FOLKER – Halbmast

HALBMAST

JEAN RITCHIE

Jean Ritchie * Foto: Silas House

8.12.1922, Viper, Kentucky, USA
bis 1.6.2015, Berea, Kentucky, USA

Ihren Namen verbindet man mit dem Appalachian Dulcimer, den sie in den Fünfzigerjahren in die aufblühende Folkszene New Yorks brachte. Jean Ritchie kam aus Viper, einer Ansiedlung am Fuße der Cumberlands, wo ihre Familie seit dem achtzehnten Jahrhundert lebte. Neben eigenen sozialkritisch-politischen Liedern, die den Kohletagebau und den damit einhergehenden Kahlschlag behandeln besteht ihr schier unerschöpfliches Repertoire aus traditionellen Lieder und Balladen, erlernt im täglichen Miteinander ihrer Familie, jene Balladen, die Cecil Sharp in den Appalachen suchte und dabei auch von Ritchies Familie sammelte. In einem autobiografischen kleinen Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Familie und von deren Gesangstradition. Singing Family of the Cumberlands (1955) war bis zu diesem Zeitpunkt das beste Zeugnis der Lebensart und der Traditionen in den Appalachen. Andere Titel wie Dulcimer People, Folk Songs of the Southern Applachians und viele mehr sollten folgen. Beachtlich sind ihre dreißig Alben, die zwischen 1952 und 2002 entstanden, sowie die unzähligen Aufnahmen von Alan Lomax, die noch heute im Archive of Folk Culture der Library of Congress in Washington einhörbar sind. Ihre Alben wurden in den späten Fünfziger- und Sechzigerjahren ein Fundus des Folkrevivals. Nach Auftritten während des Newport Folk Festivals 1959 und im New Yorker Greenwich Village sollte sie auch in der Carnegie Hall und der Royal Albert Hall auf der Bühne stehen. Ihre Lieder wurden von Pete Seeger, Bob Dylan, Linda Ronstadt, Dolly Parton, Emmylou Harris, Judy Collins und anderen eingespielt. Sie bleibt als wichtiger Bewahrer traditioneller Musikkultur der Appalachen und als einflussreiches Vorbild des Folkrevivals der Sechzigerjahre in Erinnerung.

Delf M. Hohmann

RONNIE GILBERT

Ronnie Gilbert

7.9.1926, Brooklyn, New York, USA,
bis 6.6.2015, Mill Valley, Kalifornien, USA

Ruth Alice Gilbert, so ihr bürgerlicher Name, war die Tochter eines ukrainischen Fabrikarbeiters und einer polnischen Schneiderin. Als Kind bereits sang sie regelmäßig in dem Radio-Kinderprogramm Big Brother Bob Emory’s Rainbow House, später wurde sie in Washington Mitglied der Topical-Folksong-Gruppe Priority Ramblers. Im Sommer 1944 lernte Gilbert den Gitarristen und Bariton Fred Hellerman kennen, mit dem sie 1948 bei einem Thanksgiving-Hootenanny auf den Autor und Sänger Lee Hays und den Banjopicker und Sänger Pete Seeger traf. Fast zufällig ergab sich die Formation, die sich nach einem Drama von Gerhart Hauptmann The Weavers nannte und mit ihren Folksongs die Hitparaden stürmte. Sie traten von Küste zu Küste auf und verkauften Millionen Platten mit Liedern wie „If I Had A Hammer“, „Tzena Tzena Tzena“ oder „Goodnight Irene“. Gilberts strahlender Alt prägte diese Lieder, erhob sich mühelos als Leadgesang über die Stimmen ihrer Bandmitglieder oder fügte sich perfekt in den Gesamtklang ein. 1950 folgte der jähe Absturz, als die Mitglieder der Gruppe als Kommunisten gebrandmarkt und weitere Auftritte praktisch unmöglich wurden. 1952 löste die Band sich offiziell auf. Die Weavers zählen zu den einflussreichsten US-amerikanischen Folkgruppen und viele spätere Sängerinnen berufen sich auf Gilbert als wichtigen Einfluss. Gilbert, die zwischenzeitlich einen Master in Klinischer Psychologie erwarb und einige Jahre als Therapeutin arbeitete, war weiterhin politisch und künstlerisch aktiv, etwa als Sängerin in dem Projekt HARP (1984) mit Arlo Guthrie, Pete Seeger und der Singer/Songwriterin Holly Near, mit der sie zudem Anfang der Achtzigerjahre zwei Duoalben veröffentlichte. Daneben spielte sie eigene Platten ein, arbeitete als Schauspielerin. Ihre Autobiografie Ronnie Gilbert – A Radical Life in Song wird im Herbst 2015 veröffentlicht. Gilbert starb im Alter von achtundachtzig Jahren in Kalifornien.

Ulrich Joosten

BRUCE ROWLAND

Bruce Rowland

20.5.1939, Park Royal, Middlesex, England,
bis 30.6.2015, Torquay, Devon, England

Bruce Rowlands großer, wenn auch auf dem Fernsehbildschirm flüchtiger Moment auf der weltweiten Bühne kam im August 1969, als Joe Cocker mit seiner Version von „With A Little Help From My Friends“ die Festivalbühne in Woodstock für sich einnahm. Rowlands Schlagzeugspiel war dabei eine Klasse für sich in Sachen Begleitung und wechselnder Dynamik. Im Juni 2002, als Cocker das Lied während des goldenen Thronjubiläums der Königin sang, orientierte sich sogar Phil Collins an Rowlands Spielweise. Auf Vorschlag des Produzenten Glyn Johns wurde der Sessionmusiker Rowland Anfang 1975 während der Aufnahmen zu Rising For The Moon Mitglied der britischen Folkrockband Fairport Convention, bei der er bis 1979 blieb und deren Klangspektrum er um Keyboards erweiterte. Gelegentlich ging er sogar eine kompositorischen Partnerschaft mit Dave Swarbrick ein, etwa 1976 auf dem Album Gottle O’Geer. Richard Bruce Rowland wurde im Mai 1939 als erstes von zwei Kindern von Hilda und John Haylock Hussey Rowland geboren. Er fand nie heraus, wie er die falsche Angabe seines Geburtsjahres (1941) in Wikipedia korrigieren konnte. Wikipedia „entkorrigierte“ jeglichen Versuch. Kurz bevor er starb, übermittelte er mir über Dave Swarbrick seine korrekten Geburtsangaben.

Ken Hunt

THEODORE BIKEL

Theodore Bikel * Foto: Kirk McKoy

2.5.1924, Wien, Österreich,
bis 21.7.2015, Los Angeles, Kalifornien, USA

Über zweihundertmal stand er als Milchmann Tevje in Anatevka auf der Bühne, war Captain Trapp in der Broadway-Version von Meine Lieder, meine Träume, spielte einen deutschen U-Boot-Offizier in Duell im Atlantik und trat in der Filmversion von My Fair Lady auf. Theodore Bikel war einer der vielseitigsten Charakterdarsteller Hollywoods. Für seine Rolle in Flucht in Ketten wurde er 1959 für den Oscar nominiert, den dann allerdings Burl Ives bekam. Das in Wien geborene jüdische Multitalent floh im Alter von dreizehn Jahren mit seiner Familie vor den Nazis nach Palästina. Später studierte Bikel Schauspiel an der Royal Academy of Dramatic Art in London. In England entdeckte er auch die Folkmusik für sich und lernte das Gitarrenspiel. 1955 zog er nach New York, wo er vom Label Elektra unter Vertrag genommen wurde und sechzehn Alben mit unter anderem jiddischen, hebräischen und russischen Volksliedern aufnahm. Ende der Fünfzigerjahre war Bikel mit Pete Seeger einer der Mitbegründer des Newport Folk Festivals. Er engagierte sich als politischer Aktivist unter anderem für die Auswanderung der Juden aus der Sowjetunion, für die progressive zionistische Bewegung und gegen das Apartheid-Regime in Südafrika. Jahrelang gehörte er dem amerikanischen Jewish Congress an und war im Vorstand von Amnesty International. Er erhielt viele Auszeichnungen, 1997 etwa den Lifetime Achievement Award der National Foundation for Jewish Culture, 2013 wurde er von der österreichischen Regierung mit deren höchstem Kunstpreis bedacht. Im selben Jahr sagte Bikel der Jewish Telegraphic Agency, auf seinem Grabstein solle auf Jiddisch stehen: „Er war der Sänger seines Volkes.“

Ulrich Joosten

MARIEM HASSAN

Mariem Hassan 2012 * Foto: Lucía Domínguez

Mai 1958, Ued Tazua, Westsahara
bis 22.8.2015, Smara, Westsahara

Am 22. August starb die Diva der sahrauischen Musik, Mariem Hassan, im Alter von 57 Jahren in Smara in der Westsahara. Sie starb nach langer Krankheit an Krebs. Hassan wurde 1958 als drittes von zehn Kindern in der Westsahara geboren und begeisterte schon früh bei Festen und anderen Gelegenheiten mit ihrer Stimme. Mariem Hassan ist – wie die meisten Musiker der Westsahara – in der Klangwelt ihrer Kultur aufgewachsen. Deren musikalischen Techniken, ihre differenziert ausgearbeitete Musiktheorie und ihre musikalischen Traditionen werden mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Als Jugendliche sang sie auch bei Versammlungen der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario und später in der Flüchtlingszeltstadt Smara. Ihre Lieder begleiteten die dramatische Geschichte der sahrauischen Nomaden: Besatzung, Vertreibung und das Elend der Flüchtlingscamps. So wurde Mariem Hassan mit ihrer Gruppe Mártir Luali zur musikalischen Botschafterin und warb in vielen Ländern mit ihren Konzerten um internationale Solidarität für ihr Volk. Ihre Lieder erzählten Geschichten vom Alltag im Exil, von den Widersprüchen zwischen Tradition und Moderne, von der Identität ihres Volkes und der Sehnsucht nach Heimat. Harmonisch verweben sich in ihrem Gesang sahrauische Traditionen mit Anklängen aus Blues und Jazz. Mit ihrer ausdrucksvollen Stimme und den unnachahmlichen Gebärden, die zur Erzähltradition in Afrika gehören, faszinierte sie die Weltmusikszene. (Mehr über Mariem Hassan gibt es im Beitrag von Katrin Wilke zu ihr in Folker 6/2010.)

Suleman Taufiq

CHRISTOF STÄHLIN

Theodore Bikel * Foto: Kirk McKoy

18.6.1942, Rothenburg ob der Tauber,
bis 9.9.2015, Hechingen

Er war Schriftsteller, Liedermacher und Kabarettist, aber vor allem war Christof Stählin ein Dichter, ein Poet. Ein leiser Künstler, der stets den Blick auf das vermeintlich Unscheinbare lenkte, um das Wesentliche sichtbar zu machen. Wenn andere über die Liebe, das Gute, das Böse, die Hoffnung, den Schmerz sangen und inhaltlich nicht selten das gesamte Universum umarmten, dann beschränkte Stählin sich auf kleine Dinge, sei es ein Blatt, ein bestimmter Augenblick oder ein Fenster, denn er wusste: Im Detail ist der Bauplan des Ganzen ohnehin enthalten. Das Selbstverständliche zog er in Zweifel (wobei er sich übrigens auf Karl Valentin berief), um das Unerforschte kenntlich zu machen. Neben seinen feinsinnigen, oft auch skurrilen eigenen Liedern und Schriften beschäftigte Stählin sich intensiv mit dem schlesischen Dichter Johann Christian Günther (1695-1723), indem er dessen Gedichte vertonte und gemeinsam mit dem US-amerikanischen Trompetenvirtuosen Edward H. Tarr und dem Larynx-Mitbegründer Martin Bärenz auf zwei LPs veröffentlichte. Als Christof Stählin 2010 den Ehrenpreis des Preises der deutschen Schallplattenkritik zugesprochen bekam, bezeichnete ihn die Jury als „präzisen Beobachter und Wortmetz, Tondichter und Sänger“ sowie als „heimlichen Doyen der Waldeck-Lieder,macher?“. „Manche deutschen Wellen sind vorübergeschwappt, während Stählins leise gezupften, unaufdringlichen und dennoch schlagkräftigen Lieder unüberhörbar weiterklingen.“ Auf Burg Waldeck war er mit seiner Vihuela, einer melancholisch klingenden arabischen Gitarre, seit den ersten Festivals in den Sechzigerjahren bis zuletzt ein überaus gern gesehener Gast. Er orientierte sich niemals an kurzlebigen musikalischen Moden, vielmehr entsprang sein Denken und Handeln als Künstler musikhistorischen und philosophischen Erkenntnissen. „Je schärfer die Klinge, desto sanfter der Schnitt“, war ein griffiger Aphorismus von ihm. Und über sich selbst sagte er einmal: „Ich lebe in häufiger geistiger Abwesenheit, zugunsten von Zeit und Raum übergreifenden Denkfiguren.“ Gerne und überaus erfolgreich gab er sein Wissen an talentierte junge Liedermacher und Kabarettisten weiter. 1989 gründete Stählin die spätere Mainzer Akademie für Poesie und Musik, SAGO, aus der Künstlerpersönlichkeiten wie Judith Holofernes, Dota Kehr, Bodo Wartke, Danny Dziuk, Annett Kuhr, Eckart von Hirschhausen und viele weitere außergewöhnliche „Sagonauten“, wie sie genannt wurden, hervorgingen. Kürzlich dankten seine Schüler es ihm, indem sie ein Album herausbrachten, auf der sie Stählins Lieder interpretierten. Für seine Verdienste wurde Stählin mit viel Anerkennung bedacht: 1976 erhielt er den deutschen Kleinkunstpreis, 2000 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, und 2013 wurde ihm der Ehrenpreis des Landes Rheinland-Pfalz zum deutschen Kleinkunstpreis verliehen. Der Sprach- und Liedkünstler Christof Stählin, der in einem alten Stadtturm in Hechingen mit Blick auf die Schwäbische Alb lebte, wird nicht nur in Liedermacherkreisen unvergessen bleiben.

Kai Engelke

Update vom
09.02.2023
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