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Virtuelle jüdische Welt?

Jüdische Kultur von Nichtjuden
für ein nichtjüdisches Publikum

Eindrücke vom Jüdischen Kulturfestival in Krakau

Theodore Bikel 2007
„Klezmermusik in Israel ist fest in (jüdisch-)orthodoxer Hand und schon alleine dadurch für die weniger Religionsfesten, die die Mehrheit stellen, nur bedingt attraktiv.“

Merkwürdiges findet seit etwa einem Jahrzehnt alljährlich an einem Samstagabend im Monat Juli in Krakau statt: Tausende von begeisterten Polen jeglichen Alters tanzen voller Euphorie, in diesem Fall jedoch nicht zu Rockmusik oder HipHop, sondern zu Klezmerklängen und auf Hebräisch oder Jiddisch gesungenen Liedern. Für den objektiven Beobachter mag das surreal erscheinen, denn das Geschehen findet im ehemals rein jüdischen, heute jedoch nichtjüdischen und sanierten Stadtviertel Kazimierz statt. In einer Stadt, deren jüdischer Bevölkerungsanteil bis zum Zweiten Weltkrieg zwar rund ein Drittel ausmachte, um die Jahrtausendwende, nach einem Fastnullstand, aber nurmehr einige Hundert zählt (von einer heutigen Gesamtbevölkerung von ca. 750.000). Präsentiert wird die „jüdische Musik“ auf einem Abschlusskonzert in der Szerokastraße von fast ausschließlich in den USA beheimateten jüdischen Musikern – dennoch ist das Publikum hauptsächlich polnisch, katholisch. Ebenso durchwegs nichtjüdisch sind die Organisatoren des alljährlich auf die Beine gestellten Jüdischen Kulturfestivals, und ohne die Unterstützung von über fünfzig nichtjüdischen freiwilligen Helfern wäre dieses gar nicht durchführbar (vgl. den Bericht zum 17. Festival in Folker! 5/2007).

Von Matti Goldschmidt

Ausgewählte CD-Tipps:

Chava Alberstein
go! www.aviv2.com/chava
Milky Way - Lullabys
(NMC, 2007)

Shlomo Bar
go! www.shlomobar.com
Ananim Nemuchim/Low Clouds

  (mit Habrera Hativeet; 2006)

Alan Bern
go! www.braveoldworld.com
Dus Gezang Fin Geto Lodzh/Song Of The Lodz
  Ghetto
(mit Brave Old World; Winter & Winter,
  2005)

Theodore Bikel
go! www.bikel.com
In My Own Lifetime
(Jewish Music Group, 2006)

Stuart Brotman
go! www.veretskipass.com
Trafik
(mit Veretski Pass; Golden Horn, 2008)

Joshua Horowitz
go! www.veretskipass.com
Budowitz Live
(mit Budowitz; Golden Horn,
  2007)

Willy Schwarz
go! www.willyschwarz.com
Home Away From Home
(mit Bremen Immigrant
  Orchestra; JARO, 2006)

Cookie Segelstein
go! www.veretskipass.com
Trafik
(mit Veretski Pass; Golden Horn, 2008)

Das diesjährige Jewish Culture Festival in Krakau
findet vom 27. Juni bis 6. Juli statt, Details siehe
go! www.jewishfestival.pl.
Shlomo Bar

Eine virtuelle jüdische Welt? Die US-Amerikanerin Ruth Ellen Gruber, Autorin des Buches Virtually Jewish (übersetzt meint dies sowohl „eine simulierte jüdische Wirklichkeit“ als auch wörtlich „praktisch jüdisch“), kürte den Slogan einer „jüdischen Kultur ohne Juden“, in der heute Schlagworte wie Judaistik, Juden, Synagoge oder auch Holocaust von einem Gros der Bevölkerung als integraler Bestandteil ihrer eigenen Geschichte bezeichnet wird. Dabei nimmt jüdische Musik aktuell im zentralen wie auch östlichen Mitteleuropa einen – gemessen an der Bevölkerungszahl – durchwegs überproportionalen Platz im kulturellen Geschehen ein. Betrachtet man etwa den jüdischen Bevölkerungsanteil der Bundesrepublik, wohlwollend auf rund 200.000 geschätzt, so beträgt dieser gemessen an der Gesamtbevölkerung kaum 0,25 Prozent. Bei rund vier Fünfteln dieser Zahl handelt es sich wiederum meist um erst seit 1992 hinzugekommene Migranten aus der Sowjetunion. In Österreich beträgt der jüdischen Bevölkerungsanteil etwa 0,12 Prozent und in Ländern wie Italien, Polen oder der Slowakei jeweils zwischen 0,04 und 0,07 Prozent. Trotz dieser statistisch kaum Alan Bern ins Gewicht fallenden Zahlen gibt es in mitteleuropäischen Ländern unzählige, ausschließlich auf die jüdische Kultur bezogene Festivals, wobei heute mit „Kultur“ meist Musik, weniger z. B. Theater, Literatur oder Malerei gemeint ist.

Woher die verschiedenen Grade dieses offenen Philosemitismus stammen, darüber sind sich die Soziologen nicht ganz einig. Es mag die Anziehungskraft einer irgendwie bekannten, fast familiären Exotik innerhalb unserer eigenen Gesellschaft sein, das im Unterbewusstsein befindliche Unbehagen einer indirekten „Schuld“ in Bezug auf den Holocaust, die Symbolik des Überlebenswillens und vieles mehr. Eindeutig in jedem Fall erscheint die Entwicklung, dass jüdische Kultur, vor allem aber Musik, etwa in Deutschland weniger von Juden, sondern hauptsächlich von deutschen Nichtjuden (d. h. nichtjüdischen Deutschen) repräsentiert wird. In einem Anflug verzerrter Realität verzichtet dabei die jüdische Gemeinschaft Deutschlands auf den Wiederaufbau und somit die direkte Vermittlung ihrer eigenen Kultur – wohlgemerkt „offenen Auges und ohne Not“; jüdische Inhalte zu bestimmen, Tanzendes Publikum in Krakau überließe man anderen und gebe somit freiwillig das Heft aus der Hand. „Selber Schuld!“, so das Resümee der jüdischen Berliner Soziologin Judith Kessler in ihrem Vortrag „Klezmerfreie Zone oder Jewish Disneyland?“.

Natürlich gilt dies nicht für den Staat Israel selbst, in dem „jüdische Musik“ per Selbstdefinition der eigentliche Mainstream ist, schließlich sind dort über zwei Drittel der Bevölkerung jüdisch. Eine Diskussion zu diesem Thema ist in Israel unbekannt. Klezmermusik, trotz des alljährlichen Festivals in Safed und insoweit überhaupt nennenswert, ist fest in (jüdisch-)orthodoxer Hand und schon alleine dadurch für die weniger Religionsfesten, die die Mehrheit stellen, nur bedingt attraktiv. So war beispielsweise Chava Alberstein, in Stettin gebürtig, die mit ihrem gemeinsam mit den Klezmatics eingespielten Album The Well in Europa und vor allem in Deutschland großen Erfolg hatte (vgl. „Die Besondere“, Folker! 1/1999, S. 63), worüber sie sichtlich erstaunt war. Ihrer Meinung nach werde „jüdische Musik“ in Europa zu häufig und kritiklos mit Klezmer gleichgesetzt. In Israel selbst gilt Klezmer spätestens seit den Sechzigerjahren als ein Kulturelement der Diaspora, verwebt mit einem zwischen den Zeilen stehenden Subkontext von etwas europäisch Altem, mit dem sich die moderne (jüdische) Jugend eher nicht mehr identifizieren möchte. Gegensätzliche Meinungen wie eine Veretski Pass mit Jeff Warschauer „seit den Siebzigerjahren deutliche Zunahme“ des Interesses an Klezmermusik in Israel, so in der sonst äußerst informativen Broschüre Klezmer – hejmisch und hip (s. Buchbesprechung in Folker! 2/2006), scheinen mehr ein Wunschgedanke zu sein und können hier nicht bestätigt werden.

„International bekannte jüdische Musiker sind zwar einem gewissen breiteren deutschen (will sagen nichtjüdischen) Publikum ein Begriff, werden merkwürdigerweise aber vom deutschjüdischen Establishment komplett ignoriert.“

Selbstverständlich stellt sich irgendwann die Frage, welche Zielsetzung – soweit überhaupt vorhanden – jüdische Künstler haben, ihre Kultur einem überwiegend nichtjüdischem Publikum zu vermitteln. International bekanntere israelische Gruppen wie etwa die HipHop-Band Balkan Beat Box legen so gut wie kein „jüdisches Sendungsbewusstsein“ an den Tag: Die Texte sind neben arabisch etwas mehr hebräisch, vor allem aber englisch und bei Liveauftritten akustisch eher schwer verständlich, egal in welcher Sprache. Das breite Publikum erkennt in den Konzerten dieser Gruppe, sicherlich beabsichtigt, weder eine jüdische noch eine israelische Komponente. Kann man deshalb hier überhaupt noch von „jüdischer Musik“ sprechen? Genau das Gegenteil scheint jedoch bei den jüdischen Vertretern der in Mitteleuropa recht stereotyp als „jüdisch“ empfunden Musik der Fall zu sein, namentlich Klezmer und bedingt auch liturgischer Gesang: In ausgiebigen und zahlreichen Gesprächen des Berichterstatters mit jüdischen Vertretern dieses Genres erschien als Hauptmotiv – natürlich neben der aktiven künstlerischen Betätigung – eine Repräsentation jüdischer Kultur, allerdings mangels Masse (und notabene auch Nachfrage) einem eben meist nichtjüdischem Publikum gegenüber.


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im Folker! 4/2008