von Mike Kamp
Die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Unsere britischen Kollegen von der Zeitschrift Folk Roots wählten just zu dem Zeitpunkt, als sie den Begriff Folk auf f reduzieren, die 20teilige Serie »The Voice of the People« der ältesten britischen Folk-Plattenfirma Topic Records zur CD des Jahres 1998. Eine Ausgabe später machte sich ein gewisser Gavin Kelly unbeliebt, als er auf den Leserbriefseiten von fRoots die Interpreten der Serie als »blökende alte Tatterheinis« oder »zahnlose, vom Gesangsvortrag überforderte Greise« bezeichnete und den Freunden dieser Art von Musik überdies Xenophobie (krankhafte Abneigung gegenüber Ausländern) unterstellte. Solche Extreme wecken natürlich Interesse an der Sache. Wer hat recht?
Es handelt sich um ca. 500 sogenannte Feldaufnahmen (im Gegensatz zu Studioaufnahmen) traditioneller Musik aus England, Irland, Schottland und Wales. Die älteste Aufnahme stammt aus dem Jahr 1908, die jüngsten aus diesem Jahrzehnt, aber die meisten aus den 60er und 70er Jahren. Das Material wurde tontechnisch bearbeitet. Etwa 2/3 des Materials stammt aus den riesigen Archiven der Fa. Topic, das restliche Drittel aus privaten Sammlungen.
Vol. 1
»Come let us buy the licence Songs of courtship & marriage«
(Topic TSCD651) (Da die Vertriebsfrage für Deutschland bei Redaktionsschluß noch ungeklärt war, empfehlen wir bei Interesse den direkten Kontakt über Topic Records, 50 Stroud Green Road, London N4 3EF, England) |
Die 20 CDs sind thematisch geordnet (Lieder mit maritimem oder ländlichem Charakter, Trinklieder, Auswandererlieder, Tanzmusik etc). Jede CD hat ein dickes Beiheft mit meist über 50 Seiten (Vorsicht, die Box hat Übergröße, d.h. sie ist dicker!): Darin lesen wir jeweils eine Einführung in das Projekt (20x identisch), Erläuterungen zu dem speziellen Themenkreis der entsprechenden CD, Vorstellung der Sänger und/oder Musiker, teils auch mit Fotos (tauchen Sänger mehrfach auf, was häufiger passiert, wird die Bio oft leicht dem Thema angepaßt) und sämtliche Texte mit aufnahmetechnischen Daten. Die Hefte sind das Werk von Dr. Reg Hall von der University of Sussex, der gemeinsam mit Topic-Chef Tony Engle diese Sammlung zusammengestellt hat. Als aktiver Musiker (z. B. The Rakes) weiß er, wovon er schreibt.
Wer sich noch nie mit der traditionellen Musik der Inseln beschäftigt hat, wird mit den Namen anfangs wenig anfangen können. Einige dieser Künstler seien dennoch erwähnt, weil sie unter Kennern der traditionellen Szene als Stars galten, wie z.B. Sarah Makem, Micho Russell oder Paddy Tunney aus Irland, Belle Stewart, Jeannie Robertson oder Jimmy McBeath aus Schottland, Walter Pardon, Pop Maynard oder Sam Larner aus England oder Phil Tanner aus Wales. Überwiegend sind es Lieder, die fast ausschließlich a-capella vorgetragen werden, obwohl selbst auf CDs mit Themen, die nichts mit Tanz zu tun haben, immer ein paar Instrumentalstücke zur Abwechslung zu hören sind.
Man kann in Großbritannien verschiedene Phasen des Volksliedsammelns unterscheiden. Um die Jahrhundertwende war ein gewisser Nationalismus die Triebfeder der meist der studierten Mittelklasse entstammende Sammler. Die Theorie lautete, daß die Gesellschaft ihre Unschuld verloren hätte und ihre Seele nur durch eine pure Kultur zurückerlangen könne. Man begab sich auf die Suche nach den edlen Wilden der britischen Kultur und meinte sie in der Landbevölkerung zu finden. Dabei ging es jedoch nicht darum, die Kultur der Mägde und Knechte zu dokumentieren, sondern um die Ansammlung von Rohstoffe, der dann durch richtige Musiker bearbeitet werden sollte. Entsprechend wurde nach Belieben zensiert, redigiert und umgestellt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das, was allgemein als Folk Revival bezeichnet wird. Es war die Zeit der Sammler, die unseren heutigen Begriff von Folkmusik entscheidend mitgeprägt haben. Namen wie Peter Kennedy oder Seamus Ennis, der Amerikaner Alan Lomax (s. Artikel weiter vorne in diesem Heft) oder der Schotte Hamish Henderson stehen für eine andere, den Informanten stärker in den Mittelpunkt stellende Herangehensweise. Erst jedoch in den letzten Jahren zeigen sich immer stärker die Verbindungen zwischen den einzelnen Wissenschaften. Die Volkskunde steht eben nicht isoliert da, sondern zeitigt erst dann überzeugende Resultate, wenn sie umfassend die sozialen und historischen Zusammenhänge berücksichtigt, in denen die Menschen lebten, persönlich ebenso wie gesellschaftlich.
Explizit im geschilderten Sinne dokumentiert dieses CD-Projekt eine ausgestorbene, bestenfalls aussterbende Kultur, denn die sozialen und historischen Umstände der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts haben sich nachhaltig verändert. Die ausführlichen Schilderungen in den CD-Beiheften sind daher unerläßlich, denn sie machen es möglich, die Aufnahmen im sozialen Kontext zu sehen.
Reg Hall zitiert als letztendliches und subjektives Auswahlkriterium: »..guter Vortrag und gutes Material ebenso wie der genauso subjektive Glaube an den ästethischen Verdienst und den historischen Wert...« jedes einzelnen Stückes.
Tony Engle hatte noch eine weitere Motivation für »The Voice of the People«, nämlich die Konspiration (wie er es nennt) der BBC und der Gesellschaft zu durchbrechen, die beispielsweise ihre eigenen Archive verschlossen halten, Klassik fördern bis zum Abwinken, selbst Jazz ein bißchen unterstützen, aber ihre eigenen kulturelle Geschichte schlichtweg ignorieren. Dem will er entgegehalten: Hier ist das Material in guter technischer Qualität! Es steht uns allen zur Verfügung.
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Mehr über The Voice of the People im Folker! 4/99