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Noten ohne Quoten

Eine Stimme für das deutschsprachige Lied

von Nikolaus Gatter


„Da hängt man neun Monate im Studio herum”, klagte Diane Keaton kürzlich, „bis eine CD geboren ist; jedes Lied wird hundertmal aufgenommen und dann frickeln sie alles zusammen, nehmen diesen Ton von da und den von dort.” So viel Mühe macht sich die hier versammelte Bardenzunft nicht; manche stellen, wenn sie die Bühne betreten, einfach den Recorder an, wie z. B. MARIUS JUNG FEAT. TILL KERSTING: Schau einfach nicht hin (tacheles!/ROOF RD 2633259, 20 Tracks, 47:22). Als Parodist, Entertainer und Schlagerimitator ist der afrokölsche Jung brillant, sein Sangestalent nach dem Potpourri aus Anspielpröbchen (wie „Qualtingers Jukebox“) schwer zu beurteilen. Eine mit billigen Negerwitzen (und -definitionen aus Biologiebüchern) angereicherte Nummer zieht die versammelte Betroffenheit genüsslich durch den Kakao; bessere Lacherfolge erzielen die ausgegrabenen Sixties-Übersetzungen bekannter Popsongs. - Vielleicht widmet sich Jung einmal der stets kuriosen Erfolgskombination „Neger und Bayern”? Sie fehlte nicht mal bei RINGSGWANDL: Alte Reißer. Verreckte Geschichten (Lawine Sony/BMG 82876 69923 2, 25 Tracks, 64:21), dessen neue CD allerdings fast nur Ansagen und Zwischengags bringt. „Lernt Bayerisch mit dem Orthopäden“, das mag noch angehen; eine Aneinanderreihung lederner Witze über die Genealogie von Doppelnam-Bindestrich-Frauen („Hummelbrunnerova”) nervt. Was beim Feinschnitt an Liedern drinblieb, darunter zwei Schlager, ist kaum der Rede wert. - Wenn schon Conférence, dann her mit MICHAEL KREBS: Vom Wunderkind zum Spätentwickler (Conträr 6348-2, 16 Tracks, 50:16). Zu schwäbischen Menüfolgen und Sauigeleien von Heinz seinem „Ding” spielt er Klavier wie sein Vorbild Clayderman, wobei er live und vor Ort Zuschauerin Christina anbaggert (zum Publikum gewandt: „Könnt ihr euch so lange irgendwie in Gruppen beschäftigen?”). - Kaum intoniert Krebs als Mann die Roten Rosen der Wilden Hilde, schon suchen andere gleich Familienanschluss, nämlich IRMGARD KNEF: Die letzte Mohikanerin. Jazz-Chanson-Kabarett von und mit Ulrich Michael Heissig (Con Anima Ca 26555, 22 Tracks, 78:10). Die Rolle der verkannten Schwester der Filmdiva hat sich Heissig, nicht ohne juristischen Beistand, verblüffend echt anverwandelt; er gibt auch sehr glaubwürdig „Annika Rökk”, „Clara Leander” u. a. m., einschließlich reifer Chansons wie „Mein 80. Geburtstag” - und das mit jugendlichem Schwung! - Ihrer Jahrgangsstufe treu blieb ANNETTE KRUHL: FRAUEN sind auch nicht besser (www.annettekruhl.de, 26 Tracks, 74:21, mit 4 Texten). Sie setzt mit guttrainiertem Timbre auf komplexe Melodien und kann bestimmt am schnellsten von allen einen Satz mit „erotische Spannungen zwischen uns” sprechen. Allerdings wird sie permanent von ihrer Therapeutin unterbrochen und lässt Publikumsdialoge nicht weg, nur weil sie live misslungen sind („Männergärten“). - In seinem Stammlokal, vielleicht um den Deckel abzuarbeiten, rockt KURT OSTBAHN: Höchste Zeit. Ein Abend im Gasthaus Quell (Universal/amadeo 9875543, 13 Tracks, 63:48, mit Texten). Routiniert-erdigen Austriakenblues spüin ist immer noch besser als Geschirr; der Tontechniker wird allerdings hochgermanisch herumkommandiert. - Bleiben wir in Österreich und wechseln in schallgedämpfte vier Wände zu GEORG DANZER: Von Scheibbs bis Nebraska (Universal 987348 5, 13 Tracks, 53:46, mit Texten). Der alternde Macho gefällt sich in Stahlhelmpose („Blumen in der Hand - Kosovo, Mai 2005”) und wäre wohl selbst, wie sein Scheibbser Wachtmeister, gern als US-Cop unterwegs, um Verkehrssünder aufzuschreiben. Sein Feierabend ist ihm auch als Bühnenarbeiter heilig („I geh ham”); die nicht zu verscheuchende Melancholie durchtränkt selbst flottere Songs wie „Dann gehts ma guad”. - Nicht nur Danzer („Piercing in Gmunden”) erregt sich über Durchstechereien der unbegreiflichen Jugendmode, auch DIETER HUTHMACHER: Guck (merkton/rough trade MER 890 340, 12 Tracks, 43:10) in seinem Zweitfrühlingslied aufs „Klärle”, die den verliebten Gruftie am imaginären Nasenring führt. Seine beschaulich-erbaulichen Schwabenschwänke sind gewiss nicht leicht zu artikulieren, zumal im hübschen „Wenn i wellt” sämtliche Hilfsverben im Potentialis durchkonjugiert werden. - Ist ein Textdichter namens BORIS STEINBERG: Von Sommergold und Winterblau (duophon/Zapp records 03 40 3, 10 Tracks, 43:27), der „den Rückwärtsgang” im „Grauton deines Lebens” suchen lässt und bei dem „die Nacktheit des Moments alles einsam” macht, noch ganz dicht? Oder plagt ein „Riss, der sich durch meinen Körper schleicht”, auch sein Hirn? Die Gleichnisse sind mitnichten „Lichtpunkte im ewigen Schein”, vielmehr trübe Funzeln im ästhetischen Nebel, durch welchen Doc Flo als Arrangeur den schlingerigen Gesang mühsam um schiefe Klippen zu steuern sucht. - Mit schön gestrichenem Kontrabass, Schlagzeug, Akkordeon und reichlich Gundermannschem Pathos gewappnet, klampft sich RALPH SCHÜLLER & BAND: Grüße aus Bad News (Löwenzahn/R. U. M. Records LZ 20053, 15 Tracks, 63:50, mit Texten) durch den Alltag. Auch er metaphorisiert im beleidigten Tonfall des verkannten Junggenies, das man eine ganze Stunde und mehr nicht aushalten mag. - Eine „unnachahmliche Bühnen-Performance”, die RAINALD GREBE & DIE KAPELLE DER VERSÖHNUNG: ohne Titel (WortArt 780 84, 13 Tracks, 61:11) zum „Uruhrenkel [!] des Dadaismus” (Waschzettel) befördern könnte, ist auf der CD nicht nachzuvollziehen. Der abgeklärte Humor von schalster Frankfurter Schule mit einem Schuss Lassahn reicht hin, die Ödnis von Bielefeld bis Brandenburg zu verulken und prominente Medienfifis ins Waderl zu beißen. Am Ende ein überlanges pubertäres EkelfEtenlied. - Küsst ihn die Aphrodite, tanzen seine Phantasien im Abendrot („geil”), so singt RUDI TREIBER: treibsand (eliza musik em 200505, 14 Tracks, 55:37, mit Texten) zu stumpfem Heavy-Metal-Gehämmer, mal hochdeutsch, mal austriakisch mit englischen Knubbeln („Alpenseeligkeit”), zum Großteil aber Plattitüden („irgendwie ist da immer ein Weg”). - Nicht nur die SPD (mit Gabriel als Imitator des späten Elvis), auch Unterfranken leistet sich einen Popmusikbeauftragten. Dieser lobte im Jahr 2003 einen Wettbewerb zum Thema „Heimat“ aus: DIVERSE: projekt heimat (www.mainpop.de, 16 Tracks, 54:27, mit Texten). Die Gruppe Styckwærk sonnt sich auf einem Riff, das zum Beatles-Erdteil gehört und aus „You Won’t See Me” entlehnt ist; das Duo mit dem wunderlichen Namen Mistas meets Baxter (geknickte mit) rappt eine vergnügt-einfallsreiche „Stadtrundfahrt”; minimalistisch wie einst Heller charmiert Hubert Treml zum elektronisch verzerrten Keyboard des Rudi Kraus; das letzte Wort von Manou lautet: „Heimat ist dort, wo mein Nutella steht”. - Noch experimentierfreudiger erkundet DIRK BOJER: Um Land ... (Vinylsound DB 013, 10 Tracks, 21:59) sein Umland; er geht Wagnisse ein, aber auch gewaltig auf den Zeiger. Als uckermärkischer Schamane raunt er seltsam-sinnfrei und schallplattenknacks-repetierend von der „friedlichen Öffnung der Grenzanlagen” und „jahrelanger Trennung”: mehr melodiöses Gesprech als Gesang und ein Geklimper, das Titeln wie „Ziellos” und „Hundehaufen” vollauf gerecht wird. - Das Lob zum Schluss gilt einem Großprojekt der GRENZGÄNGER & FRANK BAIER: 1920. Lieder der Märzrevolution (Müller-Lüdenscheidt-Verlag/Indigo, 21 Tracks, 75:03, mit Infos und Texten). Wie bei ihren Auswandererliedern loten Michael Zachcial und Jörg Fröse die Tiefen der Historie aus, Stimme und Produzentenohr Baiers werten die CD professionell auf. Der Bericht von Ruhrkampf, Kapp-Putsch und Freikorps-Schlächtereien wird mit O-Tönen, Radiocollagen, Chören und exotischer Instrumentierung verfremdet und mit Freiligrath- und Liselotte-Rauner-Lyrik an Vorvergangenheit und Gegenwart angedockt. Flinker rappt „Zachze“ („1920”), reimstärker Baier („März-Rap 1920”), der verdutzt hinter dem rasanten Sons-of-Gastarbeita-Stakkato herhetzt. Die lehrreiche, fast 70 Seiten starke Dokumentation ist unterrichtstauglich.

 

MARIUS JUNG FEAT. TILL KERSTING - Schau einfach nicht hin

RINGSGWANDL - Alte Reißer. Verreckte Geschichten

MICHAEL KREBS - Vom Wunderkind zum Spätentwickler

IRMGARD KNEF - Die letzte Mohikanerin

ANNETTE KRUHL - FRAUEN sind auch nicht besser

KURT OSTBAHN - Höchste Zeit. Ein Abend im Gasthaus Quell

GEORG DANZER - Von Scheibbs bis Nebraska

DIETER HUTHMACHER - Guck

BORIS STEINBERG - Von Sommergold und Winterblau

RALPH SCHÜLLER & BAND - Grüße aus Bad News

RAINALD GREBE & DIE KAPELLE DER VERSÖHNUNG - ohne Titel

DIRK BOJER - Um Land ...

GRENZGÄNGER & FRANK BAIER - 1920. Lieder der Märzrevolution


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im Folker! 2/2006