1934: Zwei Männer sind mit einem transportablen Aufnahmegerät im Südwesten des US-Bundesstaats Louisiana unterwegs, um Feldforschung für die Library of Congress in Washington durchzuführen. Sie machen Aufnahmen von Cajun-Musikern, Jahrzehnte bevor dieses Genre mit seiner Mischung von französischen, afrikanischen und amerikanischen Traditionen eine ungeahnte Popularität erlangen sollte. Der eine, John A. Lomax, hat schon vor der Jahrhundertwende begonnen, Volkslieder seiner Region aufzuzeichnen. Der andere, damals noch keine 20 Jahre alt, ist sein Sohn Alan. Er tritt in die Fußstapfen seines Vaters und arbeitet im Laufe der folgenden 60 Jahre an der Verwirklichung seines Traums von einer »Global Jukebox« mit all den vielfältigen Klängen dieser Welt.
Von Michael Kleff
»Mein Vater hat immer gesungen. Auch meine Mutter kannte viele Lieder. Mit dem Kinderlied National Lullaby hat uns unsere Großmutter immer in den Schlaf gesungen. Wir haben es in unser Buch »American Ballads And Folk Songs« aufgenommen und heute hört man es überall. Mein Vater hatte ein gutes Gespür für solche Songs. Wir haben immer gesungen, wenn wir im Land unterwegs waren.«
So erinnert sich Alan Lomax an die Klänge seiner Kindheit und Jugendzeit. Damals entstand das von Lomax erwähnte Buch, die erste wichtige Sammlung amerikanischer Volkslieder. Jene Jahre sollten die Grundlage für die Karriere des am 31. Januar 1915 in Austin, Texas, geborenen Anthropologen und Liedsammlers legen, ohne den das Folkrevival in den 50er und 60er Jahren nicht vorstellbar ist. 15 Bücher, Filme, eine Vielzahl von Rundfunk- und Fernsehprogrammen, rund 100 Langspielplatten und unzählige, teilweise unveröffentlichte Tonbänder mit Aufnahmen von seinen musikalischen Feldforschungsreisen in alle Welt das ist das für alle sichtbare Ergebnis eines Lebenswerks, das noch nicht abgeschlossen ist.
Als Alan Lomax sich erstmals Anfang der 30er Jahre mit seinem Vater und einem über 150 Kilo schweren Aufnahmegerät im Gepäck auf den Weg durch Mississippi, Louisiana, Kentucky und Tennessee machte, führte die Reise Vater und Sohn vornehmlich in karge Wohnstuben, Kirchen, Gefängnisse und Plantagen. Während Lomax Senior sich als Folklorist dabei vor allem für die Dichtkunst in der Musik interessierte, konzentrierte sich Alan auf die Frage nach der Herkunft der Musik. Er wollte wissen, welche Verbindungen zwischen den Inhalten der Songs und ihren sozialen Hintergründen bestehen.
Zunächst betrachtete Alan Lomax die Gesänge, Worksongs, Field Holler und Fiddle Tunes nur als interessantes Spielmaterial für intellektuelle Mittelklasse-Angehörige. Doch als genau das eintrat und beispielsweise Aaron Copland einige der von John A. Lomax zusammengetragenen Cowboysongs 1938 in seiner Komposition »Billy The Kid« verarbeitete, kam das Ergebnis Alan Lomax absolut blutleer vor. »Folkmusik«, so seine persönliche Schlußfolgerung, »ist eine eigenständige demokratische Kunstform«, die darüber hinaus dem von der Wirtschafts-Depression zerrissenen Land einen Zusammenhalt bot.
Im Sommer 1933 waren die Lomaxes im Süden der USA unterwegs. Sie waren auf der Suche nach schwarzen musikalischen Talenten. Und John A. Lomax glaubte zu wissen, wo man sie findet: in den Gefängnissen und Arbeitslagern. Dort entdeckten John A. und Alan Lomax nicht nur einzigartige Zeugnisse über das harte Schicksal der Schwarzen aus Afrika in der sogenannten Neuen Welt, sondern auch interessante Aufschlüsse über ursprüngliche Formen des Blues. Und ihre Suche nach musikalischen Talenten führte zu historischen Entdeckungen, darunter Leadbelly. »Er bat uns«, erzählt Alan Lomax, »ihm zu helfen, aus dem Gefängnis zu kommen. Wir haben ihn nach New York gebracht. Dort wurde er ein Hit. Er war der erste Folksänger überhaupt, über den je ein Buch geschrieben wurde. Er wurde zum Symbol für die Größe des schwarzen Songs. Nachdem wir ihn beim Publikum im Osten der USA eingeführt hatten, ist er seinen eigenen Weg gegangen. So war es auch mit Woody Guthrie, den ich ebenfalls entdeckt habe.«
Alan Lomax kehrte immer wieder zu Aufnahmen in Gefängnisse zurück. So in den Jahren 1947 und 1948 in das Staatsgefängnis von Parchman in Mississippi. Es war eigentlich mehr eine Baumwollplantage hinter Gittern, auf der Verurteilte als Arbeiter eingesetzt wurden. Die Wächter waren keine Strafvollzugsbeamte sondern erfahrene Plantagenmanager. Und der jährliche Bericht für den Gesetzgeber enthielt vor allem eine Gewinn- und Verlustrechnung mit dem Akzent auf Profit. Oft trennte nur ein Drahtzaun die Gefangenen von Landarbeitern in Freiheit. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Fluchtversuch das Leben kosten konnte.
Aufnahmen wie die auf der Parchman Farm, bedeuteten für Alan Lomax eine Dokumentation der Geschichte der Sklavenarbeit, der kleinen Farmer und der gesetzlosen Zustände in den Arbeitslagern. Auf der Suche nach den Spuren der Musikgeschichte der schwarzen Amerikaner entstanden aber auch Aufnahmen von vielen, heute bekannten Bluesmusikern, wie Bukka White, Son House und Muddy Waters.
Eine weitere Entdeckung von Alan Lomax war Mississippi Fred McDowell, den er bei seiner Southern Journey-Reise 1959 auf dessen kleiner Farm in Como, Mississippi traf. Wie viele andere Musiker, die Lomax im Laufe der Jahre aufnahm, hatte auch Fred McDowell noch nie eine Aufnahme von sich selbst gehört. Diese Lomax-Produktion war so erfolgreich, daß McDowell mehrere Platten für Testament, Arhoolie und Capitol einspielte. 1964 trat er beim legendären Newport Folk Festival auf. Und 1965 war er auch in Europa auf mehreren Folk und Blues Festivals zu hören. Auf ihrem »Sticky Fingers«-Album coverten die Rolling Stones mit »You Got To Move« einen McDowell-Song. Die Tantiemen davon sicherten Fred und seiner Frau einen angenehmen Lebensabend bis zu seinem Tod im Juli 1972.
Ein Wendepunkt im Leben von Alan Lomax kam am 3. März 1940. Im Zuge der Veröffentlichung von John Steinbecks »Früchte des Zorns« trat Lomax im Rahmen einer von dem Schauspieler und Folksänger Will Geer organisierten Benefizveranstaltung für Wanderarbeiter auf. Das Konzert an jenem Abend war der erste größere öffentliche Auftritt von Interpreten wie Leadbelly, Woody Guthrie, Burl Ives und einem sehr jungen Pete Seeger. Für Lomax war die Veranstaltung der Ausgangspunkt für eine Renaissance des amerikanischen Folksongs. Folkmusik war für Lomax eine alternative Kultur der Arbeiterklasse: die musikalische Botschaft eines Amerikas, die das offizielle Amerika nicht hören wollte.
Nach der Veranstaltung in Washington lud Alan Lomax Guthrie in die Library of Congress ein und unterhielt sich dort mit ihm mehrere Tage lang. Drei Stunden davon sind auf »Woody Guthrie Library Of Congress Recordings« festgehalten. Es ist eins der wenigen existierenden Gesprächsdokumente von Woody Guthrie. Ähnliche Produktion machte Alan Lomax mit Leadbelly und mit Jelly Roll Morton. Dessen aus zwölf Platten bestehende Dokumentation wird als erste umfassende Biographie eines Jazzmusikers angesehen.
Innerhalb von zwei Monaten im April und im Mai 1940 stellte Lomax gemeinsam mit Woody Guthrie und Pete Seeger, den er schon seit 1935 kannte, das Buch »Hard Hitting Songs for Hard Hit People« zusammen. Eine Sammlung von politischen Protestliedern, die Alan Lomax im Laufe der Jahre gesammelt hatte, weil sein Vater sie wegen der politischen Inhalte der Songs nicht hatte veröffentlichen wollen. Ein Verleger wurde allerdings erst 1967, 27 Jahre später, gefunden.
Nach dem 2. Weltkrieg gründete Lomax gemeinsam mit Freunden wie Seeger und Guthrie »People´s Songs«, eine Gruppe von Liedermachern, die bei Gewerkschaftstreffen, Demonstrationen und fortschrittlichen Veranstaltungen aller Art auftraten. Zwar waren diese neugeschriebenen Songs erheblich radikaler als die Lieder, die er im Rahmen seiner Feldforschungen bislang kennengelernt hatte. Doch sie bauten nach Ansicht von Lomax auf der Tradition des Volkes auf. »In diesem Buch«, schrieb er im Vorwort zu »The People´s Song Book«, »weht ein frischer Wind, der jeglichen Hauch von Zweifel und Entmutigung aus deinem Herzen vertreiben wird.« So einfach war es dann jedoch auch nicht, wie die Geschichte zeigen sollte.
1950 wurde die Weavers-Version von Leadbellys »Goodnight Irene« zum Nummer-1-Hit im Land und das von Lomax verkündete Folkrevival war in voller Blüte. Der Kalte Krieg jedoch auch. Lomax hatte seinen Job in Washington 1942 aufgegeben. Ein Parlamentsausschuß bezeichnete die Arbeit des Archive of American Folk Song als zu radikal. Auch der Name Alan Lomax tauchte jetzt in den Listen von Red Channel auf, einer Publikation, die davon getrieben war, den angeblichen Einfluß der Kommunisten auf Radio und Fernsehen aufzudecken. Es hätte wahrscheinlich nicht mehr lange gedauert, daß auch Lomax vom McCarthy-Ausschuß aufgefordert worden wäre, »Namen zu nennen«. Was Burl Ives tat und Pete Seeger auf Kosten eines jahrelangen Auftrittsverbots in den Medien konsequent ablehnte. Lomax verließ das Land und ging nach Europa. »Als ich das Land 1950 verließ, um mir Europa anzuschauen, war ich ein totaler amerikanischer Provinzialist. Alles für mich hat hier angefangen und reichte bis San Francisco. Dann bin ich nach Irland gegangen und habe den irischen Dudelsack gehört. Irische Frauen, die singen wie die Schaumkronen der Wellen auf dem Meer. Mit diesen schwebenden Stimmen, die wie der Duft von Blumen sind. Das hat mich sozusagen internationalisiert und zum Weltbürger gemacht. Da habe ich mich von meiner Provinzialität verabschiedet und mich der Aufgabe verpflichtet, diese Klänge der ganzen Welt zugänglich zu machen.«
Alan Lomax hatte Columbia Records davon überzeugen können, ihn bei der Produktion einer »World Library of Folk Music« zu unterstützen. Den ersten Winter in Europa verbrachte er im Westen Irlands. Im darauffolgenden Sommer ging er nach Schottland. 1953 schickte Columbia Records Alan Lomax nach Spanien, trotz seiner tiefen Abneigung gegen das dort herrschende faschistische Regime. Einen Monat lang, so schreibt Alan Lomax über seinen Spanien-Aufenthalt, sei er ziellos herumgezogen, geblendet von der Schönheit des Landes und krank angesichts der von Armut und von einem Polizeistaat unterdrückten, prächtigen Menschen. Die Rundfunk-sendungen, die Alan Lomax über die spanische Musik machte, waren so erfolgreich, daß man ihn daraufhin nach Italien schickte.
Die Zeit in Italien bezeichnete Alan Lomax einmal als die glücklichste seines Lebens. Dort und in Spanien entstanden auch die Grundlagen für sein in den 60er Jahren mit Kollegen der Columbia-University entwickelte System zur interkulturellen Analyse von Gesangs-, Tanz-, Bewegungs- und Sprachstilen. »Im Norden Spaniens, im Baskenland klangen die Stimmen leichter, befreiter«, beschreibt Alan Lomax seine Beobachtungen. »Ich habe mir die Gesichtsausdrücke betrachtet und das Lächeln darin gesehen. Da erkannte ich, daß im Süden die Mädchen in gewisser Weise eingesperrt waren. Im Norden dagegen flanierten junge Mädchen und Männer abends ganz offen Hand in Hand. Da wurde mir klar, daß das etwas mit dem Charakter der Stimme zu tun hat. Und dieses Muster habe ich auch in Italien entdeckt. Wenn auf Sizilien ein Mädchen einen Mann nur anschaute, konnte es von Bruder oder Vater verstoßen werden. Im Norden dagegen herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Die Frauen waren dort einfach nicht so sehr unterdrückt. Im Laufe der Zeit habe ich dann weitere Beispiele dieser Art gesammelt. Auf diese Weise fand ich einen Weg, auch Plattenaufnahmen zu klassifizieren und miteinander zu vergleichen. Daran arbeite ich seit nunmehr 35 Jahren. Ich bezeichne es als ´Cantometrics´. Lieder als Vergleichsmaßstab für die Menschen.«
Nach zwei Schlaganfällen in den letzten Jahren mußte Alan Lomax in seinem unermüdlichen Tatendrang zurückstecken und er gab die Hauptverantwortung für das Wiederveröffentlichungsprojekt an seine Tochter Anna Lomax Chairetakis ab, die in Florida lebt. »Es wäre wahrscheinlich nicht möglich gewesen, dieses riesige Projekt anzupacken«, sagt sie, »wenn sich nicht jemand darum gekümmert hätte. Alan hat genaue Anweisungen aufgeschrieben, die auch Bestandteil des Vertrags mit Rounder sind, wonach ich oder seine Schwester Bess das Projekt betreuen sollen, wenn er es aus Krankheitsgründen nicht machen kann. Wir haben darüber gesprochen, ich lebte damals in Florida, mein Mann hatte dort einen Job und mein Sohn ging dort zur Schule, und ich meinte nur, das wird ganz schön hart. Da war niemand sonst weit und breit und auch kein Geld. Alles war ziemlich verfahren, und Alan lag im Krankenhaus. Aber ich gehöre zu den Personen, die nicht lange herumreden, sondern anpacken und schauen, wie man es hinkriegt.«
Februar 1999. Barbara Hampton, die Leiterin der ethnomusikologischen Abteilung am Hunter College in New York City eröffnet ein Seminar, in dessen Verlauf das neueste Projekt der Alan Lomax-Collection vorgestellt wird: die Ergebnisse seiner Reisen in die Karibik 1962. Unterstützt von der Rockefeller Foundation war Lomax auf der Suche nach den vielen unterschiedlichen Einflüssen auf die karibische Kultur. Lomax interessierte vor allem, welche Spuren Afrikaner, Franzosen, Engländer, Spanier und Inder auf der Inselgruppe im Südosten der Karibik hinterlassen hatten. Zwischen 1838 und 1917 kam allein eine halbe Million Inder als Vertragsarbeiter nach Trinidad, Guyana, Surinam und in andere karibische Kolonien. Während einige von ihnen später nach Indien zurückkehrten, ließen sich die meisten, konzentriert in kleinen ländlichen Enklaven, nieder. Dabei versuchten sie, ihre traditionelle Kultur zu bewahren. Vor allem auf Trinidad entwickelten sie im Laufe der Jahre einen zunehmenden wirtschaftlichen Einfluß. Mittlerweile ist auch die indische Musik, sowohl in der traditionellen, wie in der kreolischen Form, zu einem festen Bestandteil der multiethnischen Kultur von Trinidad geworden.
Lomax war beeindruckt von der Vielfalt der Kulturen, die er auf der Inselwelt vorfand. Das Aufeinandertreffen von Europa und Afrika überall in der Karibik hatte eine unzählige Reihe musikalischer Stile hervorgebracht. Europäische Figurentänze wie die Quadrille, eingeführt von französischen und englischen Siedlern, waren überall anzutreffen. Jigs and Reels von den britischen Inseln bekamen im Kontakt mit afrikanischen Musikformen einen neuen Charakter. So wie Lieder der eingewanderten Protestanten eine Rolle beim Aufkommen der schwarzen amerikanischen Gospelmusik spielten. Folkinstrumente wie die Maultrommel und lokale Versionen des Banjo zeigten eine direkte Linie zwischen Nordamerika, der Karibik und Brasilien. Auf St. Bartélemy hoch im Norden der Inselkette entdeckte Alan Lomax sogar eine mittelalterliche französische Ballade. Für Lomax ein weiterer Beweis, daß nicht nur afrikanische Musiktraditionen auf karibischen Boden ihre Spuren hinterlassen hatten, sondern auch europäische.
|
|
|
|
Mehr über Alan Lomax im Folker! 4/99