back Ferner liefen...

Harbin - ein merkwürdiger Name. Hieß eine Schauspielerin so? Gab’s nicht in den 40ern diesen Hollywoodstreifen mit Jean Harbin und Paulette Goddard, die sich um Cary Grant balgen? Demzufolge wäre Jean die klassisch-hochgewachsene Blondine gewesen, langhaarig und mit Kirschkussmund. Nach Marilyn und Rita Hayworth war sie die drittbeliebteste Pin-up-Figur auf LKW-Kotflügeln und GI-Spindtüren. Aber der Schein trügt. Hier geht es um Ortsnamen. Die Bewohner der nordchinesischen Neunmillionenstadt Harbin, denen nach einer Chemieexplosion der Wasserhahn zugedreht wurde, hätten sich gewiss auch lieber nach Vittel, Evian oder Contrexéville, nach Selters oder Gerolstein abgesetzt. Aber wo finden sie die Römerquelle, das Apollinarium oder den Pur-Born?

In den 80er Jahren gab die Wienerwald-Kette eine Straßenkarte von Großdeutschland (= inkl. Österreich und Schweiz) heraus. Die mit Hendlbratereien versorgten Gemeinden waren durch ein gelbgrünes Running-Chicken-Logo markiert. Äußerst praktisch für Musiker, die in Tourneenächten nach 23.00 Uhr noch eine warme Mahlzeit suchen! Autoraststättenprospekte, die an der Bundesautobahn zu haben sind, erfüllen den gleichen Zweck. In den USA wurde gar eine Stadt in „Dish“ umbenannt; ihre Einwohner kriegen im Gegenzug vom gleichnamigen Satellitenschüsselfabrikanten zehn Jahre lang Gratis-TV-Programme aufgedisht. Man sollte allmählich einen Marken-Michelin mit Urlaubstipps fürs Sightseeing zusammenstellen. Für alle, die schon überall waren - zumindest mit dem Finger auf der Landkarte -, die den Tapetenwechsel vorwegnehmen und in Reisekatalogen nach Frühbucherrabatten stöbern.

Vor zwei Jahren hatten wir nämlich im Barrique noch dieses provençalische, inmitten sonnenverwöhnter Weinberge zwischen Peugeot und Chantré gelegene Bauernhaus gemietet. Den Sommer davor kreuzten wir im Greenpeace-Einhandsegler vor den sturmgepeitschten Klippen der britischen Kanalinseln Jersey, Nylon und Trevira und beobachteten mit dem Nachtglas, wie die Surimi-Fischer, die Nachfahren der insularen Strumpfklöpplerinnen, die Laichgründe der Stäbchenfische leerplündern. Diesmal geht es auf Safari durch den Zimbo-Nationalpark im afrikanischen Zwergstaat Zewa, im Schatten des majestätischen Mount Tchibo. Das stellt Tierfreunde und Wildbretgourmets gleichermaßen zufrieden ...

Natürlich weiß jeder Cineast, zu welchem US-Bundesstaat Marlboro Country gehört. Der radioaktive Wüstenstaub ließ einen John Wayne kurz nach den Dreharbeiten aus den Pantinen kippen. Punica, die tunesische Oase, seit vorbiblischer Zeit Treffpunkt großer Handelskarawanen, wo Cäsar beim Rendezvous mit Kleopatra den ersten Korb erhielt, sollte man noch aus der Geschichtsstunde oder spätestens aus Asterix kennen. Hingegen sind die uralten Olivenhaine von Mazola, wo der Dichter Petrarca seiner angebeteten Laura erstmals ansichtig wurde, touristisch kaum erschlossen. Die Fiesta von Valensina im Ciudad Erasco, bei der Stiere noch eine reelle Überlebenschance haben, ist der Geheimtip für den iberischen Osterurlaub.

Doch warum in die Ferne schweifen? Zu den schönsten, kaum bekannten Alpenpanoramen gehört das Toblerone-Massiv. Die eindrucksvollen Calgonitfelsen sind vom Fernet Branca aus besonders gut zu sehen. Wer die Bergsteigerei scheut, kommt auch im Flachland auf seine Kosten: Ein landschaftlich reizvoller Ausflug ist die Kreuzfahrt im malerischen Würztal zum Kloster St. Ubena, auf der Höhe von Beiersdorf, wo der Asbach in die Würz mündet, natürlich weitab von Würzburg mit seinen Abwässerkanälen. In Norddeutschland wird übrigens im Sommer 2006 der Archäologiepark von Havesta eröffnet; die Überreste jener versunkenen steinzeitlichen Handelsmetropole werden erstmals dem Publikum zugänglich. An der Mecklenburgischen Seenplatte lockt Bahlsen mit seinem eindrucksvollen Backsteintor.

Und warum verewigen wir Marken und nicht, wie die Russen (Gorki!), berühmte Schriftsteller mit Städtenamen? Weil Schriftsteller nicht nach Fernweh klingen. Wieland, Fontane und Eichendorff, das tät noch was hermachen. Nach Alexander von Humboldt heißt in Köln ein ganzes Arbeiterviertel (der Fabrikant war Humboldt-Fan). Aber die neueren? Grass, Böll, Wellershoff und Heißenbüttel könnten doch allenfalls Käffer im Ruhrgebiet heißen. Schon die Titanic wollte „Böllsch“ brauen, ein Bier, das betroffen statt besoffen macht. Bei Ralf Rothmann bin ich mir nicht sicher, ob er sich nicht eh’ das Pseudonym eines Tabakkonzernsponsors zugelegt hat. Künstlernamen bergen mehr Verhängnis als Verheißung, seit Picassos Erben einem Autokonzern selbst die harmlose, aber ähnlich klingende Marke „Picaro“ gerichtlich untersagen. Vielleicht lässt sich die abgehalfterte Politprominenz darauf ein: Schily und Künast sind mit Baden-Württemberg kompatibel, Merz und Stolpe passen ins Oberbergische, Bütikofer verlegen wir nach Westfalen, Biedenkopf gibt es längst. Verkehrsdurchsagen der Zukunft lauten z. B.: „Staus und zähfließender Verkehr in Müntefering und Umgebung ...“

Nikolaus Gatter
go! www.lesefrucht.de


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Die Kolumne
im Folker! 1/2006