„Da hängt man neun Monate im Studio herum”, klagte Diane Keaton kürzlich,
„bis eine CD geboren ist; jedes Lied wird hundertmal aufgenommen und dann
frickeln sie alles zusammen, nehmen diesen Ton von da und den von dort.” So
viel Mühe macht sich die hier versammelte Bardenzunft nicht; manche stellen,
wenn sie die Bühne betreten, einfach den Recorder an, wie z. B. MARIUS
JUNG FEAT. TILL KERSTING: Schau einfach nicht hin (tacheles!/ROOF RD
2633259, 20 Tracks, 47:22). Als Parodist, Entertainer und
Schlagerimitator ist der afrokölsche Jung brillant, sein Sangestalent nach
dem Potpourri aus Anspielpröbchen (wie „Qualtingers Jukebox“) schwer zu
beurteilen. Eine mit billigen Negerwitzen (und -definitionen aus
Biologiebüchern) angereicherte Nummer zieht die versammelte Betroffenheit
genüsslich durch den Kakao; bessere Lacherfolge erzielen die ausgegrabenen
Sixties-Übersetzungen bekannter Popsongs. - Vielleicht widmet sich Jung
einmal der stets kuriosen Erfolgskombination „Neger und Bayern”? Sie fehlte
nicht mal bei RINGSGWANDL: Alte Reißer. Verreckte Geschichten
(Lawine Sony/BMG 82876 69923 2, 25 Tracks, 64:21), dessen neue CD
allerdings fast nur Ansagen und Zwischengags bringt. „Lernt Bayerisch mit
dem Orthopäden“, das mag noch angehen; eine Aneinanderreihung lederner Witze
über die Genealogie von Doppelnam-Bindestrich-Frauen („Hummelbrunnerova”)
nervt. Was beim Feinschnitt an Liedern drinblieb, darunter zwei Schlager,
ist kaum der Rede wert. - Wenn schon Conférence, dann her mit MICHAEL
KREBS: Vom Wunderkind zum Spätentwickler (Conträr 6348-2, 16 Tracks,
50:16). Zu schwäbischen Menüfolgen und Sauigeleien von Heinz seinem
„Ding” spielt er Klavier wie sein Vorbild Clayderman, wobei er live und vor
Ort Zuschauerin Christina anbaggert (zum Publikum gewandt: „Könnt ihr euch
so lange irgendwie in Gruppen beschäftigen?”). - Kaum intoniert Krebs als
Mann die Roten Rosen der Wilden Hilde, schon suchen andere gleich
Familienanschluss, nämlich IRMGARD KNEF: Die letzte Mohikanerin.
Jazz-Chanson-Kabarett von und mit Ulrich Michael Heissig (Con Anima Ca
26555, 22 Tracks, 78:10). Die Rolle der verkannten Schwester der
Filmdiva hat sich Heissig, nicht ohne juristischen Beistand, verblüffend
echt anverwandelt; er gibt auch sehr glaubwürdig „Annika Rökk”, „Clara
Leander” u. a. m., einschließlich reifer Chansons wie „Mein 80. Geburtstag”
- und das mit jugendlichem Schwung! - Ihrer Jahrgangsstufe treu blieb
ANNETTE KRUHL: FRAUEN sind auch nicht besser (www.annettekruhl.de,
26 Tracks, 74:21, mit 4 Texten). Sie setzt mit guttrainiertem Timbre auf
komplexe Melodien und kann bestimmt am schnellsten von allen einen Satz mit
„erotische Spannungen zwischen uns” sprechen. Allerdings wird sie permanent
von ihrer Therapeutin unterbrochen und lässt Publikumsdialoge nicht weg, nur
weil sie live misslungen sind („Männergärten“). - In seinem Stammlokal,
vielleicht um den Deckel abzuarbeiten, rockt KURT OSTBAHN: Höchste
Zeit. Ein Abend im Gasthaus Quell (Universal/amadeo 9875543, 13 Tracks,
63:48, mit Texten). Routiniert-erdigen Austriakenblues spüin ist immer
noch besser als Geschirr; der Tontechniker wird allerdings hochgermanisch
herumkommandiert. - Bleiben wir in Österreich und wechseln in
schallgedämpfte vier Wände zu GEORG DANZER: Von Scheibbs bis
Nebraska (Universal 987348 5, 13 Tracks, 53:46, mit Texten). Der
alternde Macho gefällt sich in Stahlhelmpose („Blumen in der Hand - Kosovo,
Mai 2005”) und wäre wohl selbst, wie sein Scheibbser Wachtmeister, gern als
US-Cop unterwegs, um Verkehrssünder aufzuschreiben. Sein Feierabend ist ihm
auch als Bühnenarbeiter heilig („I geh ham”); die nicht zu verscheuchende
Melancholie durchtränkt selbst flottere Songs wie „Dann gehts ma guad”. -
Nicht nur Danzer („Piercing in Gmunden”) erregt sich über Durchstechereien
der unbegreiflichen Jugendmode, auch DIETER HUTHMACHER: Guck
(merkton/rough trade MER 890 340, 12 Tracks, 43:10) in seinem
Zweitfrühlingslied aufs „Klärle”, die den verliebten Gruftie am imaginären
Nasenring führt. Seine beschaulich-erbaulichen Schwabenschwänke sind gewiss
nicht leicht zu artikulieren, zumal im hübschen „Wenn i wellt” sämtliche
Hilfsverben im Potentialis durchkonjugiert werden. - Ist ein Textdichter
namens BORIS STEINBERG: Von Sommergold und Winterblau
(duophon/Zapp records 03 40 3, 10 Tracks, 43:27), der „den
Rückwärtsgang” im „Grauton deines Lebens” suchen lässt und bei dem „die
Nacktheit des Moments alles einsam” macht, noch ganz dicht? Oder plagt ein
„Riss, der sich durch meinen Körper schleicht”, auch sein Hirn? Die
Gleichnisse sind mitnichten „Lichtpunkte im ewigen Schein”, vielmehr trübe
Funzeln im ästhetischen Nebel, durch welchen Doc Flo als Arrangeur den
schlingerigen Gesang mühsam um schiefe Klippen zu steuern sucht. -
Mit schön gestrichenem Kontrabass, Schlagzeug, Akkordeon und reichlich
Gundermannschem Pathos gewappnet, klampft sich RALPH SCHÜLLER &
BAND: Grüße aus Bad News (Löwenzahn/R. U. M. Records LZ 20053, 15
Tracks, 63:50, mit Texten) durch den Alltag. Auch er metaphorisiert im
beleidigten Tonfall des verkannten Junggenies, das man eine ganze Stunde und
mehr nicht aushalten mag. - Eine „unnachahmliche Bühnen-Performance”, die
RAINALD GREBE & DIE KAPELLE DER VERSÖHNUNG: ohne Titel (WortArt
780 84, 13 Tracks, 61:11) zum „Uruhrenkel [!] des Dadaismus”
(Waschzettel) befördern könnte, ist auf der CD nicht nachzuvollziehen. Der
abgeklärte Humor von schalster Frankfurter Schule mit einem Schuss Lassahn
reicht hin, die Ödnis von Bielefeld bis Brandenburg zu verulken und
prominente Medienfifis ins Waderl zu beißen. Am Ende ein überlanges
pubertäres EkelfEtenlied. - Küsst ihn die Aphrodite, tanzen seine Phantasien
im Abendrot („geil”), so singt RUDI TREIBER: treibsand
(eliza musik em 200505, 14 Tracks, 55:37, mit Texten) zu stumpfem
Heavy-Metal-Gehämmer, mal hochdeutsch, mal austriakisch mit englischen
Knubbeln („Alpenseeligkeit”), zum Großteil aber Plattitüden („irgendwie ist
da immer ein Weg”). - Nicht nur die SPD (mit Gabriel als Imitator des späten
Elvis), auch Unterfranken leistet sich einen Popmusikbeauftragten. Dieser
lobte im Jahr 2003 einen Wettbewerb zum Thema „Heimat“ aus: DIVERSE:
projekt heimat (www.mainpop.de, 16 Tracks, 54:27, mit Texten). Die
Gruppe Styckwærk sonnt sich auf einem Riff, das zum Beatles-Erdteil gehört
und aus „You Won’t See Me” entlehnt ist; das Duo mit dem wunderlichen Namen
Mistas meets Baxter (geknickte mit) rappt eine vergnügt-einfallsreiche
„Stadtrundfahrt”; minimalistisch wie einst Heller charmiert Hubert Treml zum
elektronisch verzerrten Keyboard des Rudi Kraus; das letzte Wort von Manou
lautet: „Heimat ist dort, wo mein Nutella steht”. - Noch
experimentierfreudiger erkundet DIRK BOJER: Um Land ... (Vinylsound
DB 013, 10 Tracks, 21:59) sein Umland; er geht Wagnisse ein, aber auch
gewaltig auf den Zeiger. Als uckermärkischer Schamane raunt er
seltsam-sinnfrei und schallplattenknacks-repetierend von der „friedlichen
Öffnung der Grenzanlagen” und „jahrelanger Trennung”: mehr melodiöses
Gesprech als Gesang und ein Geklimper, das Titeln wie „Ziellos” und
„Hundehaufen” vollauf gerecht wird. - Das Lob zum Schluss gilt einem
Großprojekt der GRENZGÄNGER & FRANK BAIER: 1920. Lieder der
Märzrevolution (Müller-Lüdenscheidt-Verlag/Indigo, 21 Tracks, 75:03, mit
Infos und Texten). Wie bei ihren Auswandererliedern loten Michael
Zachcial und Jörg Fröse die Tiefen der Historie aus, Stimme und
Produzentenohr Baiers werten die CD professionell auf. Der Bericht von
Ruhrkampf, Kapp-Putsch und Freikorps-Schlächtereien wird mit O-Tönen,
Radiocollagen, Chören und exotischer Instrumentierung verfremdet und mit
Freiligrath- und Liselotte-Rauner-Lyrik an Vorvergangenheit und Gegenwart
angedockt. Flinker rappt „Zachze“ („1920”), reimstärker Baier („März-Rap
1920”), der verdutzt hinter dem rasanten Sons-of-Gastarbeita-Stakkato
herhetzt. Die lehrreiche, fast 70 Seiten starke Dokumentation ist
unterrichtstauglich.
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