We Can Swing Together!ALAN HULL & LINDISFARNE |
Als der Hauptsongwriter der Folkrocklegende Lindisfarne, Alan Hull, im November 1995 plötzlich und ohne warnende Vorzeichen an einem Herzinfarkt starb, war ein Phänomen zu beobachten, das leider nur zu häufig stattfindet: Die Medien, die ihm in der Vergangenheit stets die kalte Schulter gezeigt hatten, zollten ihm nun in teilweise überschwänglichem Ton jenen Respekt, der ihm zu Lebzeiten weitgehend versagt geblieben war. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass Hull vor allem mit einem kleinen, lustigen Liedchen mit dem Titel „Fog On The Tyne“ in Verbindung gebracht wurde, das so gar nicht zum Rest seines häufig sozial und politisch motivierten Songwritings passte. „Gelegentlich ärgerte es Alan, dass ein Song, den er selbst eher als Abfall ansah, sein bekanntester Song war“, erklärt Ray Laidlaw, Schlagzeuger von Lindisfarne und enger Freund Hulls. „Auf der anderen Seite war er begeistert, weil das Lied zur Hymne des Nordostens Englands wurde.“
Auswahldiskografie: Lindisfarne: Fog On The Tyne (Charisma Records, 1970) Nicely Out Of Tune (Charisma Records, 1971) Dingly Dell (Charisma Records, 1972) Roll On, Ruby (Charisma Records, 1973) Happy Daze (Warner, 1974) Back And Fourth (Mercury, 1978) Sleepless Nights (Lazy Music, 1982) Amigos (Black Crow, 1989) Alan Hull solo: Pipedream (Charisma Records, 1973) Squire (Warner, 1975) Phantoms (Rocket Records, 1979) On The Other Side (Black Crow, 1988) Statues & Liberties (Castle Records, 1996) We Can Swing Together – Anthology 1965-1995 (Castle Records, 2005) www.lindisfarne.de |
Von Ralf Bei der Kellen
Die Jahre nach Alan Hulls Tod haben eine wahre Schwemme an Archiv- und Wiederveröffentlichungen sowohl seines Soloschaffens wie auch seiner Arbeit mit Lindisfarne hervorgebracht. Bekam man 1995 gerade mal einen billig gemachten Best-of-Sampler und die Raritätenkollektionen Buried Treasures auf CD, so ist heute das Werk Hulls so umfassend dokumentiert wie das kaum eines anderen britischen Songwriters aus dem Folkbereich (mit Ausnahme von Bert Jansch vielleicht). Auf die Frage, wie es zu dieser postumen Ehrung kam, bieten sich zwei Erklärungen an: Als Hull starb, wurde in den Nachrufen häufig behauptet, dass er für Newcastle (bzw. „Tyneside“) das war, was Lennon/McCartney für Liverpool waren. Ein Understatement – denn während die Beatles ihrer Heimatstadt alsbald den Rücken kehrten (und erst Richtung Hamburg, dann nach London und schließlich in die ganze Welt ausschwärmten), blieb Hull bis auf ein eher unglückliches Londoner Intermezzo zur Hochzeit Lindisfarnes immer Newcastle und seinen Bewohnern (den „Geordies“) verbunden. Vielleicht ist es diese Verwurzelung, die ihn heute als „quintessentially English“ erscheinen lässt und die seine Anziehungskraft ausmacht. Die andere Erklärung ist die, dass Hull immer irgendwie unklassifizierbar war. Mit seinen an der Sprache des einfachen Mannes orientierten politischen und sozialen Songs war er eine Art „early Dylan on beer“. Könnte man Lindisfarne mit ihrem oft anarchischen und häufig simplistisch erscheinenden Good-Time-Folk als so etwas wie die Vorläufer der Pogues bezeichnen, so war Alan Hull eine Art Prototyp Billy Braggs. „In den Fünfzigerjahren gab es in Großbritannien einige eher dem linken Spektrum zuzuordnende Sänger, was sich dann im Folkrevival der Sechziger fortsetzte“, erklärt Laidlaw. „Aber nur wenige von ihnen schafften es, sich so in der Pop- und Rockszene zu etablieren wie Alan. Alan und Billy kannten sich, und kurz nach Alans Tod nahm Billy eine Version von ‚All Fall Down‘ mit Eliza Carthy auf.“ (Den Song kann man heute auf CD zwei der „extended Version“ von Braggs Album William Bloke hören.)
Tatsächlich liest sich Hulls Vita zunächst wie die vieler anderer Musiker zur Zeit der „British Invasion“: In den frühen Sechzigern spielt er zunächst in diversen lokalen Beatbands. Mit The Chosen Few nimmt er 1965 zwei eindeutig von den Beatles beeinflusste Singles für das PYE-Label auf. Es kommt zur Trennung, als Hull sich weigert, den Text der geplanten dritten Single „This Land Is Called“ (eines frühen Protestsongs) auf Anraten des Labelinhabers umzuschreiben. Um weiterhin Musik machen zu können, nimmt er 1967 einen Job als Pfleger in der psychiatrischen Abteilung des St. Nicholas Hospital in Newcastle an (wo er auch seine spätere Frau Pat trifft). Die Begegnungen, die er hier mit vielen außerhalb der Gesellschaft stehenden Menschen hat, fließen in seine Lieder ein (und haben vielleicht dazu beigetragen, dass Hull im Gegensatz zu den meisten seiner Rockkollegen in den Siebzigern nie der Rockglamourwelt verfiel). Weiterhin macht der junge Songwriter hier Erfahrungen mit LSD (womit man damals Alkoholiker zu heilen versuchte). O-Ton Laidlaw: „Alan war fasziniert von dem Konzept ‚Verstand versus Irrsinn‘. Wo zieht man die Grenze? Und wer entscheidet, wer verrückt und wer noch normal ist? In seiner Obhut befanden sich eine ganze Reihe Menschen, die Alan für normaler und vernünftiger hielt als die Menschen, in deren Obhut sie sich befanden. Und er interessierte sich auch dafür, wie man seinen eigenen geistigen Zustand verändern konnte – ob durch Meditation oder mit Hilfe von Chemie.“
In dieser Zeit schreibt Hull ein Repertoire von zirka sechzig Songs, von denen er die nächsten sechs Jahre zehren soll. Mit diesen Songs im Gepäck tritt Hull die Reise durch die Folkklubs an – um schließlich doch wieder in einer Band zu landen – bei den Brethren. Dort saß schon 1969 Ray Laidlaw am Schlagzeug. „Alan war drei Jahre älter als wir. Er war für uns so etwas wie ein ‚local hero‘, wir alle hatten ihn schon auf irgendeiner Bühne gesehen. Ich traf Alan, als sein damaliger Manager mich für eine Aufnahmesession anheuerte. Ich mochte seine Musik und war erstaunt über die große Anzahl an wirklich guten Songs, die er bereits geschrieben hatte. Ich begann, nach einem Weg zu suchen, ihn in unsere Band zu bekommen – was gar nicht so einfach war, da wir in Tyneside bereits ein angesagter Act waren und sich bereits eine Plattenfirma für uns interessierte. Also wollten die anderen den eingeschlagenen Weg verfolgen. Zudem wusste ich, dass Alan in der Vergangenheit kein besonders enthusiastischer Bandmusiker gewesen war und dass er keine große Lust verspürte, sich wieder in ein solches Kollektiv einzufügen. Es kam dann so, dass ich der Band seine Songs vorspielte, und wir begannen, zwei oder drei davon live zu spielen; Alan kam als Gast zu unseren Gigs und begann, bei seinen eigenen Songs miteinzusteigen. Umgekehrt begleiteten wir ihn als Gastmusiker bei seinen Shows. Schnell wurde allen Beteiligten klar, dass die Kombination von Alans Auftrittserfahrung und seinen Songs mit einer bereits eingespielten und kreativen Band mehr als ideal war. Wir taten uns zusammen, und schon kurz danach hatten wir einen Deal mit Charisma Records. Während wir die Songs für das erste Album probten, änderten wir den Bandnahmen in ‚Lindisfarne‘, da man uns gesagt hatte, es gebe bereits eine Band namens ‚Brethren‘ in den USA.“
Tony Stratton-Smith, der Manager des Charisma- Labels, legt Hull & Co. nahe, sich nach dem Kloster auf der Insel an der Nordostküste Northumberlands zu benennen. Es folgen zwei Alben ( Fog On The Tyne 1970 und Nicely Out Of Tune 1971) sowie diverse Singles, von denen sich nicht wenige in den britischen Top Ten wiederfinden. 1972 sind Lindisfarne angeblich diejenige Band, die (zusammen mit Slade) die meisten Tonträger in Großbritannien verkauft.
Mit dem Album Dingly Dell kommt 1972 der Anfang vom vorläufigen Ende für den Phönix Lindisfarne. Unstimmigkeiten mit dem von Stratton-Smith angeheuerten Produzenten Bob Johnston (der in den USA für CBS Bob Dylan, Johnny Cash und Simon and Garfunkel produziert hatte) lassen die Band das Album selbst mischen. Beim Publikum fällt es durch, obwohl es heute als eines der stärksten Statements der Band und von Hull gesehen werden kann. Den Grund für die Ablehnung sieht Laidlaw so: „Wir waren von ökologischen und antikommerziellen Ideen infiziert worden und wollten mit dem undesignten, einfach braunen Kartoncover ein Statement abgeben. Das führte dazu, dass es in den Plattenläden nicht ausgestellt wurde, da es einfach zu langweilig war. Für die Verkaufszahlen war das ein Desaster.“ Analog zum Cover haben auch viele der Songs starken Aussagecharakter. Da ist zum Beispiel die Proto-Ökohymne „All Fall Down“ („Councillors, magistrates, men of renown, / Who needs to live in a dirty old town? / Yes, go on, tear it down. / Who needs the trees and the flowers to grow? / We can have a motorway with motorway dough ...), gefolgt von dem für sich selbst sprechenden Aufruf „Bring Down The Government“. Dieser Song wird wiederum gefolgt von einem der bewegendsten musikalischen Stellungnahmen zur Nordirlandfrage „Poor Old Ireland“ („Oh Ireland, your people mean more than the idols / you seek to set up on earth / and the day that you see that’s the day, that all of your / sadness and sickness will die.“)
Hull war ein Songwriter, der seine Umwelt aufmerksam beobachtete – auch wenn er selbst gerne Bonmots abließ wie „The only thing I wanna write about is getting drunk“. Ob ihres Erfolgs als Liveband in Großbritannien geht die Band 1972 gleich zweimal nach Amerika, wo sie fast drei Monate lang unablässig tourt. Aber Lindisfarne sind – wie ihr Name bereits weithin signalisierte – eine britische Band, und das potverliebte Publikum der Post-Woodstock-Generation kann mit den sozialen Kommentare und drinking songs Hulls nichts anfangen. Nach der Tour zerfällt die Band, und Hull nimmt unter reger Mithilfe seiner Ex-Lindisfarne-Kollegen seine erste Solo-LP Pipedream auf. Zudem veröffentlicht er den Gedichtband The Mocking Horse , der sich erstaunlich gut verkauft.
In den nächsten Jahren reformieren sich Lindisfarne immer wieder in gewissen Abständen; Hull selbst bringt zudem eine Reihe von Soloalben heraus ( Squire 1975, Phantoms 1979, das sich in weiten Teilen mit der 1977er LP Isn’t It Strange von Hulls Band Radiator überschneidet, sowie On The Other Side 1983).
Hull war immer ein Unterstützer der Labour Party (eine Zeit lang sogar Sekretär des lokalen Wahlkreises der Partei). Er unterstützt den Streik der Minenarbeiter 1984 und organisiert ein Konzert, das zur Rettung der Swan-Hunter-Werft beitragen soll. 1986 schreibt er eine Show mit dem Titel Heads Held High , die den Hungerstreikmarsch von Jarrow nach London thematisiert und zu dessen fünfzigstem Jahrestag aufgeführt wird.
Hull arbeitet an einem neuen Soloalbum, als ihn der Tod ereilt. (Das Album erschien postum als Statues And Liberties und harrt momentan noch seiner Wiederveröffentlichung.) Seine Asche wird von seiner Familie und seinen ehemaligen Bandkollegen über dem Tyne nahe North Shields verstreut – dort wurde die Band 25 Jahre zuvor gegründet.
Alle (Wieder-)Veröffentlichungen unter Beteiligung Alan Hulls aufzählen zu wollen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen – deshalb seien nur die wichtigsten genannt: When War Is Over ( sämtliche BBC-Sessions Hulls zwischen 1973 und 1975 plus ein komplettes Konzert vom Mai 1975), die remasterten Versionen der ersten drei Lindisfarne-Alben Fog On The Tyne , Nicely Out Of Tune und Dingly Dell sowie Hulls Soloerstling Pipedream , We Can Swing Together – Anthology 1965-1995 (enthält unter anderem seltene Tracks aus den Jahren vor Lindisfarne mit den Bands The Chosen Few und Skip Bifferty). Ein vorläufiges – aber bestimmt kein abschließendes – Ende findet diese Saga mit der Wiederveröffentlichung der 1974er Lindisfarne-LP Happy Daze – die nicht gerade weltbewegend ist, aber in dieser neuen Version durch sieben frühe Hull Solodemos aus den späten Sechzigern ergänzt wird (darunter frühe Versionen der Klassiker „Dingly Dell“ und „Alright On The Night“). Hinzu kommt die Wiederveröffentlichung des 1979er Soloalbums Phantoms , die als Bonus die Tracks von Isn’t It Strange sowie fünf Solodemos Hulls aus dem Jahr 1975 enthält. Beide Veröffentlichungen erschienen auf dem britischen Label Market Square Records, dessen Chef Peter Muir ein echter Überzeugungstäter in Sachen Hull ist. (Sollte jemand nach diesem Artikel angeregt sein, sich mit Hull näher zu beschäftigen, sei demjenigen als Ausgangspunkt Dingly Dell, Pipedream und When War Is Over ans Herz gelegt).
Addiert man zu dieser Flut an Veröffentlichungen den Umstand, dass die Website der Band zehn Jahre nach ihrem Stapellauf über fünfhunderttausend Zugriffe verzeichnet und immer neue Videos von Lindisfarne und Hull solo auf Youtube auftauchen, ist das ein eindeutiger Beleg für die Tatsache, dass Hulls Songs auch 13 Jahre nach seinem Tod noch immer für eine große Anzahl Menschen relevant sind. We can (still) swing together.
Eine Liste der exklusiv auf der Folker!-Webseite erschienenen Artikel findet ihr im Archiv.
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