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Zwischen zwei Straßenbahnen

Franz Josef Degenhardt wird 75

Antworten auf die Widersprüche des Systems

go! www.franz-josef-degenhardt.de
Discographie

Zwischen Null Uhr Null und Mitternacht/
   Rumpelstilzchen
(Polydor, 1963)
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

   (Polydor, 1965)
Väterchen Franz
(Polydor, 1966)
Wenn der Senator erzählt
(Polydor, 1968)
Degenhardt live
(Polydor, 1968)
Vatis Argumente/P. T. aus Arizona

   (Sgle; Polydor, 1968)
Im Jahr der Schweine
(Polydor, 1969)
Die Wallfahrt zum Big Zeppelin
(Polydor, 1971)
Mutter Mathilde
(Polydor, 1972)
Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen

   (Polydor, 1973)
Mit aufrechtem Gang
(Polydor, 1975)
Wildledermantelmann
(Polydor, 1977)
Liederbuch - Von damals und von dieser Zeit

   (Live mit Band, Do-LP; Polydor, 1978)
Der Wind hat sich gedreht im Lande

   (Polydor, 1980)
Durch die Jahre - Ausgewählte Lieder von
   1965-1980
(Polydor, 1981)
Du bist anders als die anderen
(Polydor, 1982)
Lullaby zwischen den Kriegen
(Polydor, 1983)
Vorsicht Gorilla!
(Polydor, 1985)
Junge Paare auf Bänken - Franz Josef Degenhardt
   singt Georges Brassens
(Polydor, 1986)
Da müssen wir durch
(Polydor, 1987)
Aus diesem Land sind meine Lieder - live

   (Do-CD; Polydor, 1989)
Wer jetzt nicht tanzt
(Polydor, 1990)
Und am Ende wieder leben
(Polydor, 1992)
Nocturn
(Polydor, 1993)
Aus dem Tiefland
(Polydor, 1994)
Weiter im Text
(Polydor, 1996)
Sie kommen alle wieder - oder?
(Polydor, 1998)
Petroleum und Robbenöl
(Hörbuch, Polydor, 1999)
Café nach dem Fall
(Polydor, 2000)
Quantensprung
(Koch Universal, 2002)
Krieg gegen den Krieg - Ausgewählte Lieder

   (Koch Universal, 2003)
Dämmerung - Zehn Lieder
(Koch Universal, 2006)

Bibliographie:

Romane
Zündschnüre
(Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973)
Brandstellen
(München: C. Bertelsmann, 1975)
Petroleum und Robbenöl

   (Kinderbuch; München: C. Bertelsmann, 1976)
Die Misshandlung
(München: C. Bertelsmann, 1979)
Der Liedermacher
(München: C. Bertelsmann, 1982)
Die Abholzung
(München: C. Bertelsmann, 1985)
August Heinrich Hoffmann, genannt von Fallersleben

   (München: C. Bertelsmann, 1991)
Für ewig und drei Tage
(Berlin: Aufbau, 1999)

Liederbücher:
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

   (Reinbek: Rowohlt, 1969)
Im Jahr der Schweine

   (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1970)
Laßt nicht die roten Hähne flattern
   ehe der Habicht schreit

   (München: C. Bertelsmann, 1974)
Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen

   (München: C. Bertelsmann, 1979)
Reiter wieder an der schwarzen Mauer

   (München: C. Bertelsmann, 1987)
Die Lieder
(Sämtliche Lieder mit Noten und
   Akkorden; Berlin: Eulenspiegel, 2006)

Was damals eine eher ironische Befürchtung war, hat sich inzwischen leider als Prophetie erwiesen: „... dass das bloß solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann.“ Bei aller Zeichnung: Imke Staats Fortschrittseuphorie, bei allem unverzichtbaren Optimismus war Franz Josef Degenhardt stets Realist genug, um die gegnerischen Kräfte nicht zu unterschätzen. Er war der bedeutendste und einflussreichste Sänger der 68er-Bewegung. Dass der dauerhafte Erfolg dieser Bewegung nicht ausgemacht sei, dass ihr Scheitern angesichts der Macht, der Entschlossenheit und der Brutalität ihrer Feinde eine Möglichkeit darstellt, dass also, was Degenhardt und seine Generation als gegenwärtige Realität erleben und mitgestalten durften, eines Tages „bloß solche Geschichten bleiben“ könnte, war dem Liedermacher schon damals bewusst. Heute feiert der Kapitalismus mit grinsendem Gesicht und ohne Maske seinen historischen Sieg. Rücksichten müssen nicht mehr genommen werden.

Von Thomas Rothschild

Franz Josef Degenhardt, der seit den 70er Jahren deutlich machte, dass er mit kritischer Solidarität auf das sowjetische Modell vertraute, steht auch nach dem Zusammenbruch dieses Modells auf dem Standpunkt, die Fehlentwicklungen in der Sowjetunion würden nichts an der Tatsache ändern, dass allein die Existenz einer Alternative den Kapitalismus graduell zähmen konnte. Auch die blutigen Folgen der Französischen Revolution würden - analog - deren historische Bedeutung nicht verringern. Man kann in der Einschätzung der Ausmaße und der Vermeidbarkeit des Stalin’schen Terrors anderer Meinung sein als Degenhardt. Dass die Sowjetunion den Kapitalismus Franz Josef Degenhardt durch einen wirklichen oder einen vermeintlichen Sozialismus vor jener Dreistigkeit zurückschrecken ließ, die er heute an den Tag legt, kann nicht bezweifelt werden.

Franz Josef Degenhardt hält in einer Umgebung der Opportunisten, der Renegaten und der angepassten Schleimscheißer unbeirrt an seinen Überzeugungen fest. Das ist sicher einer der Gründe, weshalb er kaum noch Öffentlichkeit genießt, weshalb die Medien ihn noch mehr als stets schon ignorieren. Wir haben uns ein Schulterzucken angewöhnt, aber genau genommen ist es eine Kulturschande, dass die dafür Berufenen es versäumen, einer nachwachsenden Generation jenen Künstler zu präsentieren, der bis weit in liberale und konservative Kreise hinein zumindest geachtet, jedenfalls aber goutiert wurde. Denn Franz Josef Degenhardt hat über Jahre hinweg wie kein Zweiter die kollektiven Stimmungen und Debatten in der Bundesrepublik Deutschland artikuliert. Degenhardt hat bekanntlich auch Romane geschrieben. Hier ist von dem Liedermacher die Rede, und seine Lieder haben den Vorteil der Verknappung, der Reduktion einer Aussage auf wenige Minuten.

Zeitgenosse der Studentenbewegung

Schon auf seiner ersten LP Rumpelstilzchen von 1963 [zunächst erschienen unter dem Titel Zwischen null Uhr und Mitternacht; Anm. d. Red.] - er war damals noch Assistent für Europäisches Recht an der Universität Saarbrücken - übte Degenhardt Sozialkritik. Er nannte seine Lieder „Bänkel-Songs“ und verwies damit auf zwei maßgebliche Traditionen: den plebejischen Bänkelsang, den Vortrag gesungener Geschichten auf Franz Josef Degenhardt 1964 Jahrmärkten einerseits und den Song, wie ihn Bertolt Brecht in seinen Stücken auf die Bühne gebracht hat, andererseits. Das war neu in der deutschen Nachkriegskultur, das war aufregend und faszinierend, wie einer da zur Gitarre vortrug, was er selbst getextet und komponiert hatte. Fast noch wichtiger als der Bänkelsang und Brecht oder gar der damals in Westdeutschland totgeschwiegene Ernst Busch war für den jungen Degenhardt die französische Tradition des Chansons, allen voran Georges Brassens. Von ihm übernahm Degenhardt sowohl die poetisch gezähmte anarchische Haltung wie auch das intime Understatement im Vortrag. Das ist dem Pathos eines Ernst Busch geradezu diametral entgegengesetzt. Man könnte die These wagen, dass Busch noch den Code der Arbeiterbewegung aus der Weimarer Republik in die Nachkriegszeit herübergerettet hat, während Degenhardt ein Zeitgenosse der Studentenbewegung ist, also vor einem eher intellektuellen Publikum auftrat und dieses, jedenfalls zunächst, auch als das nächstliegende revolutionäre Subjekt begreifen durfte.


FRANZ JOSEF DEGENHARDT
Dämmerung - Zehn Lieder

(Koch/Universal 06024 9878127)
10 Tracks, 44:53, mit Texten

Warum soll der Sänger an der Lebensneige stumm bleiben? Sein brüchiger, zweifelnd-zögerlicher Vortrag verleiht den Liedern mehr Überzeugungskraft denn je, die Finger wollen nicht mehr recht, mitunter schnarrt der Bundsteg, das Mundharmonikaspiel weht von fern herein wie der Klagelaut eines traurigen Vogels. Das Altern als Problem hat dieser Künstler, der sich mit 36 kokett „Väterchen“ nannte, schon zeitig thematisiert. Sein Schaffen hat er (wie Brecht bei Durchsicht seiner Frühen Stücke oder wie Hesse, der den „mittleren“ Degenhardt wohl einen „Unentwegten“ genannt hätte) in ein ungeliebtes Früh- und ein authentisches Spätwerk eingeteilt. Darin wimmelt es von Vatis, Tantengreisen und bejahrten Notaren und Senatoren. Hier tritt die revolutionäre Matriarchatsgestalt von einst nur als bei Bauarbeiten nach Jahrzehnten aufgefundenes Skelett auf („Sie ist in den Wald gegangen“), und „Onkel Allbright“, ein Alter Ego des Väterchens, ist aus dem Seniorenheim entwichen und verbringt seine letzten Lebenstage in der Beobachterrolle am Fenster. Die Generationenfrage war die Frage seiner Generation, doch war Degenhardt den rebellischen Studenten um eine entscheidende mehrjährige Spur voraus. Nun wendet er sich also den Klassikern zu, im Doppelsinn: Horaz, von Karl Marx annotiert, wird in kumpelhafter Verbrüderung vom einstigen Todfeind zurückgegeben („Dämmerung“), Greisenlust in Peter-Hacks-Versen von reichlich verjährter Potenz mit frühneuzeitlichen Kirchenliedmotiven verschränkt („Du sollst mir nichts verweigern“). Auch Oskar von Wolkenstein und ein frühwandervogeliges Tramperlied von Werner Helwig finden sich unter den Reminiszenzen. Ein surrealer anachronistischer Zug, der einem Alptraum entstammt, bildet den verstörenden Schluss („Traumritt“); Vergleichbares hat man von Degenhardt kaum gehört, es gleicht dem Erstling vom Wirtshaus zu den drei Kugeln, die ein geheimnisvoller Fremder rollen lässt, um alles Elend über die Welt zu bringen. Diese von Kai Degenhardt und Goetz Steeger hervorragend produzierte, geschmackvoll und bescheiden ausgestattete CD hat das Gewicht eines letzten Worts - und wird es doch hoffentlich nicht bleiben.

Nikolaus Gatter

 


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im Folker! 6/2006