backEine aztekische Sirene

Lhasa

Musikerin mit einer eigenen musikalischen Welt

Von Karen Pfundt

Die Sängerin Lhasa de Sela ist eine Wanderin zwischen den Welten – zwischen Mexiko und Nordamerika, zwischen den Sprachen, zwischen Melancholie und Heiterkeit, zwischen Mythos und Realität. Ihr erstes Album, vor zwei Jahren in Kanada erschienen, hat sie nach ihrer Lieblingsfigur benannt – La Llorona, eine aztekische Variante der Sirene, eine mythische Frauengestalt, die die Männer mit ihrem Gesang anlockt und anschließend in Steine verwandelt. Nach den Kanadiern und den Franzosen verzaubert Lhasa mit ihren Liedern nun auch das deutsche Publikum – Karen Pfundt hat sich bei einem Konzert in Berlin in ihren Bann schlagen lassen.

Die ersten elf Jahre ihres Lebens verbringt Lhasa de Sela, geboren 1972 in Big Indian, einem kleinen Dorf in den Catskill-Bergen im Staate New York, in einem Wohnwagen – mit ihren Eltern, ihren drei Schwestern Sky, Ayim und Myriam, einem Hund, drei Katzen, drei Vögeln und einer Schildkröte; ständig unterwegs, mal in den USA, mal in Mexiko, nie länger als ein paar Monate am selben Ort. Einen Fernseher gibt es nicht, eine Schule auch nicht. Die Mutter, Alexandra Karam, erst Schauspielerin, dann Photographin, bringt ihren Töchtern Lesen und Schreiben bei, der Vater, Alejandro Sela, Historiker und Schriftsteller, erzählt Geschichten oder liest vor. Sie hört gern Bob Dylan, arabische Musik, lateinamerikanische Sänger wie Victor Jara oder Violeta Parra, die Misa Criolla; er liebt mexikanische Lieder, die schmalzigen aus den fünfziger Jahren. Abends werden Sketche erfunden, die Mutter spielt irische Harfe....

LhasaLhasa, die glückliche Nomadin: Dies ist die romantische Seite von Lhasas de Selas Lebensgeschichte. Es gibt auch die weniger romantische: Lhasa, die Heimatlose, Tochter einer Amerikanerin und eines Mexikaners, die sie sich in Mexiko nie als echte Mexikanerin gefühlt hat, weil sie keine schwarzen Haare hat, und in den USA nicht als echte Amerikanerin, weil sie keinen einzigen TV-Helden kennt. Hin- und hergerissen zwischen den Identitäten, bis sie, mit achtzehn, ins kosmopolitische Montreal zieht, in den französischsprachigen Teil Kanadas. Dort fragt sie endlich niemand mehr, wo sie denn nun eigentlich herkomme.

Wie ist sie, Lhasa de Sela, die Künstlerin mit der abenteuerlichen Lebensgeschichte? Schwer zu beschreiben. Ein feines Gesicht, hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende Augen. Mal wirkt sie katzenhaft scheu, mal strahlend offen; mal schutzbedürftig, mal voller Kraft, mal pathetisch-verführerisch und dann wieder unschuldig-naiv. Nach eigener Auskunft von Grund auf melancholisch, bricht sie bei jeder Gelegenheit in Lachen aus; vor allem, wenn sie versucht, ihr Leben zu beschreiben – und immer wieder eine unglaubliche Geschichte dabei herauskommt. »Das muß damit zusammenhängen, daß mein Vater Schriftsteller ist, und damit, daß ich als Kind so viel gelesen habe. Ich habe mein Leben immer als Literatur gesehen. Ich hatte ja eine sehr dramatische Kindheit, und die Trennlinie zwischen der Realität und den Geschichten war sehr dünn. Ich glaube, darum mußte ich mir für meine Lieder auch eine Sprecherin suchen, jemanden, die für mich etwas ausdrückt.«

Ihre Sprecherin, La Llorona, die auch ihrem ersten Album den Titel gegeben hat, ist eine Gestalt aus der aztekischen Mythologie. Der Legende nach eine Frau, die die Männer mit ihrer melancholischen Stimme verführt, sie an den Fluß lockt und sie dort mit einem Kuß in Steine verwandelt. Noch heute, erzählt Lhasa, drohen mexikanische Mütter ihren Kindern, wenn sie nicht artig seien, werde die Llorona sie holen. Für Lhasa ist diese Gestalt ein Teil ihrer Kindheit, ihr mexikanischer Teil; sie symbolisiert das Surrealistische, das Magische, Unvorhersehbare, den schwarzen Humor. »Die Leute in Mexiko lachen viel über den Tod, und der Tod ist viel präsenter in ihrem Leben und in ihrem Alltag als in den USA oder in Kanada. Das hat mich sehr beeinflußt, denn was ich in meinen Liedern versuche, ist von all diesen Dingen zu erzählen, dem Leben, dem Tod, und all dem...«

La Llorona heißt übersetzt die Weinende, das Klageweib. »Weinend, mit dem Gesicht zur Wand...« – so beginnt das erste Lied auf Lhasas bisher einzigen Album. Das erste von vielen melancholisch bis dramatisch gestimmten Liedern – ganz eindeutig das Lieblingsgenre von Lhasa de Sela. Bei ihren Auftritten in Deutschland kündigt sie – auf deutsch – immer »noch ein bißchen trauriges Lied« an, kichert entschuldigend und schließt die Augen. Dann beginnt sie zu singen; ganz leise, mit warmer, kehliger Stimme, die sich langsam steigern kann bis zu einem Schluchzen. Ihre Hände, ihr ganzer Körper begleiten die Stimme, mit beherrschten, aber spannungsgeladenen Gesten. Jeder Ton sitzt, jede Silbe im Spanischen ist dramatisch ausgerollt. Herzzerreißende lateinamerikanische Melodien fließen zusammen mit slawischer Melancholie und Gypsie-Klagegesängen.

Woher soviel Traurigkeit? »Ich stamme von sehr traurigen Menschen ab«, meint Lhasa und lacht schon wieder ihr entwaffnendes Lachen, »Leuten, die sich unwohl gefühlt haben da, wo sie waren – und die deswegen herumgezogen sind. Meine Vorfahren kommen aus Rußland, Polen, Frankreich, Spanien, Mexiko, Irland, aus dem Libanon – so viele Länder, so viele rastlose Menschen, die herumreisten, die Menschen anderer Kulturen geheiratet haben, deren Kinder dann wieder Menschen aus anderen Ländern heirateten, und ich kann das in meinen Eltern auch sehen, und in mir selbst natürlich auch – dieses Zigeuner-Ding, mich als Außenseiter zu fühlen.«


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