Lehrstück in Sachen Ethnozentrismus

Das Kronos Quartet

Die Genrebrecher aus den USA auf dem Weg nach Bollywood

www.kronosquartet.org

(Auswahl) Pieces Of Africa (Elektra/Nonesuch, 1992) Released 1985-1995 (Nonesuch, 1995) Early Music (Nonesuch, 1997) Kronos Caravan (Nonesuch, 2000) Nuevo (Nonesuch, 2002) You've Stolen My Heart (Nonesuch, 2005)

Mit lustvoller Radikalität wendet sich das Kronos Quartet immer neuen Musiken zu. Die Schwindel erregende Fahrt reicht von alter Musik über Jimi Hendrix und Alfred Schnittke bis zu zeitgenössischen afrikanischen Komponisten. Immer wieder gelingt den vier Kaliforniern eine Überraschung. Völlig losgelöst von jeder Orientierung an musikalischen Genres erweitert das Kronos Quartet die Möglichkeiten eines Streichquartetts. Dabei streifen sie auch immer wieder lokale Klänge, wenn sie mit den Taraf de Haïdouks, mit Dave Matthews und Rokia Traoré zusammenarbeiten oder mit der aserbaidschanischen Pianistin Franghiz Ali-Zadeh. Nun begeben sie sich in die vermeintlichen Niederungen der indischen Filmmusik - und in die vorderen Ränge der World Music Charts Europe.

Von Birger Gesthuisen

Mit seiner ständig sprudelnden Kreativität entwickelte das Kronos Quartet eine Eigendynamik, bei dem selbst das Instrument des ersten Geigers David Harrington nur noch Mittel zum Zweck wird: „Die Geige ermöglicht es mir, in dieser Gruppe zu spielen. Ansonsten würde ich überhaupt keine Geige spielen. Ich würde eine Menge anderer Dinge in meinem Leben tun, anstatt mich mit so einem schwierigen Instrument zu beschäftigen.“

Damit führt er die Geige auf ihre eigentliche Bedeutung zurück: als ein Werkzeug zur Verwirklichung von Musik, als Mittel zum Zweck einer andauernden musikalischen Entdeckungsreise, die sein Leben prägt. „Ich bin ein Sammler musikalischer Erfahrungen, und wenn mich etwas anspricht, dann möchte ich es mit anderen Menschen teilen. Das Prinzip ist also eigentlich ganz einfach. In der Praxis bedeutet es, dass ich sehr viel Musik höre - wie ein forschender Wissenschaftler. Ich bin heute Morgen um vier Uhr aufgestanden und hörte Musik aus Ägypten und Kamerun, Musik von Alfred Schnittke und Franz Schubert.“

Grenzenlose Musikmigranten

Das Kronos Quartet spielt in der Regel instrumental, aber ihr Repertoire vermittelt auch ohne Worte das Bild eines anderen Amerika. Schon die Gründung des Ensembles im Jahre 1973 wurde von „Black Angels“ inspiriert, einem Stück von George Crumb über den Vietnamkrieg. Ihr musikalischer Kosmos ist offen, grenzenlos. Mittlerweile ist die Hoffnung auf eine Weltveränderung mit rein musikalischen Mitteln einer realistischeren Einschätzung gewichen: „Ich wünschte, unsere Musik könnte die Welt verändern, dass sie uns alle kugelsicher machen würde gegenüber einer verfehlten Außenpolitik. Das tut sie leider nicht. Aber zumindest eines kann ich sicher sagen: Wenn ich die Musik von R. D. Burman höre, dann geht es mir jedes Mal besser. Ich möchte sie gerne mit anderen teilen.“

Die Auswahl der neuen Produktion ist nicht ungeschickt in Zeiten, in denen Amerika um seine internationale Vormachtstellung kämpft. Zugleich führt sie uns eine erstaunliche Ignoranz vor, und somit wird dieses Projekt durch die Hintertüre ein Lehrstück in Sachen Ethnozentrismus. Noch immer gilt etwa Hollywood als Leitbild für Zelluloid-Traumfabriken schlechthin, und plötzlich fällt der Scheinwerfer auf ein Land, das jährlich alleine mehr als vier Mal so viele Filme herstellt wie die amerikanische Filmschmiede. Unverzichtbar für Bollywood sind die Filmmusiken - vor allem für die zentralen Tanzszenen. Viele Soundtracks werden zu Kassenschlagern, von denen westliche Konzerne nur träumen können und die bei uns lange Zeit kaum registriert wurden.

„Kino ist wie eine Gottheit - es ist die einzige Unterhaltung, die die Menschen kennen“, sagte Asha Bhosle gegenüber der Zeitung taz. Asha Bhosle? Wer kennt bei uns Asha Bhosle? Kein(e) Künstler(in) hat so viele Lieder eingespielt wie sie: etwa 16 000. Ihre Tonträgerverkäufe werden von mehreren hundert Millionen auf bis zu einer Milliarde geschätzt, was nur mit den Beatles zu vergleichen wäre. Das Album You’ve Stolen My Heart ist eine Reaktion auf dieses unglaubliche Missverhältnis zwischen Bhosles Popularität und ihrer Aufnahme im Westen. „Die meisten Menschen auf der Welt kennen Asha Bhosles Stimme und die Filmmusiken von R. D. Burman nicht.“ David Harrington will zumindest seinem Publikum den (Dritte-)Welt-Gesangsstar und den Komponisten von mehr als 300 Filmmusiken nahe bringen.