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John Hiatt

Ein alter Haudegen meldet sich zurück

JOHN HIATT

Der ewige Zweite präsentiert Same Old Man

Der verrauchte Konzertschuppen ist gerammelt voll, Bierdunst und Qualm wabert in der stickigen Luft. Das Publikum ist überwiegend männlich, und das Durchschnittsalter liegt irgendwo zwischen Mitte vierzig und sechzig. Als der Star des Abends auf die Bühne stürmt und in die Saiten seiner Gitarre greift, mutieren die Herren plötzlich zu jugendlichen Rebellen. Einige spielen Luftgitarre, andere tanzen, und fast sieht es so aus, als wollten sie ansatzweise ihre etwas schütter gewordene Haarpracht über den Boden schleifen – wie damals in den Siebzigerjahren. Diese Metamorphose ist John Hiatt zu verdanken, 55 Jahre jung, Amerikaner und ewiger Zweiter im Himmel der Gitarrenstars. Und doch einer der ganz Großen.

Von Suzanne Cords

Diskografie:
Hangin’ Around The Observatory

  (Epic, 1974)
Overcoats
(Epic, 1975)
Slug Line
(MCA, 1979)
Two Bit Monsters
(MCA, 1980)
All Of A Sudden
(Geffen, 1982)
Riding With The King
(Geffen, 1983)
Attack Of The Killer B’s
(Geffen, 1983)
Warming Up To The Ice Age
(Geffen, 1985)
Bring The Family
(A&M, 1987)
Slow Turning
(A&M, 1988)
Stolen Moments
(A&M, 1990)
Perfectly Good Guitar
(A&M, 1993)
Live At The Hiatt
(Promo-CD; A&M, 1994)
Hiatt Comes Alive At Budokan
(A&M, 1994)
Walk On
(Capitol, 1995)
Little Head
(Capitol, 1997)
The Best Of John Hiatt - 1973-1998

  (Capitol, 1998)
Crossing Muddy Waters
(Sanctuary
  Records/Vanguard, 2000)
The Tiki Bar Is Open
(Sanctuary
  Records/Vanguard, 2001)
Beneath This Gruff Exterior
(Sanctuary
  Records/New West Records, 2003)
Master Of Disaster
(Blue Rose Records/
  New West Records, 2005)
Same Old Man
(Blue Rose Records/
  New West Records, 2008)

go! www.johnhiatt.com

An John Hiatt ist alles echt. Es gibt kein Playback, keine großartige Bühnenshow, keine halbnackten Girls auf der Bühne, die den Sänger anhimmeln und dabei lasziv mit den Hüften kreisen. Bei Hiatt geht es einzig und allein um die Musik. „Ich brauche und ich will das Drumherum nicht“, sagt er. „Für mich liegt die Magie im Zusammenspiel mehrerer Instrumente, diese geheime Verschwörung zwischen den Musikern, die sich im furiosen Finale entlädt. Das ist die Hauptsache für mich.“

Der Mann hat eindeutig eine Liebesaffäre mit seiner Gitarre. Einen Namen hat sie nicht – „da würde meine Frau eifersüchtig“, grinst er -, aber er schafft es immer wieder, ihr neue Stimmungen zu entlocken. Dazu diese erdige, markante Bluesstimme. „Meine Texte sind eigentlich Nebensache“, sagt Hiatt. „Bei mir kommt immer zuerst die Melodie, und irgendwie finden sich die Worte dann von ganz allein. Ich denke an ein Gespräch mit dem Nachbarn, einen Besuch im Coffeeshop oder diese Eule, die mich und meinen Truck attackiert hat, und schon steht der Song.“

John Hiatt 2007

John Hiatt ist einer dieser Musiker, die sich in keine Schublade pressen lassen. Manche halten ihn für einen Rocker, andere für einen blues guy . Auch Singer/Songwriter ist eines der Etiketten, die man ihm anhängt. Letzteres, sagt er, akzeptiert er heute als eine treffende Bezeichnung, aber in den Siebzigern hätte er einem dafür seine Gitarre über den Schädel gezogen. „Songwriter waren Softies, und das wollte ich definitiv nicht sein.“

Hiatt war immer ein tough guy , ein harter Bursche. Sein Lebenslauf klingt, als ob Charles Bukowski eine seiner Romanfiguren zum Scheitern verurteilt hätte: Mit elf wurde John Halbwaise, mit dreizehn hing er an der Whiskyflasche und mutierte zum Kettenraucher, mit achtzehn schmiss er die Schule und schlug sich nach Nashville in Tennessee durch. Ein Lebenslauf, den so oder so ähnlich jeder Rockstar vorweisen muss, der etwas auf sich hält. Rebellion gegen das Establishment und ein rüder Umgangston gehörte für Gitarristen wie Hiatt zum guten Ton.

Die wilden Zeiten sind längst vorbei. Hiatt hat seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, und dem Zigarettenkonsum auch schon lange abgeschworen. „Jetzt rauche ich drei bis vier Zigarren pro Woche“, sagt er und entschuldigt sich dafür. „Schlechte Angewohnheit, muss ich mir auch noch abgewöhnen.“

John Hiatt 2008

Nur die Musik, die will er sich nie abgewöhnen. „Ich hab schon im Alter von elf Jahren Lieder geschrieben und auf meiner Gitarre ausprobiert“, erinnert er sich an seine Kindheit in Indianapolis. „Ich weiß noch bis heute, dass es in meinem ersten Lied um Betsy Ann ging. Sie war von allen Mädchen in der Klasse am weitesten entwickelt, eine echt scharfe Braut und alle Jungens waren hinter ihr her.“ Damals träumte Hiatt davon, ein berühmter Rockstar zu werden und strotzte vor Energie und Tatendrang.

Viereinhalb Jahrzehnte später und mit reichlich Lebenserfahrung auf dem Buckel hat er offensichtlich genauso viel ungebremste Energie wie damals. „Ich fühle mich absolut genial“, sagt er. „Ich bin inspirierter als je zuvor, allein in den letzten fünf Jahren habe ich mehrere Alben veröffentlicht. Ich glaube, ich bin vom künstlerischen Aspekt her derzeit auf der Höhe meiner Schaffenskraft. Bestimmt liegt es daran, dass ich durch keinen Plattenvertrag geknebelt bin und tun und lassen kann, was ich will, ohne dass man mir meine Musikrichtung vorschreibt. Yeah , das ist ein absolut großartiges Gefühl.“ Kein Wunder, dass er im Song „Uncommon Connection“ auf der 2003 erschienenen Scheibe Beneath This Gruff Exterior („Hinter der schroffen Fassade“) behauptet: „I’m not getting old / I’m slowing down time“ – „Ich werde nicht älter, ich verlangsame einfach die Zeit.“

„Ich weiß noch bis heute, dass es in meinem ersten Lied um Betsy Ann ging. Sie war von allen Mädchen in der Klasse am weitesten entwickelt, eine echt scharfe Braut und alle Jungens waren hinter ihr her.“

So ganz gehen die Jahrzehnte allerdings auch nicht an so einem Kerl wie Hiatt vorbei. „Klar“, gibt er mit einem breiten Grinsen zu, „wenn ich fünf Tage auf Tour bin, tun mir jetzt schon nach dem vierten die Knochen weh und nicht mehr erst nach dem fünften. Aber auf der Bühne hat sich überhaupt nichts geändert. Ich gebe das Beste für meine Fans, die mit ihrem hart erarbeiteten Geld den Eintritt zu meinen Konzerten bezahlen. Obwohl ich nicht verstehe, dass sie dafür bezahlen, einen durchgeknallten Typen wie mich zu sehen.“

John Hiatt weiß, was es bedeutet, schwer für seinen Lebensunterhalt zu schuften. Denn der Traum, ein berühmter Rockstar zu werden, erfüllte sich nie, obwohl er als begnadeter Songwriter galt. Er blieb der ewige Zweite im Schatten der großen Stars. Dutzende prominenter Kollegen wie Bob Dylan, B. B. King, Iggy Pop, Eric Clapton, Emmylou Harris, Bonnie Raitt und sogar Disneys Zeichentrick-Bärenbande The County Bears coverten seine Songs und heimsten die Lorbeeren dafür ein.

John Hiatt – Walk of Fame

Es gab Zeiten, in denen er sich darüber maßlos aufregte. „Ich war vor Neid völlig zerfressen“, gesteht er, „aber heute bin ich froh darüber, wie alles gelaufen ist. Allein die Tantiemen ermöglichen mir ein sorgenfreies Leben. Außerdem habe ich doch meine eigene Karriere, gerade ausreichend, sie zu genießen, aber nicht genug, dass sie zum Problem wird. Wenn man zu berühmt ist, steht man doch ständig in der Öffentlichkeit und hat einfach kein Privatleben mehr, der pure Horror. Ich dagegen lebe mit meiner Familie auf einer Farm außerhalb von Nashville und fahre in meiner Freizeit regelmäßig Autorennen, ohne dass mir die Leute auf die Nerven gehen, weil ich eben Hiatt heiße. Nein, ich bin vollkommen zufrieden damit, wie sich alles entwickelt hat.“

1974 veröffentlichte Hiatt sein erstes Album Hangin’ Around The Observatory , das ebenso wie der Nachfolger Overcoats ein Jahr später sehr countrylastig war. Da John Hiatt zu dieser Zeit schon sieben Jahre in Nashville, der Hauptstadt des Country schlechthin, lebte, war diese musikalische Prägung nicht ungewöhnlich. Doch die Erstlingswerke fanden kaum Käufer, und der Musiker zog sich vor einem erneuten Anlauf mit einer anderen Plattenfirma enttäuscht dorthin zurück, wo er sich schon immer am wohlsten fühlte: in die Liveatmosphäre kleiner Klubs und Nachtbars. „Bis heute ist das bei mir so, ich hasse es, ewig im Studio rumzuhängen. Ich glaube, die längste Zeit, die ich je für die Einspielung eines Albums brauchte, waren knapp drei Wochen“, sagt er. „Das liegt wohl daran, dass ich mich nie sehr lange auf eine Sache konzentrieren kann. Ich fange dann an, mich zu langweilen. Ich fand die kreative Phase einfach immer viel spannender als die Reproduktion im Studio.“

„Ich glaube, ich bin vom künstlerischen Aspekt her derzeit auf der Höhe meiner Schaffenskraft. Bestimmt liegt es daran, dass ich durch keinen Plattenvertrag geknebelt bin.“

So ist auch das vor fünf Jahren erschienene Album Beneath This Gruff Exterior innerhalb von nur acht Tagen eingespielt worden. An Hiatts Seite standen seine langjährigen Mitstreiter The Goners. Hinter diesem Namen verbergen sich David Ranson am Bass, Sonny Landreth an der Slidegitarre und Kenneth Blevins am Schlagzeug. Nach einer Pause von zehn Jahren, in denen jeder seine Solokarriere verfolgt hatte, waren die vier Musiker zu Hiatts Album The Tiki Bar Is Open 2001 wieder zusammengekommen. „Da sind wir vier alten Säcke aufgelaufen und haben versucht, uns ein bisschen aufzufrischen, ein bisschen Schminke, ein Besuch beim Friseur“, sagt Hiatt. Ein paar Proben, mehrere gemeinsame Konzerte, und schon war man wieder aufeinander eingestimmt und in Topform. Auch auf der vorletzten Scheibe Master Of Disaster John Hiatt tat sich John Hiatt mit einem alten Weggefährten aus den Achtzigern zusammen: der Produzentenlegende Jim Dickinson, der nebenbei unter dem Pseudonym East Memphis Slim für die Pianoklänge auf dem Album zuständig ist. Old Dickinson brachte seine Söhne Luther und Cody mit, die Hiatts Songs zurückhaltend mit Gitarre und Drums unterlegen und Master John neidlos den Thron überlassen. Ein paar Bläser schauen ebenfalls um die Ecke, und hier und da setzt Geiger Tommy Burroughs ein paar Akzente. „Wenn man uns live sieht, soll sich das in etwa so wie auf diesem Album anhören“, meint Hiatt. „Und es ist weiß Gott nicht leicht, die Atmosphäre eines Konzerts auf diese kleinen Silberlinge zu bannen.“ Kaum zu glauben, dass Produzent Dickinson dabei das neueste Wunderwerk der Technik nutzte, nämlich ein digitales Aufnahmesystem, das analoge Wärme nur vorgaukelt. Aber solange das Resultat so überzeugend erdig klingt, kann das den Fans egal sein.

Kam das Vorgängeralbum Beneath This Gruff Exterior eher bluesig daher, wirbelte Hiatt auf Master Of Disaster gekonnt Folk, Country, Blues und Rootsrock durcheinander. Als Songwriter bleibt er sich treu, wie immer handeln seine Geschichten vom ganz normalen Alltag, von geplatzten Träumen und Erinnerungen. Genau deswegen klingen sie so authentisch. Der Song „How Bad’s The Coffee“ – von Beneath This Gruff Exterior – zum Beispiel entstand, als er und The Goners gerade mit Buddy Guy und B. B. King durch die Lande tourten. „Da gab es diesen grottenschlechten Kaffee, aber die Kellnerinnen waren wirklich süß, nannten dich ‚honey‘ und servierten dir diesen Wahnsinnskuchen“, erinnert sich der Sänger. „In der Ära der Starbucks-Kaffeehausketten findet man das nur noch selten. Dort ist der Kaffee zwar tausendmal besser, aber verdammt noch mal, das Flair ist dahin.“ Das inspirierte ihn zu dem Song über die übel schmeckende Brühe, nur eines der kleinen ironischen Meisterwerke, für die er ein ausgeprägtes Händchen hat. Natürlich kommen auch die traurigen Gestalten vor, die Verlierer des Lebens, wie der „Master Of Disaster“ oder der Protagonist in „Old School“ , dem die Jahre reichlich Schmerzen zugefügt haben, der sich aber nichts anmerken lässt.

John Hiatt

Und jetzt kommt John Hiatt mit seinem neuesten Werk um die Ecke, Same Old Man heißt die Scheibe, die als CD, als Schallplatte und in einer speziellen Luxusedition inklusive DVD erscheint. Und obwohl das Album brandneu ist, klingen die Lieder irgendwie vertraut, ganz so, wie man sie von dem alten Haudegen gewohnt ist. Beim Anhören solcher Lieder wie „Old Days“ oder „Hurt My Baby“ schleicht sich das Gefühl ein, dass man vom Hineinschlüpfen in ein Paar bequeme alte Hausschuhe kennt: Nichts drückt, alles passt, das fühlt sich wohl und vertraut an, genauso wie Hiatts Musik. So minimalistisch wie auf Same Old Man hat man ihn allerdings selten gehört: „Das ist nicht sonderlich verwunderlich“, meint er lakonisch, „ich habe das Album in Eigenregie produziert und hatte keinen, mit dem ich rumdiskutieren konnte. Also geht es hier ausschließlich um mich und die Vocals.“

„... ich habe meine eigene Karriere, gerade ausreichend, sie zu genießen, aber nicht genug, dass sie zum Problem wird. Wenn man zu berühmt ist, steht man doch ständig in der Öffentlichkeit und hat einfach kein Privatleben mehr ...“

Die Gitarre gibt sich dazu dezent akustisch, Exproduzent Luther Dickinson von den North Mississippi Allstars glänzt streckenweise an Mandoline und National-Resonator-Gitarre, Bassist Patrick O’Hearn und Drummer Kenneth Blevins sorgen für den wohligen Klangteppich, und Töchterchen Lilly darf auf „Love You Again“ und „What Love Can Do“ gemeinsam mit Daddy singen. Vor allem aber dominiert John Hiatts Stimme. Und irgendwie klingt bei Same Old Man alles reichlich nach Retrospektive. Da stellt sich unvermeidlich die Frage, ob der Künstler mit diesem Album eine Reise in seine Vergangenheit antritt. „Nun ja“, meint er und zeigt wieder dieses breite Grinsen, „es bleibt mir ja nicht viel übrig. Ich habe schließlich die Hälfte meines Lebens hinter mir, und wenn ich nur nach vorne schaue, ignoriere ich einen großen Teil von mir.“ Doch wenn er in die Zukunft blickt, dann hat er vor allem einen Wunsch: dass er fit bleibt, um so lange wie möglich Musik machen zu können. „Denn ohne diese Leidenschaft wäre mein Leben ein ganzes Stück leerer.“ Und in den (wenn auch nur noch wenigen verbliebenen) verrauchten Konzertsälen dieser Welt könnte man sich nicht mehr plötzlich jung fühlen, weil John Hiatt mit seiner Gitarre und seiner bluesigen Stimme das Hier und Jetzt vergessen lässt und in eine andere Ära entführt.


Eine Liste der exklusiv auf der Folker!-Webseite erschienenen Artikel findet ihr im go! Archiv.


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