Exclusiv im Internet
Dass staatlich inszenierte und massiv geförderte sogenannte Volksmusik- und Volkstanzprogramme in der damaligen Sowjetunion von den dortigen Folkies mit der gleichen Abneigung betrachtet wurden wie hierzulande Musikantenstadl à la Karl Moik oder Florian Silbereisen – das ist schon eine amüsante Vorstellung. Wirklich bedenklich wird es halt immer dann, wenn Musik – welcher Art auch immer – in den Dienst parteipolitischer Zwecke gestellt wird. Das ist hiesigen Volksmusikproduzenten wohl eher nicht vorzuwerfen, doch in Richtung Volksverdummung und dumpfer Abstumpfung geht die Reise allemal. Dennoch gab es auch in der Sowjetunion vor 1989 wirkliche, echte Volksmusikanten, wie zum Beispiel den ungeheuer populären Liedermacher, Schauspieler und Poeten Vladimir Vissotski, dessen Lieder und Texte millionenfach privat kopiert und im ganzen Land von Hand zu Hand weitergereicht wurden. Seine Inhalte waren eben keine gesungenen Parteiprogramme, sondern verständliche, kaum verschlüsselte Worte und dabei doch pure Poesie. Als er 1980 erst zweiundvierzigjährig starb, gaben ihm weit mehr als dreißigtausend Menschen das letzte Geleit. Sein Moskauer Grab wurde zur Pilgerstätte. Text: Kai Engelke
Russische Folklore in unseren Breitengraden, besonders wenn sie von bunt gewandeten Kasatschok- und Balalaika-Ensembles oder von Schlagersängern wie Ivan Rebroff oder Peter Orloff dargeboten wird, erzeugt meistens einen übertrieben gefühligen, sentimentalen Beigeschmack, wirkt letztlich unecht und kitschig. Ganz anders die Interpreten, die zum (längst überfälligen) Länderschwerpunkt Russland im vergangenen Jahr zum TFF nach Rudolstadt eingeladen wurden. Zum Beispiel der innovative Klangzauberer Oleg Kostrov. Der steht im Konzertzelt im Heinepark hinter seinen Keyboards, lächelt freundlich ins Publikum, dreht mit sparsamen Bewegungen an irgendwelchen Knöpfen, schiebt Regler hin und her, während sein Gitarrist Eduard Konovalov mit stoischer Mine auf seiner E-Gitarre schrammelt. Auf Zwischenansagen oder sonstige verbale Kontaktaufnahmen in Richtung Zuhörer verzichtet Kostrov völlig, ein Stück geht nahtlos ins nächste über, man weiß nicht: Spielt er gerade seine dritte oder achte Komposition? Lässt man sich allerdings auf die ziemlich gleichförmig dahinfließenden Töne ein, können sie durchaus eine nahezu hypnotische Wirkung entwickeln. Kostrovs Musik besteht aus gesampelten Geräuschen, Stimmen, Klängen und sonstigen elektronischen Sounds, die er zu einem ansprechenden, aber auf die Dauer – trotz der Fülle an unterschiedlichsten Tönen – auch etwas eintönigen Geflecht zusammenfügt. Mal klingt es nach Reggae, dann hört es sich an wie Polka, und zwischenzeitlich glaubt man, ein kleines Zirkusorchester zu hören. Als Filmmusik eignet sich Kostrovs Musik allemal. Tatsächlich hat er bereits die Soundtracks zu einer Reihe von Filmen und Theaterstücken komponiert. Und – nicht ganz unwesentlich – seine Rhythmen sind durchgängig tanzbar. Vor der Bühne im Heinepark drängen sich junge und nicht mehr ganz so junge Menschen und bewegen sich verzückt im Takt der freundlich-psychedelischen Klänge. Sozusagen am entgegengesetzten Ende der Ausdrucksskala russischer Musik steht das Dmitri Pokrovsky Ensemble, ein A-cappella-Chor auf allerhöchstem Niveau. Liedforscher und Musikethnologen waren die ersten Mitglieder dieses 1973 gegründeten Gesangsensembles. Sie reisten monatelang durch ganz Russland, um die traditionellen Lieder und Tänze, vornehmlich der Landbevölkerung, zu sammeln und auch selbst zu singen. Absolut beeindruckend, welch bombastische Fülle die zehn Sängerinnen und Sänger des Chores bereits während der allerersten Takte erzeugen, die sie während eines Workshops im alten Rudolstädter Rathaus erklingen lassen. Ohne lange Erklärungen integriert die Vorsängerin das gesamte Publikum in den hochprofessionellen Chor, und seltsamerweise klingt alles sofort harmonisch und noch gewaltiger. Die alte Faszination russischer Musik erfüllt den Raum und die Seelen der Teilnehmer. Das stärkste Musikerlebnis beim TFF 2009 war jedoch ohne Zweifel das überragende Quartett Exprompt, dessen Name sich aus dem Finnisch-Russischen herleitet und so viel bedeutet wie „aus dem Stegreif“ oder „Improvisation“. Doch Balalaikaspieler Alexej Kleshchenko fügt seiner Erläuterung sogleich die scherzhafte Bemerkung hinzu: „Jede Improvisation muss vorher fleißig geübt werden.“ Kleshchenko fasziniert das gebannt und konzentriert zuhörende Publikum im Rudolstädter Theater mit seinem gleichermaßen virtuosen wie entspannten Spiel. Atemberaubend ebenso die unglaubliche Fingerfertigkeit, mit der Ehefrau Olga Kleshchenko ihr Instrument, die dreisaitige Domra, bis an die Grenzen des Möglichen führt. Michail Totskij beherrscht das russische Knopfakkordeon, das Bajan, meisterlich. Ewgenij Tarasenko verleiht dem Quartett mit seiner Bassbalalaika nicht nur Fülle und zusätzliche Tiefe, immer wieder verdeutlicht er auch, dass dieses Instrument auch solo vortrefflich sein kann. „Russische Lieder klingen für deutsche Ohren immer melancholisch – egal, ob sie fröhlich oder traurig sind“, wundert sich Alexej Kleshchenko und fügt hinzu: „Aber wir haben auch richtig melancholische Lieder.“ Und dann spielt das Quartett eine Zigeunerweise, so schön – und dabei völlig kitschfrei –, dass so mancher Zuhörer feuchte Augen bekommt. Ein ungewöhnliches Konzerterlebnis, das vom Publikum zu Recht mit etlichen Zugabeforderungen und stehenden Ovationen belohnt wird.
Quasi als Bindeglied zwischen Tradition und Moderne fungiert das Moscow Art Trio. Ist es Jazz, Folk, Avantgarde oder Weltmusik, was die drei Künstler in der Rudolstädter Stadtkirche am Flügel, auf dem Waldhorn, mit verschiedenen Flöten, absonderlichen Blasinstrumenten und vor allem auch mit ihren Stimmen zelebrieren? Völlig nebensächlich – es ist auf alle Fälle faszinierende Musik, die in keine Schublade passt. Die Beschränkung auf ein Genre würde ohnehin nur den Horizont verengen. Über längere Strecken kommen die Klänge scheinbar strukturlos daher, wie zufällig, bis sich irgendwann wieder ein gemeinsamer Rhythmus, ein gemeinsamer Klang, eine gemeinsame Stimme formt, um bald darauf auseinanderzustreben und sich schließlich wiederzufinden. Bei aller Lust am Experimentieren, am kreativen Zusammenfügen unterschiedlichster Klangmöglichkeiten – die Wurzeln des eigenen Tuns bleiben immer präsent. „Das Dorf war die Seele Russlands“, sagt Klarinettist und Stimmenkünstler Sergej Starostin, „dort sind die verschiedenen russischen Musikstile entstanden.“ Die absurden, surrealen, von tiefschwarzem Humor geprägten Gedichte des russischen Poeten Daniil Charms, geboren 1905 in St. Petersburg, verhungert 1942 in einem Leningrader Gefängnis, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als dokumentarische Fragmente einer grausig erlebten Wirklichkeit. Der Leipziger Chansonnier Jens-Paul Wollenberg, kongenial unterstützt von Valeri Funkner am Bajan, spricht und singt die Texte von Charms im Schminkkasten des Rudolstädter Theaters nicht nur, nein, er lebt sie. Wollenberg bringt die tragikomische Figur des russischen Dichters derart intensiv auf die Bühne, dass dem Publikum wiederholt der Atem stockt, und der Schweiß auf der Stirn so mancher Zuhörerin hat womöglich nicht nur etwas mit der Hitze des Rudolstädter Juliabends zu tun. Eine Fantasiereise in die Tiefen der sibirischen Wälder, in die Einsamkeit einer gewaltigen Natur, wie sie hierzulande nicht mehr fühlbar ist, dazu das Pfeifen des Windes, Möwengeschrei – das boten meisterhaft die drei anmutigen Damen des Trios Ayarkhaan mit der Kunst ihres Maultrommelspiels. Und noch weitere Dimensionen schwangen mit: die einer langen Stammestradition sowie die einer uns völlig unbekannten Schamanenreligion. Was bleibt vom Schwerpunkt Russland beim TFF 2009? Neben der endgültigen Erkenntnis, dass russische Folklore weit mehr ist, als Donkosaken und liebliche Balalaikaklänge, vielleicht die Vermutung, dass westliche Volksmusik eine wesentliche Bereicherung durch das verstärkte Einbeziehen der Kultur ländlicher Regionen erfahren könnte. Eine Liste der exklusiv auf der Folker!-Webseite erschienenen Artikel findet ihr im Archiv . |
|