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Musik – Eine Zeitmaschine

Siegfried Schmidt-Joos
* Siegfried Schmidt-Joos , 1936 in Gotha geboren, studierte in Halle/Saale und Frankfurt/Main Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Von 1959 bis 1968 war er Musikredakteur bei Radio Bremen, lieferte Jazz- und Rocksendungen für so gut wie alle deutschen Sender und produzierte beim WDR die ARD-TV-Sendung Swing-in (1965-1968). Von 1968 bis 1978 gehörte er der Kulturredaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel an, war von 1979 bis 1987 Abteilungsleiter für „Leichte Musik“ im RIAS, anschließend in gleicher Funktion beim Sender Freies Berlin, wo er bis 2001 das Abendprogramm des Stadtradios 88acht leitete. Seit 1960 hat er als Autor und Herausgeber zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Darunter das erstmals 1973 erschienene Rock-Lexikon (mit Barry Graves), das im August in Zusammenarbeit mit Wolf Kampmann in seiner fünften überarbeiteten und auf den doppelten Umfang erweiterten Auflage erschienen ist.

GEDANKEN BEIM SCHREIBEN
DES ROCK-LEXIKONS

VON SIEGFRIED SCHMIDT-JOOS*

Als Wolf Kampmann und ich vor etwa zweieinhalb Jahren daran gingen, das vor 35 Jahren begonnene und immer wieder aktualisierte Rock-Lexikon (bei Rowohlt) für das 21. Jahrhundert tauglich zu machen, war die Arbeitsteilung klar: Wolf würde sich die neuen Künstler vornehmen, die Avantgarde aus HipHop, TripHop, Death Metal, Crossover und Industrial, ich die fehlenden Stücke aus dem 20. Jahrhundert, also vor allem Blues, Folk, Country, Gitarrenrock, Disco, Soul und Rhythm and Blues.

„Immer wenn du denkst, dass alle
Heldensagen und Tragödien aus der Geschichte
der Popmusik erzählt sind, taucht aus den
Nebeln der Vergangenheit eine neue auf.“

(Frank Schmiechen, Die Welt)

Käme ich in die Gefahr des Romantisierens, der Nostalgie? Würde ich Leichenschau betreiben müssen nach dem Frank-Zappa-Motto „Jazz ist nicht tot, er riecht nur schon ein bisschen.“? Das Gegenteil geschah. Ich geriet in einen Wirbel von Wirklichkeiten, erlebte bei den Recherchen Grotesken und Komödien, Heldenepen und Tragödien auf Dutzenden von Zeitebenen wie in einer surrealen Inszenierung. „Ich erkannte“, so hatte es Arthur Miller in seiner Autobiografie Zeitkurven: Ein Leben (1987) formuliert, „dass die Vergangenheit nur eine Form ist, eine blassere Gegenwart, denn alles, was wir sind, ist in jedem Augenblick in uns lebendig.“

Starke Neugier ist für solche Zeitreisen wohl die wichtigste Voraussetzung – nicht nur auf Starkarrieren, Musikeranekdoten, Bandgeschichten, Besetzungen und die Bestandteile von Sounds, sondern auch auf die Motivationen und Gedanken der Künstler, die Gründe ihrer Erfolge oder ihres Scheiterns, die Ursachen manch frühen Endes. Und, glauben Sie mir, sie alle wollen erzählen, sonst hätten sie ihre Musik nicht gemacht. Grandiose Stimmen früh verstorbener Sängerinnen wie Judee Sill (1944-1979, Drogen) oder Eva Cassidy (1963-1996, Krebs) wurden erst nach ihrem Tod wirklich wahrgenommen und lieferten dann tatsächlich noch einmal Hits. „Immer wenn du denkst, dass alle Heldensagen und Tragödien aus der Geschichte der Popmusik erzählt sind“, erkannte Frank Schmiechen im März 2005 in der Zeitung Die Welt , „taucht aus den Nebeln der Vergangenheit eine neue auf.“

Musik ist eine Zeitmaschine, Platten auflegen hilft. In seinem genialen Science-Fiction-Roman Time and Again (1970), der zusammen mit dem Folgeband From Time to Time im August unter dem deutschen Titel Zeitspuren (bei Heyne) wieder erschienen ist, stellt Jack Finney die von Einsteins Relativitätstheorie abgeleitete fiktive These auf, wir seien einem Menschen vergleichbar, der in einem Boot ohne Ruder auf einem sich windenden Fluss dahintreibt: „Um uns herum sehen wir nur die Gegenwart. Die Vergangenheit können wir nicht sehen, aber sie ist da.“ Vorausgesetzt, es gelänge, die unzählbaren Fäden, die uns an die Gegenwart fesseln, aufzulösen, müsse es irgendwann möglich sein, „dieses Boot zu verlassen, das Ufer zu betreten und zu einer der Windungen hinter uns zurückzugehen“.


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im Folker! 5/2008