FOLKER – Halbmast

HALBMAST

MARIANNE BRÖCKER

MARIANNE BRÖCKER

1.11.1936, Greifswald
bis 4.8.2013, Gedern/Wetterau

Marianne Bröcker war zuletzt emeritierte Professorin für Musikwissenschaft in Bamberg. Sie hat mit ihrer Doktorarbeit Die Drehleier. Ihr Bau und ihre Geschichte (1977) ein Standardwerk geschrieben für alle, die weltweit traditionelle Musik und die Tänze dazu lieben, in denen sie auch als Assistentin am musikwissenschaftlichen Seminar in Bonn und dann als Bamberger Professorin die Studenten unterwies. Sie hat ihre Wissenschaft immer von der Praxis her verstanden und wollte in die Tat umsetzen, was sich sonst an der Universität so gern im Theoretischen aufhält, hat Instrumentenbauer angeregt und bei Festivalplanungen geholfen, hat sich und ihre historisch orientierte Disziplin geöffnet für die Zukunft. In alles, was sinnlich und greifbar, hör- und tanzbar war, mündete ihre Ästhetik, mit der sie denen zur Seite stand, die wie sie zusammenbringen wollten, was eigentlich immer zusammengehört hat: Melodie, Klang, Rhythmus und körperliche Bewegung.

Marianne Bröcker war Rheinländerin und lachte gerne, aber ihr großer Humor war nicht laut und sie hat wenig von sich hergemacht. Ganz am Ende wollte sie nicht, dass jemand weiß, wann und wo sie beerdigt wurde. Aber alle, die sie kannten, berichten von großer Beliebtheit in ihrem Umfeld, so schwer es auch war, ihr persönlich nahezukommen. Gelang es doch, so hat ein Freund ihr Wesen als „warmherzig, nah und scharfsinnig“ beschrieben. Generöses Wohlwollen und gewahrte Distanz sind bei ihr jene seltene Verbindung eingegangen, die man einer Grande Dame zuschreibt, Noblesse ohne Kälte. Sie hat alleine gelebt und sich auf einem randständigen Gebiet der Wissenschaft große Anerkennung erworben. Die ätherischen Schwingungen nicht zu greifender freischwingender Seiten, wie sie von manchen der Instrumente ausgehen, die sie so geliebt hat, und die Atmosphäre, die damit verbunden ist, die bleiben uns immer von ihr, auch wenn sie sonst nicht mehr da ist.

Christof Stählin

WILLIE DUNN

WILLIE DUNN

14.8.1941, Montreal, Kanada
bis 5.8.2013, Ottawa, Kanada

Der halbindianische kanadische Singer/Songwriter Willie Dunn ist am 5. August, gut eine Woche vor seinem 72. Geburtstag, gestorben. Ron Bankley, Gitarrist auf diversen seiner Aufnahmen, mailte mir die traurige Nachricht. Willie stand kurz vor einer Darmkrebsoperation. Sie wollten sich in Kürze treffen. Mit dem ihm eigenen Humor und nach gut überstandener Krebsbehandlung (in Bayern) selbst wieder im Aufwind, merkte Bankeley lakonisch an: „Das wird nun noch ein Weilchen dauern …“ So können sie sein, Künstler zwischen den Fronten, in dem Fall zwischen Weiß und Rot – „Caucasian“ oder „Native American“ (in Kanada sagt man: „First Nations“) –, selbstkritisch, selbstironisch und – sie selbst! William Lawrence Dunns Mutter war eine Míkmaq vom Restigouche River in New Brunswick an der kanadischen Ostküste, der Vater ein Matrose aus Belfast, irisch-schottischer Abstammung, Hafenarbeiter in den Docks von Montreal. Das erklärt Willies ganz eigene Position zwischen den Kulturen: Lieder über Helden und Antihelden indianischer Geschichte (Crowfoot, Crazy Horse, Pontiac, Louis Riel) ebenso wie Rezitationen englischsprachiger Literatur (Shakespeare, Melville, T. S. Eliot) und seine fulminante Vertonung von Samuel Johnsons „The Vanity of Human Wishes“ (1749). Letztere ist auch auf der CD-Kompilation Son Of The Sun enthalten, die 2004 bei Trikont erschienen ist, dem deutschen Verlag, der sich schon in den Achtzigerjahren mit drei LPs von Willie Dunn um sein Werk verdient gemacht hat. Eine sonore, anheimelnde Stimme – „… like the wind amid the trees, or the waves of Waikiki“ (nach dem darin leider nicht veröffentlichten Song „Big Red Sun“). Willie Dunn war ein Pionier der neuen, selbstbewussten Szene mit Ersteinwohnerstatus. Und ein Mensch, der singend, erzählend, Gitarre pickend, immer berührt hat.

Walter Liederschmitt „Woltähr“

ALMUT KLOTZ

ALMUT KLOTZ

1962, Baden
bis 16.8.2013, Berlin

Die Lassie-Singers helfen dir hieß ihr erstes Album. Und so war es auch. Die fulminante „Pärchenlüge“ war dabei und „Mein Freund hat mit mir Schluß gemacht“. Hörte man die schlauen, wahren, selbstbewussten Songs, ging es einem gleich viel besser. Das war 1991. Almut Klotz kam 1985 aus dem Schwarzwald nach Berlin, wie auch Christiane Rösinger, mit der sie die Lassie Singers gründete, anfangs mit Funny van Dannen. Klotz und Rösinger hielten die wechselnd besetzte Band bis 1998 am Leben und veröffentlichten sechs Alben. Ihren badischen Zungenschlag hörte man immer durch, dieses von ruhiger, klarer Stimme lang gezogene „Uuuu“. Hochschwanger stand sie 1995 auf der Bühne –mit F. J. Krüger von Ideal. Das Lied „Du lässt dich gehen“ brachte damals sogar einen TV-Auftritt, sonst blieb die Popularität im Indie-Bereich. Da jedoch bewegte Klotz viel: Gründete mit Künstlerfreunden den Popchor Berlin, betrieb zusammen mit Rösinger das Plattenlabel Flittchen und eine Bar unter demselben Namen, kreierte die Band Maxi unter Menschen, mischte mit bei der Gruppe Parole Trixi, lieferte Kolumnen für Tageszeitungen. Mit dem Musiker Reverend Christian Dabeler schrieb sie zwei Bücher. Dabeler war auch privat ihr Partner, sie führten ein Leben zwischen Hamburg und Berlin. Ende Mai heirateten sie, kurz vor der für Juli geplanten Veröffentlichung ihres gemeinsamen zweiten Albums: Für Lass die Lady rein (Staatsakt) waren Tour und Releaseparty bereits angesetzt, doch es blieb bei einer kleinen öffentlichen Kostprobe in einem Hamburger Plattenladen. Almut Klotz erlag eine Woche vor dem offiziellen Erscheinungstermin einem Krebsleiden.

Imke Staats

FRITZ RAU

FRITZ RAU * FOTO: INGO NORDHOFEN

9.3.1930, Pforzheim
bis 19.8.2013, Kronberg/Taunus

Er galt als einer der bedeutendsten Konzert- und Tourneeveranstalter Europas, sich selbst bezeichnete er untertreibend als „Kofferträger der Stars“. In einem Interview erwähnte er seine frühe Vergangenheit als „strammer Hitlerjunge“, der sich durch „Jazz, Swing und Blues selbst entnazifiziert“ hatte. „Wenn du die Musik von Louis Armstrong und Ella Fitzgerald liebst und begeistert bist vom schwarzen Blues, dann kannst du kein Rassist mehr sein“, sagte er schmunzelnd. Schon während seines Jurastudiums in Heidelberg betätigte er sich als Konzertveranstalter, zunächst vornehmlich im Bereich des Jazz. Nachdem er 1963 gemeinsam mit dem Jazzpromoter Horst Lippmann die berühmte Konzertagentur Lippmann + Rau gegründet hatte, verlagerte sich sein Interesse bald hin zum Blues. Er lud das legendäre American Folk Blues Festival nach Deutschland ein und engagierte so illustre Musiker wie Howlin’ Wolf und Willie Dixon, aber auch Jazzgrößen wie Miles Davis und Dave Brubeck. Auch die internationalen Heroen des Rock und Pop hatten es ihm angetan. Die größten Stars der damaligen Zeit verpflichtete er für Konzerte in Deutschland: Bob Dylan, die Rolling Stones, Eric Clapton, Jimi Hendrix, Madonna, Frank Zappa und Freddie Mercury. In Deutschland förderte er über Jahre Musiker wie Peter Maffay und Udo Lindenberg. Mit vielen Künstlern verband ihn eine enge Freundschaft. Beim Bluesfestival in Lahnstein 2009 war es der da schon fast Achtzigjährige, der sich als Erster erhob, um dem erst neunzehn Jahre jungen Musiker Oli Brown stehend seinen Respekt zu zollen. Rau hatte sich bis zuletzt eine junge Seele bewahrt, was Seltenheitswert hat im Haifischbecken des Musikgeschäfts. „Der Rockmusik gehört mein Respekt“, sagte Rau einmal, „dem Jazz gehört mein Herz, und dem Blues gehört meine Seele.“

Kai Engelke

LITTLE WILLIE LITTLEFIELD

LITTLE WILLIE LITTLEFIELD * FOTO: INGO NORDHOFEN

16.9.1931, El Campo, Texas
bis 23.6.2013, Voorthuizen, Niederlande

Bereits im Teenageralter sorgte er für Furore am Piano, er galt als Wunderkind. Aus dieser Zeit stammt sein Beiname „Little Willie“. Seine ersten Plattenaufnahmen absolvierte er im Alter von siebzehn Jahren. Schon früh hatte er sich dem Rhythm ’n’ Blues verschrieben, später wurde er einer der weltbesten Boogie-Woogie-Pianisten. Zwar war er der Erste, der die Leiber/Stoller-Komposition „Kansas City“ (damals unter dem Titel „K. C. Loving“) aufnahm, die von unterschiedlichen Künstlern nachgespielt und millionenfach verkauft wurde, aber Littlefields Version kam in den Charts nicht vor. Mehrfach wechselte er die Plattenlabel, doch ein wirklicher Durchbruch als „Recording Artist“ war dem „King of Boogie Woogie“ nicht beschieden. Ein schwerer Autounfall bewirkte zudem eine längere künstlerische Zwangspause. 1991 wurde er nach Australien eingeladen, um den Soundtrack zum Film The Great Pretender zu schreiben und sich darin selbst darzustellen. Aufsehen erregte er weniger mit seinen eigenen Hits wie „Ruby-Ruby“ als vielmehr durch eigenwillige Interpretationen von Edelschnulzen wie „As Time Goes By“ aus dem Film Casablanca, „Spanish Eyes“ von Al Martino oder auch Satchmos „What A Wonderful World“, die er mit rauer Stimme und augenzwinkernd vortrug. Daneben brillierte er mit Hochgeschwindigkeits-Boogie-Woogie und bewundernswerter Fingerakrobatik am Piano. Seine große Stärke waren seine furiosen Liveauftritte voller Intensität und Spielfreude. Wenn er mit dem rechten Bein unermüdlich den Rhythmus stampfte, dadurch die Bühnenbretter in heftige Schwingungen versetzte, gleichzeitig mit flinken Fingern rasant-perlende Läufe spielte und mit heiserer Stimme den Blues sang, dann schien er ein rundum glücklicher Mensch zu sein. Es gibt kaum ein Bild von ihm, auf dem er nicht sein fröhliches Lachen zeigt. Als ich ihm vor Jahren bei einem Hauskonzert begegnete, schrieb er neben sein Foto nur ein einziges Wort: „Love“. So war er.

Kai Engelke

JAN GACA

JAN GACA

1933, Przystalowice Male, Polen
bis 23.8.2013

Durch die Biografie des im Alter von achtzig Jahren verstorbenen polnischen Geigers Jan Gaca ziehen sich die Spannungsfelder, in denen sich auch die ländliche Musik in Polen bewegte: Er überstand die Akkordeonwelle, die die Geige und viele musikalische Feinheiten hinwegfegte. Als dann auch Verstärker, Gitarre und Keyboards in den Siebzigerjahren aufkamen, gerieten die großen ländlichen Geigentraditionen fast in Vergessenheit. Jan Gaca spielte nicht mehr auf Hochzeiten, sondern verdingte sich als Kirchenhelfer und durfte nicht mehr Geige spielen. Doch die kirchliche Pietät war geradezu die Antipode zu dem ausgelassenen dörflichen Frohsinn von „Sex, Wein und Mazurka“. Geiger waren eher am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt. Reiche Eltern erlaubten ihren Söhnen [!] kaum das Geigenspiel, arme Familien erhofften sich ein Zubrot im Überlebenskampf. So war der Nährboden eines meisterlichen Geigenspiels häufig eine furchtbare Armut. Dann kamen in den Achtzigerjahren große Festivals auf, wo Jan Gacas freches, erfrischend perkussives Geigenspiel Begeisterung auslöste und ihm viele Preise einbrachte. In den letzten Jahren erlebte er ein Comeback und späte Anerkennung. Auf dem diesjährigen Folk-Baltica-Festival wurde der alte Mann mit stehenden Ovationen gefeiert. Im Mai leitete er auf dem Warschauer Mazurka-Festival einige Workshops, trat mit seinem Ensemble auf, und eine dreißigköpfige Band spielte ihm zu Ehren, schließlich waren es seine Schüler, die ihm zu seinem achtzigsten Geburtstag ein Konzert gaben. Nur drei Monate später starb Jan Gaca – auf der Bühne.
Sein Tod machte diesen Auftritt seiner Schüler zu einem denkwürdigen Ereignis, denn dieses Ensemble war sein klingendes Vermächtnis. Jan Gaca war eine Klammer zwischen den Generationen, die jedes Folkrevival fundiert. Was wäre der irische Folk ohne die Furey-Familie oder Micho Russel? Mittlerweile gibt es zwei Generationen nach ihm, und die polnischen Musiktraditionen sind heute eindrucksvoll präsent.

Birger Gesthuisen

Update vom
09.02.2023
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