The Harry Smith Project: Anthology Of |
Der Begriff Folkmusik scheint sich wie von selbst zu erklären, wenn man dieses Werk in Betracht zieht, die Anthology Of American Folk Music, editiert von Harry Smith - Experimentalfilmer, Anthropologe, Drogenfreak, Wissenschafter, Beatnik und Amateur in Personalunion -, ein Mann mit ständigem Geldmangel, der leidenschaftlich sammelte und dabei einen Schatz von alten 78er-Schallplatten mit klassischen amerikanischen Folksongs zusammentrug. Mit dieser Kompilation, erstmals 1952 auf sechs LPs erschienen und 1997 wieder veröffentlicht in einem Boxset mit sechs CDs, eröffnet sich den Hörern eine längst vergessen geglaubte Welt, die zudem ungeahnte Möglichkeiten der Weiterentwicklung bietet.
Von dieser „Bibel“ lernte Bob Dylan ebenso wie Beck, Kurt Cobain oder Elvis Costello, um nur einige wenige zu nennen. O-Ton Dave Van Ronk 1991: „We all knew every word of every song on it, including the ones we hated ...“ Was ist das Besondere gerade an diesem Kompendium von Songs - es ist ja bei Weitem nicht das einzige, das es gibt?! Da spielen sicherlich mehrere Faktoren zusammen: Zum einen erschien das Original 1952, also in jenem Jahr, in dem die berüchtigte McCarthy-Ära ihren Höhepunkt fand, und Amerika führte nicht nur Krieg mit sich selbst, den eigenen Landsleuten, sondern auch gegen Korea. Zum anderen finden sich auf der Anthologie höchst unterschiedliche Songs, die 1952 bereits zwanzig Jahre und noch älter waren und bereits zum Zeitpunkt der Einspielung teilweise als „altmodisch“ galten. Der gesamte musikalische Farbenreichtum Amerikas fand hier Unterschlupf, keine Stilrichtung, die verdrängt oder vergessen wurde. Zusätzlich war es die Ausnützung eines neuen Mediums: der Langspielplatte.
Rani Singh, die bis zu seinem Tod 1991 zwei Jahre lang Assistentin von Harry Smith war und heute die Harry Smith Archives leitet, veröffentlichte 2006 eine Filmdokumentation über Smith und seine längst zu den Mythen der Popkultur zählende Sammlung. The Old Weird America - so der Titel des Films, der auf eine Kapitelüberschrift im Buch Invisible Republic: Bob Dylan’s Basement Tapes von Greil Marcus zurückgeht - dokumentiert nicht nur das Leben Smiths und seine Arbeit an der Sammlung, sondern auch seine Tätigkeit als Filmemacher und Autor. Singhs Film zeigt außerdem Konzertaufnahmen von Musikern, die Stücke aus der Sammlung spielen: So kann man etwa Elvis Costello alte Balladen singen hören oder Beth Ortons unverkennbare Stimme genauso wie Nick Cave, Richard Thompson, die McGarrigle-Schwestern, Eliza Carthy, Beck bis hin zu Sonic Youth, Philip Glass und Percy Heath; ein musikalisches Dickicht, das von Greil Marcus durchkämmt und kommentiert wird. Trotz dieser Ansammlung von Prominenz und einer Fülle an qualitativ hochwertigen Konzertsequenzen bleibt der Film, der in Europa erstmals im Rahmen der Viennale 2007, des Vienna International Film Festivals, präsentiert wurde, hinter den hohen Erwartungen zurück. In erster Linie, weil das Gros der Interviewpassagen letztendlich reine Werbung für die Anthologie sind und kaum jemals in die Tiefe gehen, was bei einer Filmlänge von neunzig Minuten dann doch ein wenig zu viel des Gut(gemeint)en ist.
Am Rande der Festivalpräsentation sagte Rani Singh über ihre erste Begegnung mit Harry Smith: „Bevor ich seine Assistentin wurde, arbeitete ich in dieser Funktion bei Allen Ginsberg, der mich mit Harry Smith bekannt machte. Bei früheren Forschungsarbeiten war ich auf Experimentalfilme von Smith gestoßen, über den ich damals sonst nichts wusste und der für mich seither zum Mythos geworden war. Eines Tages meinte Ginsberg, dass wir Harry Smith besuchen werden. Ich war mir nicht sicher, ob das jener Smith sei, aber sobald ich diesen Alchemisten sah, war mir klar, dass er es war.“ Sie sei eigentlich kein Musikspezialist, räumt Singh auf die Frage nach ihrem Verhältnis zur Folkszene und zur Entstehung ihres Films ein. „Ich bin mehr mit der Nachkriegsszene vertraut und noch mehr mit der Museenlandschaft und mit Archiven. Ich wollte aber immer einen Film zur Person Harry Smith machen. Es war - vor allem aus finanziellen Gründen - gar nicht so einfach, ihn in den Mittelpunkt zu stellen und einen roten Faden für die Dokumentation zu finden. Letztendlich ließ sich mein Vorhaben nach der Konzertserie und der Veröffentlichung der Livemitschnitte [The Harry Smith Project Live, DVD, 2006, Vertrieb: Soulfood Music; Anm. d. Verf.] realisieren. Für mich gab es mehrere wichtige Schnittstellen: Zum einen die Person Harry Smith, dann natürlich die Anthologie und die Musiker, die heute noch davon beeinflusst sind. Daraus ergaben sich etliche Interviews über mehrere Jahre, die ich in den Film integrierte. Leider gibt es nur sehr wenige Filmaufnahmen mit Harry Smith - gerade einmal einige wenige Aufnahmen von Jonas Mekas, D. A. Pennebaker und Allen Ginsberg. In der ersten Fassung des Films war es daher auch sehr schwer, die richtige Balance zu finden zwischen der Anthologie, der neuen DVD, den Musikern und Harry Smith. Umso mehr, weil immer wenn Harry Smith ins Bild kam, er alles überstrahlte. Er hatte einen starken Charakter.“ Tatsächlich sind diese wenigen Passagen sehr bemerkenswert. Alleine sein „Auftritt“ bei der Grammy-Verleihung, seine Bewegungen und sein verschmitztes Antlitz. Legendär dazu freilich auch seine Worte als er den Grammy für sein Lebenswerk entgegennahm: „Es freut mich, dass aus meinem Traum Wirklichkeit wurde: Musik hat Amerika verändert.“ Diese Szene, bei der gewissermaßen the old, weird America auf Amerikas Glamour trifft, ist sowohl im Film zu sehen als auch auf der o. a. DVD und als DVD-Bonustrack auf der CD-Version der Anthologie. Smith war in seinen letzten Lebensjahren alles andere als wohlhabend, sagt Singh. „Er borgte sich ein Aufnahmegerät von Ginsberg und nahm damit alles auf - Straßenszenen, diverse Performances, irgendwelche obskuren Sounds, um diese dann zu verkaufen.“
Durch Allen Ginsberg kam es im Jahr 1985 auch zu einem Treffen von Harry Smith und Bob Dylan. Na ja, zumindest beinahe, wie sich Rani Singh erinnert: „Die mir geläufige Version dieses Beinahe-Treffens geht so: Bob Dylan hatte soeben sein Album Empire Burlesque fertiggestellt und wollte es Allen Ginsberg vorspielen. Dylan kam also ganz aufgeregt in Ginsbergs Wohnung. Der sagte zu Dylan, dass Harry Smith da sei und in einem Nebenraum schlafe. ‚Bevor wir uns das Album anhören, wecke ich ihn auf, damit wir es uns gemeinsam anhören können.‘ Er klopfte also an die Tür und sagte, ‚Harry, wach auf, Dylan ist mit seinem neuen Album da! Komm her!‘ Doch Harry meinte nur: ‚Vergiss es! Ich will schlafen!‘ Das ist, soweit mir bekannt ist, die einzige ‚Begegnung‘ beider. Es kann aber natürlich sein, dass sie sich in den frühen 1960er Jahren einmal in Greenwich Village gesehen und miteinander gesprochen haben, aber diese eine Geschichte gilt als einziges historisch gesichertes ‚Treffen‘.“
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The Old, Weird America – |