FOLKER – Johnny Cash

Der wandelnde Widerspruch

Johnny Cash

Anmerkungen zum zehnten Todestag




Vor zehn Jahren, am 12. September 2003, verstarb Johnny Cash, neben Louis Armstrong, Robert Johnson, Frank Sinatra und Woody Guthrie eine der Ikonen amerikanischer Musik. Um Johnny Cash zu verstehen, müsste man Amerika verstehen. Doch welches Amerika ist gemeint? Das „alte, unheimliche Amerika“, von dem Greil Marcus schreibt? Das Amerika des Kitsches, der Fettleibigen, Bibelgläubigen, ewig optimistisch Grinsenden? Das Amerika der Kriegstreiber und Waffennarren, der Banker? Das der Obdachlosen, Streikenden, Mörder, Rassisten und Arbeiter, Bauern und Arbeitslosen, der Drogensüchtigen und Börsenspekulanten? Und in welchem Amerika lebte Johnny Cash eigentlich?

TEXT: HARALD JUSTIN


Der vielen Fragen langer Sinn: Wie hätten wir Cash wohl in Erinnerung behalten, wenn sich 1993 nicht Rick Rubin seiner angenommen hätte? Der sinister aussehende Independent-Produzent mit dem Rauschebart und der gewissen „Street Credibility“ beim jungen Rockpublikum, produzierte ihm mit American Recordings passgenau ein Album auf den von diversen Krankheiten geschundenen Leib, das dem knorrigen Einzelgänger einen Grammy und besonders viel Zuspruch vom jungen Rockklientel, aber auch von Folk- und Countryfans bescherte. Rubin verzichtete auf Instrumentalkitsch und ließ den Alten allein mit den Songs und seiner Gitarre machen, was er wollte: einfache, gute Songs mit sonorer Stimme und minimaler Gitarrenbegleitung. Cash pur. Und weil es so gut und erfolgreich war, folgten dem einen Album noch fünf weitere, dann allerdings mit Gastauftritten von Stars und rockender Band.

Genau so wollte das junge Publikum ihn hören: als schuldbewussten, um Erlösung bittenden Sünder, der von Mord an Frauen singt, von den Schmerzen des Lebens und einem Leben nach dem Tod, vom See der gebrochenen Herzen, vom Fremdsein und von der großen, uns alle umgebenden Dunkelheit. Das war der Cash, mit dem sich zumindest jeder männliche jugendliche Rocker identifizieren konnte. Das war der Cash, den man sich wünschte, weil genau diesen Cash man zu kennen glaubte.

JOHNNY CASH 1959
Denn überlebensgroß wirkte ja noch der Ruf nach, den er sich seit seinen ersten Aufnahmen 1955 in den legendären Sun-Studios erspielt hatte, wo er Labelpartner von Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Howlin’ Wolf und Labelscout und „bad boy of rock ’n’ roll“ Ike Turner war. Und hatte dieser „son of Sun“ nicht auch gegen das Country-Establishment in Nashville angespielt, das die Countrymusik den armen Leuten weggenommen und ihnen dafür lächerlich aussehende Männer und Frauen in bunten Glitzerkostümen mit belanglosen Liedern gegeben hatte? Hatte er sich nicht wagemutig auf das Leid der Indianer eingelassen, ihnen gar mit Bitter Tears – Ballads Of The American Indian 1964 ein ganzes Album gewidmet, er, der selbst sagte, mütterlicherseits von Cherokee-Indianern abzustammen? Hatte er sich etwa nicht mit seinen beiden Knastalben At Folsom Prison (1968) und At San Quentin (1969) auf die Seite der Entrechteten und Gefangenen gestellt und ihnen unter lauten Beifallgejohle vorgesungen, dass er einen Mann in Reno erschossen hatte, nur um ihm beim Sterben zu zusehen? Hatte er nicht selbst im Knast gesessen? Und hatte Cash sich je an Regeln gehalten?

Den Wärtern in San Quentin hatte er wutentbrannt den Mittelfinger gezeigt, sich mit Amphetaminen beinahe ums Leben gebracht, hatte Hotelzimmer demoliert und um sich geschossen, ein Naturschutzgebiet mitsamt einer seltenen Kondorpopulation im Rausch abgefackelt und Autos zu Bruch gefahren. Klar, der Mann war wild und böse, und wer je an Postkartensprüche wie „Lebe wild und gefährlich!“ glaubte, dem musste Johnny Cash einfach gefallen. Zudem war er ja der „man in black“, und das heißt nicht, dass er dem Team um Will Smith und Tommy Lee Jones bei der Jagd auf Außerirdische half, nein, Cash trug schwarzes Denim und Leder, um so ein Zeichen gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu setzen. Sagte er jedenfalls, manchmal … „Ich trage schwarz für die Armen und Unterdrückten, die im trostlosen, hungrigen Teil der Stadt leben“, begründete er in seiner Autobiografie von 1997 (deutsche Übersetzung 1999) seine Farbwahl. „Ich trage es für den Gefangenen, der für sein Verbrechen längst gebüßt hat, der nur dort sitzt, weil er ein Opfer der Zeit ist. Ich trage es für die kranken und einsamen Alten und für die Leichtsinnigen, die ein Fehltritt zu Fall brachte.“ Dies deckte sich nahezu wörtlich mit Zeilen aus seinem entsprechenden Song „Man In Black“ von 1971, in dem es weiter heißt: „Ich versuche auf meinem Rücken ein bisschen Dunkelheit davonzutragen. / Bis es etwas heller um uns wird, bleibe ich der Mann in Schwarz.“ Vor einigen Jahren wurde der Dissidenz-Cowboy zudem wegen seines markant-männlichen Aussehens, seines Rebellentums und seines doch so zerbrechlich-sensiblen Wesens als Ikone der amerikanischen Lederlesben „geoutet“ – eine Ehre, auf die der „deutsche Johnny Cash“, Gunter Gabriel wahrscheinlich noch lange warten muss.

JOHNNY CASH
Ja, so ist das mit Ikonen. Sie sind nun mal größer als der Durchschnittsmensch. Sie sind, wie angedeutet, überlebensgroß. So groß, dass nach einem Spielfilm mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle, mindestens einem halben Dutzend deutschsprachiger Biografien – von den englischsprachigen ganz zu schweigen –, zwei Autobiografien, einem Comic und einer Graphic Novel, mehreren DVDs und rund einhundertfünfzig Schallplatten, rührigen Fanklubs und zahlreichen Respektsbekundungen in Musikmagazinen aller Art eigentlich kein Aspekt seines bunten Lebens unausgeleuchtet gelassen sein dürfte. Trotzdem gibt es anscheinend einige blinde Flecken in der Rezeption dieses mythisch gewordenen Musikers.

In The Beast in Me, einer der besseren, weil politisch argumentierenden Cash-Biografien, schreibt Franz Dobler, dass „Country die besten Songs [hat], alle Inhalte, die wir uns wünschen, alle Gegensätze, mit denen uns das Leben plagt, die Liebe, das Sterben, das Verlieren, das Glück, die Gedanken vor dem Sprung aus dem achten Stock und die Erkenntnis, dass du das besser tust, bevor du auch nur einem einzigen Politiker dein Vertrauen schenkst. Das alles kann man hier, wenn auch nicht immer schnell entdecken – und auch viel reaktionären Scheiß, wie im richtigen Leben.“ Natürlich, aber all das findet sich genauso im Rock, im Blues, im Jazz, im Folk, in den Folkloremusiken in aller Welt (nur eben nicht im deutschen Schlager). Was uns wieder zu der Ausgangsfrage zurückführt, wie wir Cash wohl ohne Rubins Erneuerungskur in Erinnerung behalten hätten. Album

Möglicherweise als einen Musiker, der seine besten Tonträger in den Endfünfziger- und Sechzigerjahren aufnahm, sagenhaft erfolgreich war und dann, von seltenen Ausnahmen abgesehen, zwischen 1968 und 1993 zunehmend schlechtere Platten einspielte? Ungefähr einhundertfünfzig Alben gibt es von ihm – Kompilationen mitgerechnet –, doch ab 1968 gingen die Verkäufe stetig zurück.
» Johnny Cash ist sein eigener wandelnder Widerspruch. «
Kris Kristofferson
Sein Label Columbia entließ ihn 1986, wegen der schlechten Verkaufszahlen. Sein neues Label Mercury soll sein Album The Mystery Of Life (1991) nur noch in einer Auflage von fünfhundert Stück aufgelegt haben, und Cash war bereit, aufzugeben und sich zurückzuziehen. Wäre er 1991 gestorben, in dem Jahr, in dem sein Deal mit Mercury auslief, ein Jahr, bevor er 1992 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde, hätte man sich seiner als eines Musikers erinnert, dessen beste Zeit bereits seit über zwanzig Jahren vorbei war. Möglich wäre auch, dass man dann die Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Menschen und Musikers gerichtet hätte.

JOHNNY CASH 1985
Warum noch einmal war er der „man in black“? Um ein Zeichen gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu setzen? Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass seine Wahl mit dem anstrengenden Tourleben zusammenhing, weil Flecken und sonstige Abnutzungserscheinungen auf schwarzer Farbe weniger auffielen als auf den bunten Glitzerfummeln der sonstigen Nashville-Country-Cowboys, von denen er sich musikalisch und optisch abzugrenzen versuchte. So erklärt es jedenfalls Musikerkollege W. S. Holland Cashs Kleiderwahl: „Wenn du auf Tour bist, ist es von Vorteil, wenn du dein Gewand so lang wie möglich tragen kannst. Und auf Schwarz sieht man den Dreck nicht so schnell.“ Übrigens, in seiner sehr religiös gehaltenen „schonungslosen Selbstbiographie“ (Untertitel) von 1975 schreibt Cash, dass er schwarz trägt, weil er gläubig ist, denn „Schwarz passt am besten zur Kirche“. Möglicherweise hatte Kris Kristofferson doch Recht, als er sagte: „Johnny Cash ist sein eigener wandelnder Widerspruch.“

» Schwarz passt am besten zur Kirche. «
Johnny Cash, 1975
Zu den vielen Ungereimtheiten um seine Person gehörte lange Zeit, dass Cashs Familie so arm war, dass es noch nicht einmal zu einem richtige Namen gereicht hätte. So sei er immer nur „J. R.“ gerufen worden. Erst beim Militär, das keine reinen Initialen als Name gelten ließ, habe er sich eher aus Verlegenheit „John“ genannt. Für das „R.“ sei ihm nichts eingefallen. Schade, dass er seinen Vater nicht gefragt hatte. Denn der hieß „Ray“, und nach guter alter Südstaatensitte werden die Namen der Väter gerne einmal mit in den Vornamen aufgenommen.

Und natürlich war der Star Johnny Cash niemals ein Knastbruder, wie mythenträchtig und Solidarität einheimsend zur Zeit seiner Gefängnisalben behauptet wurde. Mehrmals musste er dementieren, je in Haft gewesen zu sein, er wurde lediglich siebenmal verhaftet. Mütterlicherseits stammte er auch nicht von Cherokee-Indianern ab, sondern gab sich werbewirksam nur zur passenden Zeit der Veröffentlichung seines Albums Bitter Tears als Halbblutprinz aus.

Johnny Cash in San Quentin - das berühmte Foto
Gleich merkwürdig ist eigentlich nur noch die Geschichte mit der imageträchtigen Anzeige, die Rick Rubin nach dem Erfolg der American Recordings schalten ließ und auf der ein wutschäumender Cash abgebildet ist, der dem Betrachter mit dem Mittelfinger zu drohen scheint. Gemeint war die Anzeige als ein trotzig-höhnisches „fuck you“ in Richtung Columbia und Nashville. Nicht schlecht, aber das Foto entstand bekanntlich 1969 in San Quentin. Dabei zeigte Cash weder, wie mitunter behauptet wird, einem Wärter den Stinkefinger, sondern, wie er in den Liner Notes zur CD schreibt, dem Kamerateam, das den Auftritt filmen sollte (man möchte nicht wissen, wie sich der Kameramann angesichts des sich cholerisch gebärdenden Musikers gefühlt haben mag). Aber immerhin, das Bild war gemacht und gefiel allen, die im prüden Amerika meinen, mit dem Gebrauch sogenannter „schmutziger“ Wörter beginne der Untergang der „zivilisierten“ Welt. Mit diesen kleinen Unstimmigkeiten nähern wir uns dem Kern der Mythenbildung und des Problemfalls Cash.

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AUSWAHLDISKOGRAFIE:
Johnny Cash With His Hot And Blue Guitar (Sun, 1957)
Johnny Cash Sings The Songs That Made Him Famous (Sun, 1958)
Johnny Cash Sings Hank Williams (Sun, 1960)
Ride This Train (Columbia, 1960)
Now, There Was A Song (Columbia, 1960)
I Walk The Line (Columbia, 1964)
Bitter Tears – Ballads Of The American Indian (Columbia, 1964)
At Folsom Prisom (Columbia, 1968)
At San Quentin (Columbia, 1969)
American Recordings (American, 1994)
The Man In Black 1963-1969 Plus (6-CD-Box; Bear Family, 1996)
American III – Solitary Man (American, 2000)
The Complete Columbia Album Collection (63 CDs; Columbia, 2012)

AUSWAHLBIBLIOGRAFIE:
Johnny Cash (mit Patrick Carr), Cash – Die Autobiographie (Palmyra, 1999) Franz Dobler, The Beast in Me – Johnny Cash und die seltsame und schöne Welt der Countrymusik (Heyne, 2004) Steve Turner, Ein Mann namens Cash (Johannis-Verlag, 2005; SCM Hänssler, 2011)

„Cash“ ist immer gut, und niemand möchte Cash den persönlichen Mut oder die Aufrichtigkeit absprechen. Andererseits kann man an seinem Beispiel studieren, wie lernfähig der Kapitalismus ist. Der so verteufelte Rock ’n’ Roll mitsamt seinem räudigen Ableger Rockabilly, dem sich Cash mit seinen Sun-Aufnahmen verpflichtet fühlte, war gar nicht so böse. Tatsächlich war er ein gutes Geschäft, und es bedeutete für Cash kein Wagnis, diese Musik zu spielen. Schon die dritte Single „I Walk The Line“ verkaufte sich mehrere Millionen Mal und machte eine wohldotierte Musikerkarriere möglich. Die Rockabilly-Country-Schiene war der Weg zum kommerziellen Erfolg, er führte nicht in die Verdammnis, sondern zu einem gut gefüllten Konto. Als er Sun 1958 verließ, konnte er folglich bei Columbia Records einen lukrativen Vertrag abschließen.

Wurde in den alten Zeiten Unbotsames nicht auf Schallplatten gepresst, so hatten die Firmen mittlerweile dazugelernt. Denn selbst für das Abartigste ließen sich Käufer finden, an denen sich verdienen ließ. Und bekanntlich waren die Sechzigerjahre das Jahrzehnt der „social awareness“. Protestsänger an allen Ecken, soziale Unruhen, die Bürgerrechtsbewegung, Protestmärsche – und mittendrin Johnny Cash, nicht allein, sondern von vielen Freunden wie Bob Dylan umgeben. Und unterstützt von Columbia Records. Als Columbia ihn 1986 entlässt, wird es heißen, dass Cash es war, der Columbia erst zu dem großen Majorlabel gemacht habe, als das es damals galt. Johnny Cash war Columbia, zumindest in den Sechzigern.

Tatsächlich waren seine so werbeträchtig kontrovers diskutierten Alben ungeheure Verkaufsschlager, insbesondere die beiden Gefängnisalben. Natürlich ist es gut, wenn Musiker, die gesellschaftliche Probleme besingen, nicht mehr länger bestraft werden, sondern mit ihrem Protest zu Dollarmillionären werden. Darüber sollte man sich freuen, auch dass Cash diesen Weg ging. Aber man sollte nicht so tun, als hätte Cash mit seinen Veröffentlichungen einen heldenhaften Kampf gegen das Establishment ausgefochten oder als wäre es besonders wagemutig, Millionen von Schallplatten zu verkaufen, Millionär zu werden, mit „Ring Of Fire“ 1963 auf Platz eins der Billboard-Charts zu stehen, 1965 zwei Grammy-Nominierungen einzuheimsen und 1969 zur Aufmunterung der US-Soldaten in Vietnam aufzuspielen. In den Sechzigerjahren war er der unangefochtene König des Country, und das nicht trotz, sondern wegen seiner Stellungnahme für die Armen und Entrechteten. Es war diese Musik, die ihn zu einem der reichsten Musiker Amerikas machte.

» Ich versuche auf meinem Rücken ein bisschen Dunkelheit davonzutragen. / Bis es etwas heller um uns wird, bleibe ich der Mann in Schwarz. «
Johnny Cash, 1999
1969 war er auf dem Zenit angekommen, nach Angaben von Columbia verkaufte er sechseinhalb Millionen Alben, „und das war mehr als die Beatles und vermutlich mehr als je ein Künstler in einem Jahr verkauft hatte“ (Franz Dobler). Dobler meint zudem, dass dieser Erfolg „nicht mit irgendwelchem Blödsinn erkauft war, sondern mit großartigen, harten, provokativen Platten“, dem man hinzufügen möchte, dass sich seine Veröffentlichungen ja genau deshalb so gut verkauften, weil er mit ihnen Millionen Menschen aus der Seele sprach. Seine Alben machten ihn beliebt, und wo vermeintliche Provokation in Liebe umschlägt und sich in hohen Verkaufszahlen ausdrückt, kann es mit der Provokation nicht weit her sein. Als Cash nicht nur Gast in sämtlichen TV-Shows war, sondern als erster Countrysänger gar selbst eine wöchentliche TV-Show erhielt, bekam er sie nicht, weil empörte Zuschauer abschalteten, sondern weil er ein Publikumsmagnet war und für gute Zuschauerquoten und zufriedene Werbekunden sorgte. Mit Missständen ließ sich Cash machen, und es war nur konsequent, wenn die Cash-Truppe nach dem kommerziell so erfolgreichen Gefängnisaufenthalt im Folsom Prison 1968 gleich ein Jahr später nach San Quentin fuhr. Ebenso konsequent war es, dass nach dem Abebben des Interesses an der sozialen Frage in den Siebzigern weitere musikalische Stippvisiten hinter Gitter unterblieben. Wer Platten verkaufen wollte, musste neue Rezepturen entwickeln und sich nicht mit nachhaltiger Resozialisierungsarbeit beschäftigen, die seine Gefängnisauftritte sowieso nicht waren.

JOHNNY CASH 1985
In den Siebziger- und Achtzigerjahren, als seine Alben sich mehr und mehr ähnelten und folglich die Verkäufe zurückgingen, wurden Meldungen anderer Art lanciert: Cash ließ sich als Wohltäter preisen, der Bedürftigen Dialysegeräte oder schlicht Geld schenkte. Mehr und mehr verfiel er der Frömmelei, vertiefte seine Freundschaft mit dem erzreaktionären Prediger Billy Graham, ließ sich gar selbst zum Priester ordinieren, pflegte den Umgang mit dem politischen und religiösen Establishment, las das komplette Neue Testament ein, wetterte gegen Sex vor der Ehe und spielte neben überproduzierten Countryplatten ein Gospelalbum nach dem anderen ein. Er sei unser „aller Lieblingspfaffe“, hieß es dereinst in Spex.

Nein, man brauchte Cash nicht auf dem Weg der Bibelblödheit zu folgen, um zu verstehen, dass seine Frömmelei zwar seinem persönlichen Wunsch nach spiritueller Erlösung entsprach, aber eben nicht der Weg des aufgeklärten Europäers und wissenden Amerikaners war. Dissidenz ja, Bibelblödheit eben nicht. Biograf Steve Turner fasste die Lage so zusammen: „Manche Leute, die den bösen Jungen Cash in seinen wilden Jahren gekannt hatten, fanden die neue religiöse, familienfreundliche Version schwer zu ertragen; der respektlose, gefährliche und unberechenbare Mann war ihnen lieber als der vernünftige, gemäßigte. [...] Waylon Jennings machte gegenüber dem Autor Peter Guralnick die Bemerkung, Cash habe sich ‚an die Religion verkauft‘.
» Er hat eine Menge guter Songs geschrieben, bevor er dort im Weißen Haus in die falsche Gesellschaft geriet. «
Phil Ochs
Der politisch motivierte Folk-Sänger Phil Ochs, der Cash in seiner Zeit in Greenwich Village kennen gelernt hatte, sagte: ‚Er hat eine Menge guter Songs geschrieben, bevor er dort im Weißen Haus in die falsche Gesellschaft geriet.‘“ Der Verkäufer hatte sich selbst verkauft – wer würde da nicht gläubig werden wollen?

Es heißt, man müsse einen Menschen so nehmen, wie er ist. Mit den guten und den schlechten Seiten. Keine Ahnung, ob das stimmt. Tatsache ist, dass sich im Fall Cash jeder dort bedient, wo er will. Die einen mochten in ihm den Rebellen sehen, ja, und selbst diejenigen, die ihn als Gospelsänger und Christen bevorzugten, hofften, dass seine Liebe zu Jesus ihn von allen Dämonen kurieren würde. Cash nicht zu mögen, das sei irgendwie unamerikanisch, schlussfolgerte der All Music Guide 1994, der Trick sei allerdings, „to get behind the myth and all the hype and just listen to some of the music.“ Stimmt, hinter dem Horizont geht die Sonne auf.


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Update vom
09.02.2023
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