back

Ferner liefen...

Auch der Glossist geht irgendwann in Ruhestand: Altern als Problem für Künstler. Noch erfreut er sich des Vollgefühls seiner Schaffenskraft, doch das Zipperlein beißt: Schon finden sich Witze an Stellen, wo man früher keine vermutete; seit der letzten Lektüre einer Gebrauchsanweisung sind die Arme auch wieder kürzer geworden. „Lebensabende, diese Lebensabende!“, barmt Gottfried Benn: „Die meisten mit Armut, Husten, krummen Rücken, Süchtige, Trinker, auch einige Kriminelle, fast alle ehelos, fast alle kinderlos, die ganze bionegative Olympiade ...“ Da hab’ ich mir endlich die Unterlagen kommen lassen, um meine einstige KSK-Rente auszurechnen. Keine Müdigkeit vorschützen, Bleistift gespitzt, gerade hingesetzt und wahrheitsgemäß geantwortet.

Zwar wurden in studentischer Zeit Schopenhauers Aphorismen Vom Unterschiede der Lebensalter beherzigt: „Wenn, in meinen Jünglingsjahren, es an meiner Thür schellte, wurde ich vergnügt: denn ich dachte, nun käme es. Aber in spätern Jahren hatte meine Empfindung, bei demselben Anlass, vielmehr etwas dem Schrecken Verwandtes: ich dachte: ‚da kommt’s.‘” Aber hoppla, das könnte auch auf den vorliegenden Versicherungsfragebogen zutreffen! „Waren Sie hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit / Amtes für Nationale Sicherheit, ohne in das Sonderversorgungssystem für Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit / Amtes für Nationale Sicherheit einbezogen worden zu sein (z. B. Offizier im besonderen Einsatz - OibE - / Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter - HIM -)?“ Gibt es wirklich einen OibE oder HIM, der so etwas aufrichtig-reell beantwortet? „Mein Studium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität finanzierte ich durch horizontale Tätigkeit als Romeo bei Sekretärinnen von Entscheidungsträgern unterschiedlicher Bundesparteien ...

Aber die sind ja inzwischen mehr oder minder versorgt oder hängen als Seilschaft in der Eiger-Nordwand. Nur für mich sind die Spitzenkandidatur-Listenplätze der Linken in Niedersachsen gesperrt und kein EU-Sonderbotschafterposten vakant, auch die soziale Hängematte des Exkanzlers Schröder, dessen Jobmaschinen-Idee im Fall GAZPROM zumindest für ihn erfolgreich war, ist verdammt und zugenäht. Doch wozu arbeiten bis zum Umfallen und in Stiefeln sterben? Könnte ich wählen, dann bitte nicht Ballermann 3 auf Mallorca, lieber einen bescheidenen Landsitz am Golf von Neapel mit Meerblick, Swimming Pool, Warmwasserheizung, Neunaugenzucht, Einladung zu den Gastmählern des Trimalchios, eine Kollektion antiker Gemmen und Münzen sowie eine ansehnliche Bibliothek. Denn das Alter ist teuer. Eine Tunika à 15 Sesterzen, ein Pfund Purpur aus Tyros, sie zu färben, 40.000, zwei billige Sklaven 5.048 (teurer sind Lustknaben mit 100.000 Sesterzen pro Kopf).

Zurück zum Fragebogen: „... berufsbezogene Zuwendung an Ballettmitglieder in staatlichen Einrichtungen“ - bei mir höchstens Elefantenballett; „Bezug einer Unfallrente aufgrund eines Körperschadens von 66, 1/3 %“ - geistige Defizite liegen weit darüber (Dunkelziffer); „nach Vollendung des 15. Lebensjahres in den Niederlanden bzw. nach Vollendung des 16. Lebensjahres gewöhnlich in einem der folgenden Länder aufgehalten: Australien, Dänemark, Finnland, Island, Israel, Kanada/Québec, Liechtenstein, Norwegen, Schweden, Schweiz“ - manche Reisen führten zwar dorthin, aber das geplante Trampjahr nach dem Abi fiel aus.

„Wurden Zeiten und Sachverhalte im Beitrittsgebiet zurückgelegt?“ Ein paar, na ja, sagen wir „Sachverhalte“ blieben drüben liegen, die werden später irgendwann geltend gemacht, aber falls die Behörde vom Beitrittsgebiet absehen mag, dann möchte ich die Aufstellung von P. P. O’Neill einreichen. Der berechnete die ungeklärt zurückgelegten Zeiten für das Leben eines 36-Jährigen wie folgt: Geschlafen: 12 Jahre. Baden, Waschen usw.: 4 Monate, 16 Tage, 23 Stunden. Rasieren: 1 Monat, 11 Stunden. An- und Auskleiden: 10 Monate, 15 Tage, 5 Stunden. Haare schneiden: 2 Tage, 12 Stunden. Vor dem Spiegel verbracht: 9 Tage, 3 Stunden. Schnäuzen: 27 Tage, 9 Stunden. Gähnen: 9 Tage, 3 Stunden. Niesen: 22 Stunden. WC: 3 Monate, 18 Tage, 4 Stunden (muss wg. Hämorrhoiden für die Jahre ab 45 ff. hochgerechnet werden). Gegessen, getrunken: 3 Jahre, 3 Monate. Zigaretten anzünden: 8 Tage, 3 Stunden. Erledigungen: 3 Jahre. Und was sonst noch? Gewartet, telefoniert, gefahren, gegangen, geärgert, im Kaffeehaus herumgesessen, geplaudert, herumgesucht, für andere dagewesen, dabei gewesen, vertrödelt, nichts getan, nachgedacht, zwecklose Briefe geschrieben (1 Monat, 4 Tage, 12 Stunden), zum Fenster hinausgesehen, auf die Uhr geschaut, eingekauft, Wohnung aufgesperrt, krank gewesen oder auch nur „häuslich“: macht summa summarum 36 Jahre, 7 Tage und 3 Stunden. Und das bei mir auf zusätzliche 21 Jahre (also noch einmal die Kindheits- und Jugendjahre bis zur Volljährigkeit drauf) anrechnen.

Mit einem Wort: lebenslänglich nur Blödsinn gemacht? Das wollen wir nicht hoffen. Manches können wir Älteren denn doch besser als die Jungen. Volkslieder auswendig singen zum Beispiel. Gedichte aufsagen. Mit der Hand schreiben. Ohne Handy auskommen. Kurkonzerte besuchen. Von Hitler erzählen. Von Willy Brandt erzählen. Eine Amsel von einem Star unterscheiden. Einen Feldwebel von einem Feldmarschall unterscheiden. Sich in Wartezimmern die Zeit vertreiben. Kohleöfen anfeuern. An der Fußgängerampel warten. Sich vom Diktat der Konsumindustrie befreien. Ehrenamtliche Arbeit leisten. „Ach, Kindchen“ sagen. Kaffee kännchenweise trinken. Und im Auto einen Hut tragen.

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


zurück


Home


vor


Valid HTML 4.01!

Interesse? Dann brauchst Du die Zeitschrift!
Also den Folker! preiswert testen mit dem Schnupper-Abo!

Die Kolumne
im Folker! 6/2007