back Ferner liefen...

Während ich auf den Paketboten warte - einen Salzstreuer aus dem 16. Jahrhundert habe ich spottbillig bei E-Bay ersteigert -, kann ich euch rasch die Geschichte vom Magister Tinius erzählen. Paul Gurk widmete ihm anno 1937 ein Bühnenstück, Detlef Opitz einen phantasievoll recherchierten Roman (Der Büchermörder, Frankfurt a. M.: Eichborn, 2005). Johann Georg Tinius (1764-1846) war der Sohn eines Schafhirten in der Niederlausitz, der es durch Fleiß und Begabung zu einem Studienplatz in Wittenberg, zur Dozentur ebenda und schließlich zu einer Pfarrstelle im Sprengel Poserna bei Weißenfels brachte.

So sehr liebte er die Bücher, dass er sie mit fanatischem Eifer sammelte. Nicht weniger als 31.473 Bände hat er laut Gurk zusammengerafft, nach Opitz möglicherweise bis zu 60.000: „... die Bibliothek des Magisters erstreckte sich über fünf Gemächer - über das ganze Obergeschoss. (Und noch in der Scheune lagerten behelfsweise ganze Posten, ganze Stapel an Büchern.)“ Immerhin wurden die Antiquariatsrechnungen ordnungsgemäß beglichen. Aber wie konnte sich Ihro Merkwürden dieses Hobby bei den schmalen Klingelbeuteleinkünften überhaupt leisten? In Leipzig wurde er bald zweier abgefeimter Raubmorde bezichtigt - wegen einem, bei dem eine 75-jährige Witwe mit der Axt erschlagen wurde, hat man den hartnäckig leugnenden Bibliomanen 1823 rechtskräftig verurteilt. Die Pfarrei war ihm bei Antritt der Untersuchungshaft 1814 entzogen worden, seine Bücher versteigerte der Gerichtsvollzieher (auch Goethe hat einige Stücke erworben).

Lichtenberg beschloss eine Rezension mit den Worten, wer zwei Hosen habe, solle eine zu Geld machen und dieses Buch kaufen. Der moderne Tinius ist Germanistikprofessor und Lichtenberg-Experte; er kauft und liebt keine Bücher, sondern macht sie zu Geld, um sich schicke Hosen leisten zu können. Er braucht nicht die Axt zu schwingen, sondern füllt den privilegierten gelben Dozenten-Leihzettel aus, mit dem man manches länger behalten darf, als es anderen Benutzern lieb ist - notfalls, bis die Leihgaben auf Nimmerwiedersehen verschwinden. 105 Folianten aus dem 17. und 18. Jh. im Gesamtwert von 250.000 Euro gingen der Universitätsbibliothek Bonn seit 1988 verlustig, und baute man dort nicht ein neues Magazin, so wär’s vielleicht gar nicht ans Licht gekommen. Ein wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Seminar war’s. Er hatte bei einem stockkonservativen Barockforscher habilitiert und erhielt nach der Wende, wie sich’s gehört, den Ruf nach Rostock, wo er zurzeit noch als geschäftsführender Direktor des Instituts für Germanistik amtiert.

In den Bonner Regalen hatte der Raffzahn olle Scharteken vom Flohmarkt als Platzhalter hinterlegt, seine Beute (anders als Tinius) jedoch nicht behalten, sondern ungerührt versteigern lassen - 85 Exemplare, darunter ein Werk Johannes Keplers von 1625. Und jetzt der Clou: Der Mann ist 50, sein Infotainment bei Studenten beliebt (Henscheid-Seminare in Bonn waren hoffnungslos überfüllt), und im Zweitberuf: Liedermacher! 1976 spielte er beim Nürnberger Bardentreffen als einer der zwei meistphotographierten Festivalteilnehmer, engagierte sich in der AG Song und bereicherte 1980 ihr 21. Treffen in Aachen mit antigermanistischen und -gewerkschaftlichen Liedern („Wilhelmine Meister“, „Funkti, Funkti“). Als im Herbst 2002 erneut Bücher der UB Bonn bei einer Auktion im Taunus auftauchten, ließ sich die Herkunft nicht länger vertuschen. Der Professor hätte sie besser unter Deckadresse bei E-Bay vertickt! Seine Wohnung wurde durchsucht, der Polizei legte er u. a. für Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels gefälschte Quittungen vor, zog noch einen Bekannten in die Betrügereien hinein und stritt bis zum Schluss alles ab. Der Bibliothekar in Bonn, der den Fall aufgedeckt hatte, bekam sogar noch eine Anzeige wegen Verleumdung.

Wo man singt, da lass dich ruhig niederschlagen, Bücherdiebe mögen keine Zwischenfragen. Aber schließlich kam doch alles vors Bonner Amtsgericht. Der Angeklagte schwieg beharrlich wie Tinius, bis er am vorletzten Verhandlungstag seine „abscheuliche Tat“ doch noch gestand. 18.000 Euro legte er als freiwilligen Schadenersatz auf den Tisch, ohne auszupacken, was er denn alles hat mitgehen heißen. Das Urteil: 18 Monate auf Bewährung und damit Verlust der Beamtenstellung. Der Professor will in Berufung gehen. Lindern akademische Titel das Strafmaß? Magister Tinius bekam in zweiter Instanz zwölf Jahre Zuchthaus (zuzüglich zur U-Haft); damit erging es ihm immer noch besser als dem Rostocker Studenten Johann Christoph Castritius, der 1611 wegen Diebstahls zum Tod durch den Strang verurteilt und gehenkt wurde: ein Vorgang, zu dem der Professor einmal die Flugschrift in der UB Rostock lesen sollte, Signatur MK-5141, 5141a, Kl-197(12.9), aber bitte die Rückgabe nicht vergessen.

„Bücher werden jünger und strahlender, je älter sie werden“, wird Tinius in Gurks Drama zitiert. Künftig verheißt die „Kulturklappe“ eine probate Lösung; funktioniert wie die „Babyklappe“ - Voraussetzung ist allerdings, der Betreffende hat außer dem Kunstwerk noch ein schlechtes Gewissen. Gibt es seit vorigem Jahr in Wien, demnächst in Köln, wo die Ganovenehre so weit geht, dass Ausbrechergenie Schäfers Nas einst einem Spießgesellen Kirchenraubgut abknöpfte und der Polizei übergab („Im Dom kläut mer nit“). Initiator der Kulturklappe ist das Art Loss Register (ALR), eine weltweit operierende Datenbank zur Rückerstattung vermisster Kulturgüter. In der Wiener Komplexannahmestelle fand sich u. a. die 2003 aus dem Kunsthistorischen Museum entwendete „Saliera“ des Cellini, allerdings nur als Nachbildung aus goldbepinseltem Knetgummi: Neptun mit Dreizack und Salzschiff, Terra mit Pfeffertempelchen. (Das Original soll der Alarmanlagenbauer, der im Suff auf ein Baugerüst kletterte, aus der Vitrine geholt und im Wald vergraben haben. Dass es aufgefunden wurde, ist bestimmt nur ein Gerücht, um den Volkszorn zu beruhigen ...)

Die 40 in Wien eingeworfenen Werke werden auf internationalen Museumsmessen gezeigt. Das heißt für Künstler/-innen, Schreiberlinge, Musikschaffende: Halt die Klappe für eine Stufe auf der Leiter zum Ruhm! Schließlich lässt sich die (unten gepolsterte) Kohlenschütte außer mit Ölbildern und Skulpturen auch mit seltenen Erstausgaben, Videobändern, CDs aus Kleinstauflagen und dergleichen mehr befüllen. Nicht vergessen: Selbstbezichtigungen mit „abscheuliche Tat“ usw. fälschen! Warum nicht selber in die Tiefe springen, als Performancekünstler? Und was als gestohlen gemeldet ward, ist per definitionem erfolgreich, und wer will da noch ... - Moment, es klingelt. Ach ja, der E-Bay-Paketbote. Also, bitte mitzählen - drei, zwei, eins, meins! Juhuu!

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


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Die Kolumne
im Folker! 2/2006