Belgien

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Es tut sich was beim Nachbarn ...

SZENE BELGIEN

Eindrücke einer einwöchigen Rundreise

Didier Laloy

Da brodelt es gewaltig im kleinen Belgien. Zwischen Gent, Brügge und Antwerpen vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht Hunderte junger Menschen zu Folktanzbällen treffen, und auch sonst brummt die Szene: Im ganzen Land fantastische Instrumentalisten – insbesondere am Akkordeon -, eine Vielzahl innovativer Weltmusikfestivals und Kulturzentren, ein bemerkenswert produktives Independentlabel, eine vielfältige Migrantenkultur – vor allem afrikanischer Provenienz -, und jeden Tag gibt es zu bester Sendezeit mehrstündige Weltmusikprogramme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Da lohnt sich doch ein Besuch ...

Von Andreas Kisters

Auch das gehört zu Belgien:
eine multikulturelle Offenheit,
wie sie etwa der französisch-
sprachige öffentlich-rechtliche
Rundfunk im Land beispielhaft
vorführt, indem er der Weltmusik
täglich zwei Stunden widmet,
wohlgemerkt eine aktuell produzierte
Studiosendung zu bester Sendezeit
im Massenprogramm.

go! www.homerecords.be
go! www.folkdranouter.be
go! www.huyartfestival.be
go! www.voixdefemmes.org
go! www.muziekpublique.be
go! www.muziekmozaiek.be
go! www.boombal.be

Festivallogo

Meine erste Station ist die wallonische Hauptstadt Lüttich. Gewöhnungsbedürftig ist die verwirrende Beschilderung. Dabei habe ich noch Glück: Im deutschsprachigen Gebiet Belgiens stehen ja beide Namen, sowohl der eigentliche, französische, „Liège“, als auch der im Deutschen übliche, „Lüttich“. Wer aber aus dem Norden, der nur zehn Kilometer entfernten flämischen Region kommt, der liest ausschließlich „Luik“ auf den Straßenschildern. Umgekehrt kündigen allerdings die wallonischen Schildermaler die flämische Stadt Leuven auch nur Tuur Florizoone als Louvain an. Solche sprachliche Scheuklappenmentalität – in einem Land mit drei Amtssprachen – verstehe, wer will. Ich bin jedenfalls froh, in „Liège“ gelandet zu sein bei dem nicht so engstirnigen Michel Van Achter, einem gelernten Toningenieur, der nach vielerlei Erfahrungen in diversen Studiobereichen (Folk, Rock, Werbefilm etc.) sein eigenes Label homerecords.be gründete, das entgegen den geläufigen Sprachbarrieren mit Musikern aus allen Landesteilen zusammenarbeitet und etwa zur Hälfte sowohl flämische als auch wallonische Musikprojekte realisiert. Michel Van Achter empfängt mich in den zweihundertfünfzig Quadratmeter umfassenden, spartanisch umgebauten Räumen einer ehemaligen Werkstatt für Tresore, die Platz für ein eigenes Studio, einen Aufnahmesaal, ein Büro und ein Apartment für die Musiker bieten, die hier in Ruhe aufnehmen wollen. In vier Jahren hat er mit seinem kleinen Independentlabel – außer ihm arbeiten hier gerade mal ein bis zwei Festangestellte plus zwei ehrenamtliche Mitarbeiter – sage und schreibe über vierzig CDs herausgebracht. Die beiden hörenswerten Labelsampler Anne Niepold und Aline Pohl Homerecords.be Volume One bzw. Volume Two belegen insofern nicht nur die Produktivität und Qualität von homerecords.be, sondern bieten zugleich einen interessanten Querschnitt durch die aktuelle belgische Folk- und Weltmusikszene. Trotz einer Vorliebe für rein akustische Produktionen fällt die stilistische Offenheit auf. „Wir sind kein Folklabel!“, sagt Michel Van Achter, der jeweils „die individuelle Handschrift des Künstlers“ sucht und sich dafür interessiert, „ob die Musiker etwas ‚Eigenes‘ schaffen, auch wenn sie – selbstverständlich – im Einzelfall auf bestimmte Landestraditionen zurückgreifen, auf Jazzstrukturen, Alte Musik oder auf klassische Elemente, und dies alles mischen.“

Wannes Van de Velde Herman Dewit

Damit verrät er gleichzeitig ein allgemeines Charakteristikum der belgischen Szene, die über eine Vielzahl junger talentierter Musiker verfügt, die einerseits offenbar gerne an traditionelle Volksmusikpraxis anknüpfen, indem sie eine „einfache“ Musik auf den einst gängigen Volksmusikinstrumenten wie Akkordeon, Dudelsack oder Geige spielen, und die andererseits eine äußerst kreative Synthese aus verschiedenen Richtungen erschaffen mit einem Augenzwinkern in Richtung traditioneller Volksmusik. Typisch erscheint auch eine große Bereitschaft, die erworbenen Kenntnisse gerne weiterzuvermitteln. Was in dieser Hinsicht etwa Luc Pilartz für die Geige im wallonischen Teil bedeutet, gilt entsprechend für Wouter Vandenabeele (Geiger bei Ambrozijn und Olla Vogala) aus dem flandrischen Gent. Und in Bezug auf das Akkordeon erscheint Belgien in jüngster Zeit ohnehin als Eldorado: Außer dem in zahlreichen Projekten vertretenen Didier Laloy seien hier ausdrücklich seine Schülerinnen Anne Niepold und Aline Pohl (vom Akkordeonduo Deux accords diront), Piet Maris (vom Ensemble Jaune Toujours), Wim Claeys (Tref, Göze, Ambrozijn) und Tuur Florizoone genannt; Letzterer hat gerade mit Cinema Novo ein neues Album vorgelegt, in ungewöhnlicher, aber spannender Triobesetzung mit Tuba, Cello und Akkordeon.

Spötter reden schon von
Riesen-Raveparties für Folkies.

Natürlich fällt im „kleinen“ Belgien auf, wie netzwerkartig alles miteinander verbunden ist. In der Szene kennt offenbar jeder jeden und empfiehlt gerne weiter.


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