Juni 1983. Irgendwo in den südlichen Anden an der Grenze von Argentinien zu Chile. Auf der Straße liegt trübweißer, schmutziger Schnee, aber noch ist sie passierbar. Bienvenido a Chile Willkommen in Chile, empfängt der Militärpolizist den jungen Europäer. Dessen Gepäck scheint die Zöllner nicht zu interessieren. Ganz im Gegensatz zu dem der Chilenen, die ihre Verwandten in ihrer Heimat besuchen, obschon der bärtige Europäer doch eher denjenigen gleicht, die die Militärs zehn Jahre früher ins Exil trieben oder umbrachten.
Am späten Morgen des 11. September 1973 bombardierten die chilenischen Streitkräfte unter Führung von General Augusto Pinochet die Moneda, den Präsidentenpalast Chiles im Herzen Santiagos. Ein paar Stunden zuvor hatte sich Salvador Allende, der demokratisch gewählte Präsident des Linksbündnisses Unidad Popular, noch einmal an sein Volk gewandt. Mit Sicherheit ist dies die letzte Gelegenheit, mich an Sie zu wenden. (...) Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben! In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. Als die Armee den Palast erstürmte, fand sie den toten Präsidenten, der zuvor Selbstmord begangen hatte.
Am nächsten Morgen wurde Víctor Jara zusammen mit mehreren Dozenten und Tausenden von Studenten verhaftet und ins Nationalstadion abgeführt, wo sie die Folter oder der Tod erwartete. Pinochets Schergen fügten Jara Rippenbrüche zu und zertrümmerten seine Hände. Jetzt kannst du für uns Gitarre spielen, riefen sie dem Sänger zu, der mit gebrochenen Händen auf dem Boden lag. Er stand auf sang und die ersten Strophen von Sergio Ortegas Lied Venceremos (Wir werden gewinnen). Einige Tage später fanden Straßenkehrer einen leblosen Körper mit schweren Folterverletzungen und vierundvierzig Kugeln im Körper in einem Außenbezirk von Santiago. Von dort brachten sie ihn in die Leichenhalle. Die Arbeiter erkannten in dem Toten Víctor Jara und verständigten seine Frau. Joan Jara, seine Witwe, dazu: Ich hatte Glück, wenn man das Glück nennen kann. Ich fand meinen Mann und konnte ihn beerdigen. Anders als viele andere Chilenen, die vergebens jahre-, ja jahrzehntelang ihre Kinder, Männer und Eltern suchten, um sie beisetzen zu können. Víctor Jara war einer von vielen, die von den Schergen Pinochets liquidiert wurden. Um Chile von Kommunisten zu befreien, zogen Todesschwadronen im Land herum. Sie zertrümmerten die Glieder von vermeintlichen Staatsfeinden und rissen ihnen die Augen aus, bevor sie sie hinrichteten. Wer solche Gräueltaten verübte, hätte eigentlich mit weltweiten Protesten rechnen müssen. Nicht so die neuen chilenischen Machthaber, denn der Putsch wurde von langer Hand mit Unterstützung des CIA vorbereitet. Wirtschaftskonservative Kreise waren weltweit voll des Lobs für die politische Wende. Der US-Sicherheitsberater Henry Kissinger rechtfertigte den Putsch folgendermaßen: Ich sehe nicht ein, warum wir nichts tun und zusehen sollten, wie ein Land durch die Unverantwortlichkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird. Die Angelegenheiten sind viel zu wichtig, als dass sie den chilenischen Wählern zur
Juni 1983. Santiago de Chile. Der Himmel ist grau. Es ist kalt. Leute hasten stumm durch die Straßen. Schwer bewaffnete Polizisten warten an der Straßenecke. Die Stadt scheint ihr Lachen versteckt zu haben. In der kleinen Buchhandlung stehen Werke der Weltliteratur im Schaufenster. Das musst du lesen, sagt der Buchhändler zum jungen Europäer. Das ist die wahre Geschichte über den Militärputsch. Der Buchhändler, ein Bohemien mit Bart und Brille, sieht vertrauenswürdig aus. Dem Europäer wird beim Lesen der ersten Seite fast schlecht. Das Buch entpuppt sich als üble Propaganda der Militärjunta. Auf der anderen Seite verhallte der Protest der Linken und pazifistischer Kreise. Víctor Jaras bestialische Ermordung machte ihn zur Legende. Sein letztes Gedicht Somos Cinco Mil (Fünftausend sind wir) schrieb er im Stadion kurz vor seiner Hinrichtung. Hunderte haben die Lieder des Chilenen in ihr Repertoire aufgenommen, angefangen von Joan Baez und Judy Collins über Silvio Rodriguez bis zu Inti-Illimani. Unzählige Liedermacher auf der ganzen Welt haben sein Leben und seinen Tod zum Thema ihrer Lieder gemacht. Das Bekannteste ist wohl Víctor Jara, ein von Arlo Guthrie vertontes Gedicht von Adrien Mitchell. Vor allem in Lateinamerika schrieben viele namhafte Interpretinnen und Interpreten der Nueva Canción Hommagen an Víctor Jara, unter ihnen Atahualpa Yupanqui, Mercedes Sosa, Daniel Viglietti, León Gieco bis hin zu Los Fabulosos Cadillacs oder Sui Generis, zwei Aushängeschildern des argentinischen Rock Nacional. Und wenn der Argentinier Andrés Calamaro, Lateinamerikas wohl produktivster Rockmusiker, in Santiago de Chile sechsunddreißig Jahre nach dessen Tod sein Konzert dem Märtyrer Víctor Jara widmet, sagt das nicht nur viel über den chilenischen Sänger, sondern auch über das politische Bewusstsein lateinamerikanischer Musiker aus.
Yo no canto por cantar ni por tener buena voz, canto porque la guitarra tiene sentido y razón Ich singe nicht, weil ich singen möchte oder weil ich eine gute Stimme habe, ich singe, weil die Gitarre Gefühl und Verstand hat Die Gitarre ist nicht nur das Werkzeug des Cantautors, sie ist es, die ihm die Stimme verleiht. Sie hat ein Herz aus Erde, die Flügel einer Taube, sie segnet Ruhm und Leid; aus ihr kommt mein Gesang, wie Violeta (Violetta Parra; Anm. d. Verf.) sagen würde, schreibt Víctor Jara liebevoll über sein Instrument. Juni 1983. Insel Chiloé. Eine der vielen tiefschwarzen Regennächte. Die letzten paar Gäste des kleinen Restaurants sind gegangen. Der Wirt kommt zum Tisch des Europäers und fragt, ob das Essen geschmeckt hat. Dann dreht sich der Chilene einmal im Kreis. In der Gewissheit, dass niemand mehr da ist, fängt er zu sprechen an. Es kommen kaum mehr Gäste. Die Leute haben kein Geld. Die Wirtschaft ist am Boden. Hier kämpfen alle ums Überleben, aber man darf nichts sagen. Víctor Jara wurde am 28. September 1932 geboren. In der Zitatenquelle des Centro Artístico Cultural Víctor Jara in Chillán stößt man auf die Jugenderinnerungen des Sängers: Meine Eltern waren Landarbeiter. Wir lebten in einem kleinen Dorf mit dem Namen Quiriquina, zwölf Kilometer von Chillán Viejo entfernt. Wir waren sechs Geschwister. Wenn es einmal Fleisch gab, war das ein Fest. Wir waren arme Leute. Mein Vater war Analphabet. Er wollte nicht, dass wir zur Schule gingen, damit wir ihn bei der Arbeit unterstützen konnten. So musste ich ihm schon mit sechs oder sieben Jahren auf dem Feld helfen. Doch meine Mutter konnte etwas lesen und sie legte Wert darauf, dass wir wenigstens lesen und schreiben lernten. Sie war eine Sängerin. Jedes Mal, wenn sie auf ein Fest oder eine Beerdigung ging, nahm sie
Víctor Jaras frühes musikalisches Schaffen war durch genaue, poetische Betrachtungen der einfachen Landbevölkerung geprägt. Ganz anders das 1969 erschienene Album Pongo En Tus Manos Abiertas. Dessen Lieder sind eine explizite Aufforderung zum Kampf. Der Feind kommt aus dem Norden und beutet ganz Lateinamerika aus. Noch immer ist da die enge Verbundenheit zur Volksmusik Chiles und der Anden. Noch immer erliegt man sofort dieser weichen, geschmeidigen Stimme und den oft fröhlichen Rhythmen. A Cochabamba Me Voy (Ich gehe nach Cochabamba), dorthin, wo Che Guevara gekämpft hatte Ratatatatá, sie sind ihnen entflohen, ratatatatá, da sind sie wieder, ratatatatá, was für eine Lüge, dass die Guerilleros erledigt sind. So melodisch, so fröhlich wie bei Víctor Jara hatte noch nie ein Maschinengewehr gerattert. Seitdem ich ein Jugendlicher war, interessierte mich das politische Geschehen. Ich war Mitglied der kommunistischen Jugend. Oft identifizierte ich mich mit den Diskursen, dem Klassenkampf, den sie propagierten. Als Bauernsohn erlebte ich Unrecht, Leid und Armut aus der Nähe. Das forderte mich heraus, mich für die Rechte der Armen zu engagieren, meinte Víctor Jara dazu. Später, wie etwa in La Población, wurde er wieder privater und umso intensiver. In dem 1972 erschienenen Konzeptalbum singt er über das Leben in einem Armenviertel. Wie immer blieb er nah an den Gefühlen der Menschen dran. Mit Mikrofon und Tonband ausgerüstet, hatte er sich zu den Leuten begeben. Zwischen einigen Liedern des Albums erzählt eine Frau, wie sie 1967 Land besetzt hatten, um darauf ihre Hütten zu errichten.
Juli 1983, Valparaíso. Die lichtertrunkene Hafenstadt, die Pablo Neruda einst besang, liegt still da. Arbeitslose Männer
stehen gelangweilt unten bei der Werft. Stundenlang. Der junge Europäer geht zu Fuß auf Erkundungstour durch die steilen
Wer so auf einen Fremden zuging, musste viel Mut haben oder hatte nichts mehr zu verlieren. Das Amnesty-International-Journal vom Februar 2005 beschreibt das Chile der Militärdiktatur wie folgt: Jeder, der als subversiv galt, konnte verhaftet werden oder verschwand einfach in einem der
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