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Noten ohne Quoten

Eine Stimme für das deutschsprachige Lied

von Nikolaus Gatter


Seit seinen Makaberprogrammen kannten wir ihn als miesepetrigen Grantscherben und wissen jetzt, warum, denn AMBROS singt MOSER, Der alte Sünder - mit dem Ambassade Orchester Wien (home base CD 250401, 15 Tracks, 50:11, mit Texten). Urplötzlich artikuliert er in forschester Bühnen- und Hochsprache Schmachtfetzen wie: „Hallo Dienstmann! Die Welt ist so schön und die Welt ist so reich! Es wird a Wein sein ...“ etc. Ein „norddeutscher Tourist“, dessen Performance dem Wolferl nicht passte, gab Anlass zu diesem Rettungseinsatz für Hans Moser. Das hätte nicht so kommen müssen. Reisende, meidet Tirol! - Als Sympathieträger für die Turnschuhwerbung würde der Saarländer MARCEL ADAM, Starke Frauen (LEICO 8655, 17 Tracks, 60:18, mit Texten) einen eher unvorteilhaften Eindruck machen; indessen ist seine musikalische Physiognomie topfit und vielseitig. Den Frauen, seien sie „stur wie e Schaufenschderpupp“, „hibsche Giftzwersch“ oder „wie e Mudderkatz“, widmet er teilnahmsvolle Loblieder. - Zwei zum Preis von einer bieten GERD KÖSTER/DIERK RAULF, Nox - Gabelfrühstück (poise 13 A/B, 9 Tracks, 69:08, mit Texten; Bonus-CD: 15 Tracks, 65:16). Sozialsurrealist Köster, ein Selbstmordattentäter des Salons, dem die Buttersäure ausgegangen ist, hat im eher konservativen Reimeschmied Raulf einen kongenialen Ko-Songwriter gefunden. Während Köster mit dem Trotz und der Resignation der Schlechtweggekommenen gegen die verdüsterte, freudlose Endzeitstimmung ankrächzt, lässt Raulf das Saxophon mal schmeichelsanft wie ein Nachtprogramm zu Mulligan’s Wake, mal schräg wie die Kindertröte einer kranken Heilsarmee wimmern. - Wie von weit her, aus bündisch bewegter Zeit klingt’s bei PANKRAZ, Hundsrose (Conträr Musik LC 04664, 15 Tracks, mit Texten). Nach abgeklungenen Geburtswehen heißt es nun, ohne Hebammerich Bernie Conrads (nur auf „Abendlied“ vertreten) auszukommen. Nicht überall bescheidet sich Bandleader Thomas Frimel mit der freiwilligen Schlichtheit, die sein Markenzeichen ist. Von Klischees strotzend und zu haspelig gesungen ist z. B.„Schwarzes Haar“. - „Komm, wir werden Barbaren“, hat sich Pankrazens Kontrabassist Jörg Isermeyer mit SONG X, Cowboys müssen reiten (www.ab-dafuer-records.de, 19 Tracks, 70:27, mit Texten) vorgenommen und protestiert damit u. a. gegen „We Shall Overcome” im Bundeswehr-Liederbuch. „Musik für ungedrehte Filme” bietet die aufhorchenswerte Produktion, und einen verschämt als „vielleicht ein wenig kitschig” abgetanen Frühling in Paris als Hoffnungsschimmer. - DIE ROTEN RÜBEN, Herz+Schmerz+Popsalat (www.dierotenrueben.de, 12 Tracks, 46:43, mit Texten) servieren schwungvollen HipHop als Auftakt; weiter geht’s mit ausgefeilten Bläsersätzen, Akkordeon und Mandoline. Die nachdenklichen, nie schwülstigen Texte schreibt Schlagzeuger Rainer Wittmann, z. T. mit einem Philipp gleichen Namens, der als Multiinstrumentalist die Band leitet. - Offenbar glauben DIE SIEBEN LEBEN, Jeder weiß bescheid (Löwenzahn/Buschfunk HD 20063, 15 Tracks, 68:18, mit Texten), jedenfalls was ihre Filiation von den Bierfiedlern betrifft. Klangvoluminöser als diese rocken und covern die Herren Doberenz und Wagenbreth weiter, gern hart am Schlager entlangschrappend. Aber die Koffer werden für Köln gepackt, nicht mehr für Wuppertal, und Jugendsünden wie „Und nichts nachher“ im Slow-Country-Stil entkitscht. - Dicke Männer wollen tanzen, behaupten ELLINGER, Applaus (www.ellinger.net, 12 Tracks, 54:24, mit Texten), die mit Stoppok und den Schandmäulern kooperieren, was leider keinen Niederschlag in den banalen Lyrics findet. Auswechselbar wie mit Randomtaste ist auch die Musik, die dem Geschilderten selten entspricht (wenn es in „Warum“ heißt, „Ich sing ein Lied, fang es in Dur an, es endet wieder in Moll“ - warum tut man’s dann nicht?) - Selma Meerbaum-Eisinger fand mit 18 in einem deutschen Arbeitslager den Tod; man liest nicht unbewegt, wie ihr lyrisches Jugendalbum auf abenteuerlicher Flucht von Rumänien nach Palästina gelangte. Ein Dutzend Gedichte wurden vertont und eingespielt von WORLD QUINTET/DIVERSE, Selma - In Sehnsucht eingehüllt (voice of joy VOJ 3450, 12 Tracks, 54:53, mit Texten). Doch was an dieser Lyrik künstlerisch tief und anrührend sein mag, wird seicht und platt, wenn es von Schöngeistern des Showbusiness aufgesteilt, von Klarinetten hochgejodelt, von Streichern überschwallt wird. Reinhard Mey bringt wenigstens „Abend I“ zu karger, trockener Klavierbegleitung; aufregender inszeniert ist ein „Stefan Zweig“ betiteltes Gedicht, das Thomas D. spricht. - Ein neuer, vierter Meilenstein auf der Wegstrecke durch das schier unüberschaubare Massiv des Gebirtig-Oeuvres ist MANFRED LEMM & ENSEMBLE, Majn cholem - Mein Traum (Edition Künstlertreff EK 171065, 19 Tracks, 49:51, mit Texten). Mag mancher artistischer und individueller singen, als werktreuer Dokumentarist ist Lemm die beste Vorhut für den Großmeister des jiddischen Lieds. Im Krakauer Rundfunkstudio scharte er nun auch polnische Musikerinnen und Musiker um sich. Diese unermüdlich-selbstlose Arbeit verdient desto mehr Bewunderung, als sie das untergegangene jüdische Europa vor dem Verstummen bewahrt. - Jetzt kommt DODO HUG, Via Mala - Schwarze Lieder, Detective Songs & Canta Di Malavita (Zytglogge ZYT 4585, 18 Tracks, 63:52, Texte in Auswahl) auf die Räuberballade, alternativ zur maskulinen Leipziger Folksession 2 (1999) aus weiblicher Perspektive! Doch freut man sich des Wiederhörens mit Machos wie Matter, Gainsbourgh, Biermann („Stillepenn-Schluff“) und Holländer („Kleptomanin“). Souverän meistert sie jeden europäischen Folks-Ton und alle möglichen Fern- und Nahsprachen (nur Kreislers vergiftete Tauberln bereiten merkliches Zungenbrechen). - Zweisprachig Französisch-Deutsch präsentiert sich SERA, Ménage À Trois (Banana AC 50204, 12 Tracks, 50:23, mit Texten), aber Kristine Wallé haucht, tremoliert, gitscht, flüstert und lässt nicht mehr ab vom Manierismus, die Gitarrengrundierung bleibt faserig-monoton; eine reichlich sterile Dreiecksbeziehung. - Reminiszenzen an Liedermacherlust und -leid bietet der Titel „Für Würstchen mit Cola“ auf DISTANT FRIENDS, More Friends (www.distant-friends.de, 16 Tracks, 62:11, mit Texten), mit denen Klaus Hendler an den angriffslustigen „Fahrradmescalero” von einst anknüpft. Heut’ wohnt er im Elsass und schreibt mit dem (oft in Übersee weilenden) Folkie Manfred Malzahn heiter-selbstironische, mit Uschi Kopp und Rainer Schielin kraftvoll intonierte Songs in Deutsch und Englisch. - Furchtbar eilig haben es WORTFRONT, Lieder eines postmodernen Arschlochs (www.wortfront.de, 13 Tracks, 48:09, mit Texten) mit „Ich brauch’ Zeit“, denn sie haben anscheinend keine, so atemlos werden im gerappten Stakkato überlange Texte von z. T. ermüdendem Abstraktionsgrad und genialem Reimfallsreichtum („Pestschwiele/Festspiele“, „Backbord/Sack fort“ u. dgl.) vorgetragen. - An ganz langer Leine gondeln dagegen DIE STROTTERN, Me ois gean (Preiser PR 90556, 11 Tracks, 51:38, mit Texten) sozusagen mit Zwischengas durch verkehrsberuhigte Schleichzonen (den pizzicato-Auftakt zu „So angetan“ stelle ich mir als Endlosschleife bei der Lebendbegrabenen-Hotline des Wiener Nationalfriedhofs vor). Verstehgeiger Klemens Lendl fiedelt unter vorbildlicher Einsparung von Spielenergie und serviert mit versoffenem Parlando die subversiv-lethargischen Weisheiten des Band- und Alltagspoeten Ahorner („A schüdgrot schnölla rennan kaun / ois a schweindal aus maazipan“); Gitarrist David Müller trifft ohne zu „hatschen“ das dritte Viertel des Walzertakts. Mehr davon! - STILLER HAS, Geisterbahn (Sound Service 250306-2, 11 Tracks, 59:16): Von der Schwarzen Kunst beim Druckerei-Betriebsfest bis zur Blutwurst im vampireigenen Kühlschrank werden diesmal Spukmotive durchdekliniert. Lest Dütsch, der Eno-Anaconda-eigene Mischdialekt ist mit hochdeutschen Inhaltsangaben im Beiheft kaum nachvollziehbar.

... außerdem eingetroffen:

  • HÄDER BÄND, Exbluesiv (www.manfred-haeder.de, 14 Tracks, 58:31, mit Texten)
  • SEBASTIAN KRÄMER, Schule der Leidenschaft (Roof/tacheles! RD 2633266, 19 Tracks, 55:40
  • SEBASTIAN KRÄMER/MARCO TSCHIRPKE: Ich ’n Lied, du ’n Lied (Reptiphon, 29 Tracks, 45:21)
  • LÜÜL, Zeitreise (Grundsound/Indigo CD 6674-2, 17 Tracks, 70:56, mit Texten)
 

AMBROS - singt MOSER, Der alte Sünder

MARCEL ADAM - Starke Frauen

GERD KÖSTER/DIERK RAULF - Nox - Gabelfrühstück

PANKRAZ - Hundsrose

SONG X - Cowboys müssen reiten

DIE ROTEN RÜBEN - Herz+Schmerz+Popsalat

DIE SIEBEN LEBEN - Jeder weiß bescheid

ELLINGER - Applaus

WORLD QUINTET/DIVERSE - Selma - In Sehnsucht eingehüllt

DODO HUG - Via Mala

SERA - Ménage À Trois

DISTANT FRIENDS - More Friends

WORTFRONT - Lieder eines postmodernen Arschlochs

DIE STROTTERN - Me ois gean

STILLER HAS - Geisterbahn


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im Folker! 4/2006