Noten ohne Quoten
Eine Stimme für das deutschsprachige Lied
von Nikolaus Gatter
Ein Geheimtipp aus dem Liedermacher-Samisdat der Jahrtausendwende war der
Anarcho-Älbler Johannes Christ, genannt GOISSAHANNES, Voll em Doig
(www.goissahannes.de, 14 Tracks, 53:37, mit Texten). Im knorrigen
Brutalstschwäbisch widmet er den Außenseitern und Gestrandeten
überschnappend-jubelnden Countryfolk und todesschwermütigen Blues, während
er seinen Landsleuten das Motto „schaffe, schbaara, noo farregga“ unter die
Nase reibt. - Grantliger noch ist das ebenso klampffreudige Livetalent
WEIHERER, Wia Nix (www.weiherer.com., Conträr/Indigo 51, 17
Tracks, 61:01, mit Texten); manchmal gfreut’s ihn gradezu, auf der Bühne
zu stehen. Mit Vaterländerei und Muckertum mag er sich nicht abfinden, doch
solidarische Gesinnungsschunkelei darf man von diesem Widerborst und
Einzelgänger nicht erwarten. - Man sollte viel mehr auf Kontrabassisten
hören, die dem sacht plätschernden Sound swingenden Widerpart geben: Zwar
ist das SPARDOSEN-TERZETT, Neues aus Vogelheim
(www.spardosen-terzett.de, Roofmusic/Indigo/Eichborn RD 2633271, 15 Tracks,
50:12, mit Texten) die Hausband von Wiglaf Droste, doch dem reicht Kai
Struwe als Texter von Sarkasmoschlagern und Floskelcollagen allemal das
Weizenbier. Die Arrangements leicht und flockig, der Humor wie beim
Droste-Preisträger bissl mono-tönig (wird die immer gleiche Stelle
gekitzelt, bildet sich Hornhaut). - Der hedonistischen Widmann-Kultur ist
das Bonner Langzeitstudentenduo Schult & Brandi verpflichtet; unter dem
Namen POSITANO, Mehr (www.posiversum.de, Posiversum Records, 18
Tracks, 41:54) besingen sie mit mehr Klampfenergie denn Stimmkraft
Marktwirtschaft, Freizeitträume und die nonverbal überzeugende
„schöne“ Globalisierungsgegnerin. - Den Reinhard-Mey-Ähnlichkeitswettbewerb
gewinnt MARTIN SOMMER mit sanften, manchmal arg jubilierenden
Chansons (www.martin-sommer.net,
Müller-Lüdenscheidt-Verlag/Conträr/Indigo 4 015698 612028, 14 Tracks, 50:24,
mit Texten): „Hahn abdreh’n“ überdreht zwar die Metapher, überzeugt aber
als Politsong in Arrangement und Aussagekraft; „Betrunkene Krieger“ ist ein
schönes Beziehungskisten-Duo mit Luise Enzian. - Der kreativste unserer
Liedermacher nimmt sich wieder der proletarischen Verzweiflungslyrik seines
Lieblingsdichters an: WENZEL singt THEODOR KRAMER Vol. II, Vier Uhr
früh (www.wenzel-im-netz.de, Conträr 6963-2, 15 Tracks, 46:19, mit
Texten). Nicht bitter wie Mühsam, nicht satirisch wie Tucho oder
allegorisch-parteilich wie Brecht, wäre der Österreicher ohne solche
Belebungsversuche heute nur wenigen ein Begriff. Wenzel gibt ihn im zarten
Volkston mit Akkordeon, Bläsern, Maultrommel und gar jodelnd („In schwerer
Stunde gehen ...“). Wo fänden Max Herrmann-Neiße und Jakob Haringer einen
solchen Anwalt? - Noch drei Österreicher: Als Sprechsteller zu
nachtprogrammtauglichem Schwallsound macht LUDWIG HIRSCH, In Ewigkeit
Damen den Hof (www.universalmusic.at, Universal Austria/amadeo
602498771730, 13 Tracks, 46:10, mit Texten); mit Adelheit, Berta,
Claudia und Desireh beginnend, kriegt er das Alphabet wohl erst auf der
nächsten CD voll. - Die Jelinek des Austriakenrocks heißt Birgit DENK,
ihre CD Laut (www.bdenk.at, Universal Austria/amadeo 9876467,
13 Tracks, 57:01, mit Texten); fröhlich-freche Songs artikulieren mit
rollender Stimmgewalt weibliche Widerstandsästhetik, ungehemmte Lebensgier
und sarkastischen Defätismus („Campari Plakat“). - Wer die Konzertkarten hat
verfallen lassen, greife zur mehrstündigen Liveeinspielung von GEORG
DANZER, Gute Unterhaltung (www.universalmusic.at, 2 CDs,
Universal Austria/amadeo 987 862-3, 21 Tracks, CD 1: 73:00, CD 2:
69:28); die nikotinzerfurchte, zunehmend weinbeschwerte Skilehrerstimme
muss man allerdings mögen, um die in voller Länge stehen gelassenen
Zwischenmonologe zu goutieren. - Grüß mich nicht Unter den Linden, schönes
Kind? Aber nicht doch, Herr Heine, CORINNA SIMON trifft RIEDELLIEDER,
Neues aus Eichendorff (www.neues-aus-eichendorff.de, Animato ACD6090, 12
Tracks, 35:01, mit Infos). In diesem, dem derzeitigen Neu-Biedermeier
allzu nahe liegenden Dorf wird Kunstlied vom Feinsten gepflegt:
verständliche Artikulation, schick designtes Beiheft; allerdings fordern
bräsige Vertonungen von Philipp Riedel, der brav die tonalen Tonleitern rauf
und runter phrasiert, dem Farbenreichtum der Vokalistin wenig und den
Gedichten gar nichts Neues ab. - Als glaubwürdiges Lennon-McCartney-Imitat
mit deutschen Texten präsentiert sich auf seiner zweiten CD der „fünfte
Beatle“ FINN RITTER, In Farbe (www.finn-ritter.de, Hörrausch, 12
Tracks, 49:37, mit Texten): dem lauschenden Grufti beschwört sein
Retrosound liebe Erinnerungen herauf, ans Bluestanzen („Alles, was ich
weiß“) oder an den letzten Deutsche-Welle-Reiter aus Gütersloh („Eine ganze
Weile“); die Texte weder überkandidelt noch aufgegagt, mehr Sprachartistik
und Mut zum Experiment, dann könnte daraus noch was werden.
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