Belgien

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Lieder ohne Verfallsdatum

Vom Wiehern der Spießer und den feindlichen Schiffen der Liebenden

Vor dreißig Jahren starb JACQUES BREL, der „ungekrönte König des französischen Chansons“ – der kein Franzose war

Jacques Brel Diskografie
Brel Intégrale – Grand Jacques
(10-CD-Box;
   Barclay, o. J.) – Studioaufnahmen und Livekonzerte
   1955-1977, mit ausführlichen Booklets; CDs
   auch einzeln erhältlich
Brel Knokke
(Barclay, 1993) –
   Eine Rarität: das Livekonzert in Knokke von 1963 und
   ein ausführliches Interview mit Brel im Originalton
   von 1971
Brel Infiniment
(Do-CD; Barclay/Universal,
   2003) – Best-of-Kopplung inkl. der fünf zu Brels
   Lebzeiten unveröffentlichten Chansons

Interpretationen anderer Künstler:
Klaus Hoffmann, ... singt Brel (Virgin, 1997)
Gisela May, Matthias Freihof & L’art de passage,
   Lieder von Jacques Brel
(Buschfunk, 1997)
Michael Heltau, Best Of Brel (Preiser Records,
   2005)
Dominique Horwitz, Ne Me Quitte Pas
   (Rosenkranz & Güldenstern/Indigo, 2007)


Auswahlbibliografie:
Jacques Brel, L’Œuvre intégrale, Paris:
   Robert Laffont, 1998
Olivier Todd, Jacques Brel - ein Leben, Bremen:
   Achilla Presse, 1997
Michaela Weiß, Das authentische Dreiminuten-
   Kunstwerk. Léo Ferré und Jacques Brel –
   Chanson zwischen Poesie und Engagement
,
   Heidelberg: Universitätsverlag Winter,
   2003

Jacques Brel im Radio:
„Spar deinen Schmerz nicht auf für morgen
   – Jacques Brel und Edith Piaf in einer langen
   Nacht“, dreistündiges Feature von Stephan
   Göritz mit vielen Chansons und Interviews
03./04.10.08: Deutschlandradio Kultur,
   00.05-03.00 Uhr
04./05.10.08: Deutschlandfunk,
   23.05-02.00 Uhr

go! www.jacquesbrel.be
go! www.brel.magiers.de

Er sang von den verzweifelt hoffenden Matrosen im Hafen von Amsterdam, die saufen, huren und in den Fisch beißen, als könnten sie mit ihren Zähnen das Glück festhalten. Und er flehte in „Ne Me Quitte Pas“: „Lass mich zum Schatten deines Schattens werden, nur verlass mich nicht.“ Die Lieder von Jacques Brel verleihen Geschichten und Gefühlen so unmittelbaren Ausdruck, dass jeder sich direkt angesprochen fühlen kann. Kaum vorstellbar, aber am 9. Oktober jährt sich schon zum dreißigsten Mal der Todestag dieses Liedermagiers, den viele für den ungekrönten König des französischen Chansons halten. Doch er war kein Franzose, sondern wurde am 8. April 1929 in der Brüsseler Vorstadt Schaerbeek in Belgien geboren.

Von Stephan Göritz

„Kann nicht jemand diesem jungen Mann sagen, dass es zuverlässige Eisenbahnverbindungen zurück nach Brüssel gibt?“ So soll der erste Satz gelautet haben, den eine Zeitung druckte, nachdem Brel 1953 in einem kleinen Chansoncafé sein Paris-Debüt gegeben hatte. Zurück nach Brüssel? Niemals! Aus Flandern war er doch gerade geflohen, weg aus dieser dumpfen Enge, in der man auf den Straßen nur steife Flaneure sieht, die ihr Glück in bunten Schaufenstern suchen und in der hoffentlich bald anstehenden Beförderung. Wenn sie oben auf dem Pferdebus sitzen, glauben sie schon, dass ihr Herz im Himmel wäre. Mit diesen Bildern beschrieb Brel seine Landsleute in dem Chanson „Bruxelles“. Am Ende lässt die Musik den Gaul vor dem Pferdebus so karikierend wiehern, dass man glaubt, hier wieherten alle Spießer dieser Welt. Wäre Brel dort geblieben, hätte er vermutlich in der familieneigenen Wellpappefabrik Karriere gemacht. Doch ihn trieb es zum Chanson. Für das haben die Flamen keinen Sinn – meinte er, nachdem er bei einem Liederwettbewerb in Knokke Vorletzter geworden war, und tauschte das biedere Brüssel gegen das so viel versprechende Paris.

Kann nicht jemand diesem jungen Mann sagen, dass es zuverlässige Eisenbahnverbindungen zurück nach Brüssel gibt?

Dass er dort in der ersten Zeit auf einer Bank an der Seine übernachtet hätte, ist eine von ihm gern kolportierte Legende. In Wahrheit verdiente er durchaus Geld mit kleinen Auftritten und wurde auch von seiner Familie unterstützt, aber auf ihn gewartet hatte Paris nicht. Wenn man manches frühe Brel-Chanson heute hört, kann man die Zurückhaltung des damaligen Publikums durchaus nachvollziehen angesichts pseudo-poetischer Gemeinplätze wie „einmal wird das Licht erstrahlen und mein Schweigen mit seligem Lächeln schmücken“ („La Lumière Jaillira“).

Was alle ‚Talent‘ nennen, ist in Wahrheit nur die Lust, die man haben muss, um seinen Traum zu leben. Der Rest ist Schweiß und Disziplin. Und was ‚Kunst‘ sein soll, weiß ich schon gar nicht. Ich kenne keine Künstler. Ich kenne nur Leute, die arbeiten, mit großer Energie.

Gut, dass er sich dennoch nicht aufs Schweigen verlegte, sondern arbeitete. Begriffe wie „Talent“ oder „Kunst“ waren für ihn hohle Wörter: „Was alle ‚Talent‘ nennen, ist in Wahrheit nur die Lust, die man haben muss, um seinen Traum zu leben. Der Rest ist Schweiß und Disziplin. Und was ‚Kunst‘ sein soll, weiß ich schon gar nicht. Ich kenne keine Künstler. Ich kenne nur Leute, die arbeiten, mit großer Energie.“ Zu diesen Arbeitern zählen auch jene beiden Musiker, die seine wichtigsten Partner werden sollten: der Arrangeur und Dirigent François Rauber (1933-2003) und der Komponist und Pianist Gérard Jouannest (geb. 1933). Rauber brachte Brel davon ab, sich selbst auf der Gitarre zu begleiten. „Ich habe ihm die Gitarre einfach weggenommen“, erzählte er mir und schmunzelte bei der Erinnerung an diesen Tag. „Jacques war nämlich faul, was die Musik anging. So reich die meisten seiner Texte waren, so arm war sein Gitarrenspiel. Ich habe ihm gesagt: ‚Lass dich doch am Klavier begleiten!‘ So konnten wir nicht nur neue musikalische Welten erfinden, sondern er war jetzt auch in der Lage, seine Chansons wirklich zu spielen, wie Theaterszenen, denn endlich hatte er die Hände frei.“ Als Arrangeur veredelte François Rauber viele von Brels eigenen Kompositionen. Seine Instrumentationskunst lässt uns hinter der flirrenden Sommerhitze von „Sur La Place“ die kalte Gleichgültigkeit der Menschen schon spüren, bevor sie im Text besungen wird. Rauber schuf das bedrohliche Stampfen des Zuges in „La Colombe“, der die Soldaten in den nächsten sinnlosen Krieg fahren wird, und er ließ die simple Melodie von „Au Printemps“ so jubeln, dass wir ein Lied lang glauben, der Frühling würde ewig dauern. Die musikalisch schönsten Brel-Chansons aber wurden von Gérard Jouannest komponiert bzw. mitkomponiert: die in großem Melodiebogen immer neu aufblühende Liebeserklärung des alten Paares im „Chanson Des Vieux Amants“, der sich aus dem Nichts bis zur Atemlosigkeit steigernde „Valse À Mille Temps“ oder die in ihrer Intensität an Maurice Ravel erinnernde Hymne auf alle Entwurzelten, „Les Désespérés“.


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