Genius, Künstler, Erfinder,
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Auswahldiskografie: Folk 66 (mit Shirley Hart und Colin Wilkie; Society, 1966) Guitar Train (Metronome, 1968) Blues, Rags & Raga (DaCamera, 1972) Travelling Man (Songbird, 1975) Alive And Well And Living In America (Underdog Records 1980) Together (mit Mary F. Rhoads; Underdog Records, 1980) Live! At Kutztown (Shubb, 2002) www.johnpearse.com |
John Melville Pearse (1939-2008) hat Spuren auf seinem mitunter steinigen Lebensweg hinterlassen; vor allem Spuren in Deutschland, denn hier war er als Musiker am erfolgreichsten. Aber auch als Gitarrenlehrer, der Tausende Fingerpicking, Bluesslide und Flatpicking lehrte – via TV-Bildschirm! „John Pearse, der Gitarrenlehrer der Nation, lehrt mit englischem Akzent im deutschen Fernsehen den Umgang mit den sechs Saiten ... John Pearse, der nach dem Krümelmonster populärste Dozent in den Dritten Programmen, ist eine vielschichtige Persönlichkeit. Er war bisher Jazz-Gitarrist, Journalist, Autor von Science-Fiction-Romanen, Student der Kunstgeschichte und Dozent für Musik-Ethnologie an der Universität in Oxford. Beiläufig füllt der heute 34-jährige Konzertsäle in den USA und Europa.“ Das schrieb das Magazin Stern in seiner Ausgabe 14/1974.
Von Heinz Rebellius
Am 5. November 2008 erklingen in dem wegen Baumaßnahmen an der eigentlichen Kirche provisorisch aufgebauten Kirchenzelt von Besigheim statt der Orgel leise Gitarrentöne. Es ist ein wunderbar sonniger und klarer Herbsttag, und neben der Familie und vielen Freunden und Verwandten hat es sich Colin Wilkie nicht nehmen lassen, seinen Freund John Pearse auch auf dessen letztem Weg zu begleiten. Eben jener Colin Wilkie, der zusammen mit seiner Frau Shirley Hart Pearse 1966 zum ersten Mal mit nach Deutschland nahm. Sie traten in den folgenden Jahren unzählige Male hier auf, bereicherten die legendären Folkfestivals wie das der Burg Waldeck mit ihrem englischen Folkstil, aber auch mit ihrem britischen Humor, und waren überall gern gesehene Gäste. Hier, an diesem Novembertag in Besigheim, an dem die Natur zum letzten Mal in diesem Jahr ihr prächtiges Gesicht zeigt, so, als ob auch sie diesem Mann die letzte Ehre erweisen wollte, schließt sich also ein Kreis. Pearse, der nie wieder nach England zurückkehren wollte und 2004 seinen festen Wohnsitz in diesen kleinen Weinort in der Nähe Heilbronns verlegt hatte, ist nun dort zur letzten Ruhe gekommen, wo er sich wirklich heimisch gefühlt hat. Es war ein langer Weg, der John Pearse nach Besigheim führte; ein Weg, der erst in den letzten Jahren eine langsamere Geschwindigkeit annahm, und das gezwungenermaßen – durch eine schwere Krankheit.
Die Initiation als Folkmusiker erhielt Pearse 1957. Hier traf er, der gerade mit der lauten Rock-’n’-Roll-Truppe The Zephyrs unterwegs war, in einem schummrigen Hotelzimmer den amerikanischen Bluessänger und -gitarristen Big Bill Broonzy. Als der ihm auf seiner Akustikgitarre den Blues vorspielte, war es um ihn geschehen. Gleich am nächsten Tag verkaufte Pearse seine Gibson-E-Gitarre, um sich von dem Geld eine Martin-Akustikgitarre zu holen und war seitdem dieser Instrumentengattung verfallen. John Pearses eigene Musik ist tatsächlich vom Blues-, aber auch vom Ragtime gefärbt, und sein prägnanter Spielstil, den eine klare, dominierende Bassbewegung und synkopiperte Melodielinien kennzeichnen, war Anfang der Siebzigerjahre innovativ und einzigartig.
Da hatte er schon – seit 1965 etwa – für die BBC seine Hold-Down-A-Chord -Sendungen gedreht, die ein Vorbild für die später in Deutschland gedrehten Lehrsendungen Akkord und Rhythmus in den dritten Programmen werden sollten. Da hatte er auch schon angefangen, nebenbei eigene Saiten herzustellen – mit einigen gebraucht gekauften Maschinen -, die so gut waren, dass alle Musikerkollegen sie spielen wollten und er kaum mit der Produktion nachkam. 1978, nach vielen Jahren sehr erfolgreicher Tätigkeit als Musiker, vor allem in Deutschland, rief ihn C. F. Martin & Co., der große Akustikgitarrenhersteller, nach Amerika. Zwei Jahre arbeitete er dort, entwickelte Gitarren und Zubehörteile, bevor er dann seine eigene Firmen gründete, erst J. Associates, dann seine heute noch existierende und von seiner Exfrau und Firmenmitgründerin Mary Faith Rhoads geleitete Firma Breezy Ridge Instruments. Zusammen mit Rhoads trat er auch wieder häufiger als Musiker in Erscheinung, unter anderem in Afrika. Was ihn aber nicht hinderte, ebenso im amerikanischen Fernsehen als Gitarrenlehrer und als Koch aufzutreten (ein Vorläufer der heute so erfolgreichen Kochshows). Wie String Along war Cooking With Wine ein so großer Erfolg, dass er seine Rezepte und die dazugehörigen Geschichten in Buchform veröffentlichte. Bis dann ein einschneidendes Erlebnis für eine abrupte Änderung seines so aufregenden und abwechslungsreichen Lebens sorgte.
Beim Wechseln der Reifen an seinem Auto klemmte er sich 1983 einen Nerv im Hals-/Schulterbereich ein; bei der folgenden Untersuchung in einem Krankenhaus wurde Pearse durch einen medizinischen Unfall – einen Kunstfehler des behandelnden Arztes – vom Hals an abwärts gelähmt und lag für mehrere Jahre im Bett eines Hospitals, mit der niederschmetternden Prognose der Mediziner, dass die Lähmung nicht mehr zu heilen sei. Nur sein eiserner Wille, der grundsätzlich positiv ausgerichtete Charakter und ... eine Gitarre halfen Pearse über diese Zeit hinweg. „Ich hatte mir eine Gitarre von dem englischen Gitarrenbauer Ralph Brown bestellt, die an dem Tag ankam, als der Unfall passierte“, erzählte er mir bei einem Besuch vor zwei Jahren. „Diese Gitarre hatte Mary an mein Bettende gestellt und ich habe sie sechs Jahre beobachtet, bis ich wieder in der Lage war, sie zu spielen. Wer weiß, ob ich jemals wieder auf die Beine gekommen wäre, wenn sie nicht dort gestanden hätte?“
Doch, auch wenn er die Folgen des medizinischen Unfalls besiegt zu haben schien, wurde er doch nie mehr ganz gesund. Was seine Vitalität und seine positive Ausstrahlung jedoch nicht trüben konnte. Ganz im Gegenteil! Zusammen mit seiner zweiten Frau Linda, die er 1994 heiratete, veräußerte er den Großteil seiner knapp sechshundert Instrumente umfassenden Gitarrensammlung, um sich von dem Erlös ein Haus in Südfrankreich zu kaufen. Hier verbrachten die Pearses mindestens sechs Monate im Jahr, ehe der Plan reifte, sich in Deutschland niederzulassen – was dann tatsächlich 2004 passierte, als den beiden Besigheim mehr oder weniger zufällig „über den Weg lief“ und sie dort das kleine Haus aus dem 17. Jahrhundert entdeckten, das zum Verkauf stand. Verbissen arbeitete John hier an seiner Gesundheit, mit dem großen Ziel, noch einmal auftreten, noch einmal auf Tournee gehen zu können. Einige Konzerte fanden tatsächlich auch im neuen Jahrtausend noch statt und selbst die Tatsache, dass er bald auf einen Rollstuhl angewiesen war, konnte ihn nicht daran hindern, sein Comeback vorzubereiten. Wobei sich am Ende die Krankheit leider als stärker erwies als der Patient. Verbittert musste John Pearse 2007 feststellen, dass selbst er besiegt worden war. Er konnte und wollte nun auch nicht mehr Gitarre spielen. Ab diesem Zeitpunkt, so erzählen die Freunde, die ihn in dieser Zeit neben seiner Frau begleiteten, hatte John Pearse sich selbst aufgegeben. Die ständigen Schmerzen, die hohen Medikationen, die progressiv fortschreitende Krankheit, das alles war zu viel für den Mann, dem eigentlich nie etwas zu viel gewesen war. Der Grenzen überschritt, nur um sich neuen Grenzen zu stellen.
Der Genius, der Künstler, der Erfinder, der Geschichtenerzähler, der Wissenschaftler, der Koch, der Fernsehmoderator, der Geschäftsmann, der Liebhaber und der Freund ist nun gegangen. Er hat seine Spuren hinterlassen, insbesondere bei den Menschen, die ihn gut kannten. Wir vermissen ihn.
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John Pearse |