herz erwärmt, wird es mir an Liebe nicht mangeln.“ Und schon nach zwei Minuten ist alles vorbei? Das ist doch wohl eine allzu kurze Liebe. Schon bin ich in Versuchung, ein anderes Lied unmittelbar anzuschließen und das erste danach noch einmal folgen zu lassen. Eine A-B-A-Form, das hat den Segen der Geschichte. Oder ich verteile dieses Lied über eine ganze Radiosendung, es kommt drei, vier Mal, eine inhaltliche Begründung wird sich schon einstellen. Und schon sind wir in einem kompositorischen Vorgang, wir disponieren musikalische Wirkungen. Wir verteilen sie im Raum.


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im Folker! 1/2007